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Veranstaltungen 1987-2023
1987
20
Tagesfahrt nach Bad Lauchstädt, Goethe-Theater, Inszenierung
Die Zauberflöte
Prof. Dr. h.c. Karl-Heinz Hahn:
Thomas Mann und die Goethe-Gesellschaft
Prof. Dr. Norbert Miller:
Anmerkungen zur Münchener Ausgabe
1988
21
Prof. Dr. Hans Wolfgang von Löhneysen:
Die Goethe-Büste von David d´Angers
Beate Schubert:
Goethe am Vorabend der Französischen Revolution
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings:
Die Initiation »Wilhelms Meisters«
Hans Joachim Mey:
Der Briefwechsel Marianne von Willemer und Hermann Grimm
1989
24
Prof. Hans-Dieter Holzhausen:
Der Literaturkritiker und Goetheforscher Ludwig Geiger
Joachim Pukaß und Christian Rhode: Lesung
Goethes »Reinicke Fuchs«
Prof. Dr. Hans Wolfgang von Löhneysen: Seminar
Der Sammler und die Seinigen
Goethes 240. Geburtstag in Schuberts Garten – mit musikalischen Darbietungen
Prof. Dr. Paul Raabe:
Goethes verstreute Briefe
1990
25
Tagesexkursion nach Wörlitz,
Führung durch die Gartenanlagen
Goethes 241.Geburtstag in Schuberts Garten – mit musikalischen Darbietungen
Tagesfahrt nach Weimar,
Anna Amalia und ihr Musenhof,
Exkursion nach Bischofsgrün:
Auf den Spuren Goethes zum Ochsenkopf,
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings:
Zeitkritik in Goethes »Wahlverwandtschaften«
Szenische Lesung
Goethes »Wahlverwandtschaften«
1991
26
Frank-Volker Merkel-Bertholdi:
Leopardis »Consalvo« und Goethes »Werther«
Gesprächsabend über
Alfred Kirchners Inszenierung von Goethes »Faust I«
Theater: Peter Hacks:
Gespräch im Hause v. Stein ü. d. abwesenden Herrn von Goethe
Dr. Rudolf Elvers:
Die Mendelssohns und Goethe
Filmvorführung:
Carl August von Weimar – Goethes Freund
, Regie: Beate Schubert
Tagesfahrt nach Weimar
Goethes 242.Geburtstag in Schuberts Garten – mit musikalischer Umrahmung
Tagesfahrt nach Bad Lauchstädt, Besuch der Inszenierung von Goethes »
Urfaust«
Tagesfahrt nach Neu-Hardenberg, Führung durch Schloß und Parkanlagen
Prof. Dr. Kurt Biermann:
Alexander von Humboldt als Weggefährte Goethes
1992
30
Dr. Birgit Weissenborn:
Bettina von Arnim und Goethe,
Szenische Lesung »
Die Wahlverwandtschaften«
Ulrich von Heintz:
Führung durch das Schloß Tegel
Goethes 243. Geburtstag in Schuberts Garten – Musikalisch literarischer Abend
Dr. Frank Schweitzer ;
Goethes »Farbenlehre«
1993
32
Prof. Dr. Heide Eilert:
Goethe und die Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts
Prof. Dr. Martin Seiler:
Exkursion über die Pfaueninsel
Goethes 244.Geburtstag in Schuberts Garten – Musikalisch-literarischer Abend
Filmvorführung:
Charlotte von Stein,
Regie: Beate Schubert
Prof. Dr. Siegfried Unseld:
Goethe, der Schriftsteller – vom Verleger gesehen
Prof. Dr. Otto Krätz:
Goethe und die Naturwissenschaften
, Vortrag mit Experimenten
1994
38
Prof. Dr. Alfred Behrmann:
Italien, wir und die klassischen Reisen der Goethezeit
Dr. Ilse Jahn:
Alexander von Humboldt und Goethe
Exkursion ins Fichtelgebirge:
Mit dem Geologenhammer auf Goethes Spuren
Goethes 245. Geburtstag in Schuberts Garten – Musikalisch-literarischer Abend
Gottfried Eberle:
Goethe und die Musik
, mit gesungenen und gespielten Beispielen
Dr. Joachim Burkhardt: Buch- und Videovorführung:
Ein Film für Goethe
Dr. Manfred Obermann:
Der Einfluß der Freimaurerei auf Goethes Leben und Werk
Prof. Dr. Wolfgang von Löhneysen: »
West-östlicher Divan«: Buch der Betrachtungen
Dr. Werner Hennig:
Einführung in Goethetexte: »Das Märchen» – »Novelle«
1995
42
Dr. Werner Hennig:
Goethe Einkommen und Vermögen
Prof. Dr. Hans-Dieter Holzhausen:
Goethes Gespräche mit Eckermann
Dr. Gerhard Schewe:
Zum Goethebild Romain Rollands
Prof. Dr. Frank Nager:
Gesundheit, Krankheit und Tod bei Goethe
Film-Uraufführung
Goethe und sein Haus am Frauenplan
, Regie Beate Schubert
Goethes 246.Geburtstag in Frau Schuberts Garten – Musikalisch-literarischer Abend
Prof. Dr. Effi Biedrzynski:
Goethes Weimar
Dr. Ernst Schneider:
Goethe midlife-crisis in Italien
Reinhold Köpke:
Goethe – ein Vorläufer der Tiefenpsychologie
1996
48
Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff:
Goethe und der Orient
Dr. Dagmar von Gersdorff: Lesung
Königin Luise und Friedrich Wilhelm III.
Prof. Dr. Alfred Behrmann:
Goethes Reise nach Sizilien
Goethes 247.Geburtstag in Schuberts Garten – Konzert
Tagesfahrt nach Naumburg: Stadtbesichtigung und Führung durch den Dom
Tagesfahrt nach Dornburg: Besichtigung des Renaissance- und des Rokokoschlosses
Dr. Renate Grummach:
Goethe im Gespräch – aus der Arbeit eines Editors
Peter Stein:
Über die Möglichkeiten, den Gesamtfaust zu inszenieren
316
1997
50
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings:
Schillers Kritik am Illuminatenorden und ihre Folgen
Beate Schubert:
Goethes Verhältnis zu Büchern
Dr. Jochen Klauß:
Charlotte von Stein – eine Weimarer Legende
Goethes 248. Geburtstag: Wannsee-Dampferfahrt z. 10-jährigen Bestehens der GG-Bln.
Dr. Dagmar von Gersdorff: Lesung
Bettina und Achim von Arnim
Prof. Dr. Volker Hesse:
Goethes Konstitution und Krankheiten
1998
51
Tagesexkursion: Besuch der Inszenierung
Faust I,
Anhaltinisches Theater Dessau
Prof. Dr. Otto Krätz:
Alexander v. Humboldt – Wissenschaftler, Weltbürger, Revolutionär
Tagesexkursion nach Leipzig:
Klein Paris und der junge Goethe
Tagesexkursion: Anhaltinisches Theater Dessau, Besuch der Inszenierung »Faust II«
Goethes 249.Geburtstag in Schuberts Garten – musikalisch-literarischer Abend
Prof. Martin Seiler (SPSG): Führung durch die Potsdamer Gärten
Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff:
Deutschlands dienstältester Minister
1999 Goethe und seine Berliner Beziehungen
52
Maria Erxleben:
Goethes Verhältnis zu Berlin
Dr. Gudrun Fritsch: Führung durch das Käthe-Kollwitz-Museum, anschließend:
Dr. Wolfgang Butzlaff:
Käthe Kollwitz und Goethe
Hans-Hellmut Allers:
Goethe und das Berliner Theater
Prof. Dr. Ernst Osterkamp:
Goethe und Wilhelm von Humboldt
Dr. Helmut Börsch-Suphan:
Goethes Dichtungen als Inspirationsquelle Berl. Künstler
Dr. Hartmut Schmidt:
Goethe, Nicolai und die Berliner vor 225 Jahren
Tilmann Buddensieg:
Schinkel, Rauch und Goethe
Prof. Dr. Frank Schneider:
Goethe und Reichhardt
Gottfried Eberle:
Goethe Interesse an Zelters Singakademie
Prof. Dr. Norbert Miller:
Goethe im Hause Mendelssohn
Prof. Dr. Hartmut Böhme, Jan-Lüder Röhrs, Prof. Dr. Ferdinand Dammerschun:
Alexander von Humboldt
, Podiumsdiskussion
2000 Gesundheit und Krankheit bei Goethe
68
Prof. Dr. Volker Hesse:
Gesundheit und Krankheit bei Goethe
Dr. Hubert Heilemann:
Goethe als Patient
Prof. Dr. Manfred Heuser:
Die Newton Kritik – eine paranoide Psychose Goethes?
Prof. Dr. Wolfgang Schad:
Goethe als Psychiater
Goethes 251. Geburtstag in Schuberts Garten – Muskalisch-literarisches Programm
Dr. Hartmut Schmidt:
Essen und Trinken bei Goethe
Prof. Dr. Manfred Bühring:
Goethe Anschauen in der Medizin
Prof. Dr. Heinz Schott:
Medizin der Goethezeit
Dr. Gunhild Pörksen:
Gesundheit und Krankheit in Goethes Tagebüchern und Briefen
2001 Goethe – Jugend und Alter
72
Prof. Dr. Henrik Birus:
Die Wiederbegegnung des alten mit dem jungen Goethe
Dr. Renate Grötzebach:
Zwei Leseabende zu Goethes »Werther«
Was geht uns heute Goethe an?
Diskussion mit Schülern über »Werthers« Leiden
Jahrestagung der deutschen Goethe-Gesellschaften e.V.
Ausstellung
Goethe – Berlin –Mai 1778
, Staatsbibliothek Berlin (Haus I)
Filmvorführung:
Die neuen Leiden des jungen W.
(1976),
Ulrich Plenzdorf:
Rückblick nach 30 Jahren,
Diskussion mit dem Autor
Joachim Wohlleben:
Goethes »Werther« im Kontext seiner Zeit
Goethes 252. Geburtstag in Schuberts Garten, Lesung:
Der Mann von 50 Jahren
Prof. Dr. Volker Hesse:
Goethes Beziehungen zu Kindern und Heranwachsenden
Hans-Wolfgang Kendzia:
Fünf Leseabende zu Goethes »Faust II«
Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff:
Gespräch über Peter Steins »Faust«-Inszenierung
Dr. Klaus-Michael Köppen:
Goethe als geriatrischer Patient
2002 Die Frauen um den jungen Goethe
80
Dr. Dagmar von Gersdorff: Autorenlesung
Goethes Mutter und Schwester
Dr. Josef Mattausch:
Goethes Jugendliebe Katharina Schönkopf
Dr. Wolfgang Butzlaff:
Goethes Verlobungen und Gelöbnisse
Monika Schopf-Beige:
Friedrike Brion und Lili Schönemann
Musikalisch-literarischer Abend –
Die Liedgedichte des jungen Goethe
Dr. Harald Schmidt:
Werthers Lotte – Wahrheit und Dichtung
Ottilie Lohss:
Charlotte von Stein – Goethes Freundin
Prof. Dr. Friedmar Apel:
Iphigenie in Weimar
Eckart Henscheid: Lesung
Frauen unter Goethe
Dr. Franziska Schöffler:
Frauengestalten in »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
2003 Die Frauen um den älteren Goethe
84
Siegfried Seifert:
Die Weimarer Primadonna Karoline Jagemann
Eckart Kleßmann:
Christiane Vulpius im Urteil der Zeitgenossen
Hans-Hellmut Allers:
Bettine von Arnim und ihre Beziehung zu Goethe
Prof. Dr. Theo Buck:
Mariannne von Willemer und Goethe
Cornelia Kühn-Leitz: Rezitationsabend
»Buch Suleika«
aus dem
»West-östlichen Divan«
Prof. Dr. Katharina Mommsen:
Die Dichterin Marianne von Willemer
Dr. Heike Spies:
Die Frauengestalten in »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
Prof. Dr. Detlev Jena:
Goethes Verhältnis zur Großfürstin Maria Pawlowna
Filmvorführung:
Die Wahlverwandtschaften
mit anschließender Diskussion
Hans-Wolfgang Kendzia:
Goethes Einstellung zur Ehe
Dr. Klaus-Michael Koeppen: Ulrike von Levetzow
Monika Schopf-Beige:
Ottilie von Goethe
2004 Goethe und die Künste
88
Prof. Dr. Werner Busch:
Goethe und die Künste
Hans-Hellmut Allers:
Der Dramatiker und Theaterleiter Goethe
317
Prof. Dr. Katharina Mommsen:
Die Malerin Angelica Kauffmann
Dr. Michael Engelhard:
Goethe und Palladio
Gottfried Eberle:
Goethe und die Musik
Prof. Dr. Ernst Osterkamp:
Goethe als Leser Johann Joachim Winckelmanns
Dr. Jochen Klauss:
Johann Heinrich Meyer, Goethes Künstlerfreund
Hans-Wolfgang Kendzia:
Goethes Portraitisten und sein Verhältnis zu ihnen
Dr. Helmut Börsch-Suphan:
Goethe und Schinkel
Prof. Dr. Norbert Miller:
Der Dichter, ein Landschaftsmaler
Dr. Manfred Koltes:
Das Verhältnis der Gebr. Boisserée im Spiegel ihrer Korrespondenz
2005 Das Goethe-Schiller-Jahrzehnt
98
Hans-Hellmut Allers:
Goethe und Schiller – Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft
Monika Schopf-Beige:
»Das Märchen« – Eine Botschaft Goethes an Schiller
Rainer Schmitz:
Weimarer »Xenien« – Anmerkungen zur lit. Streitkultur um 1800
Prof. Dr. Rolf-Peter Janz:
Schillers und Goethes Annäherung an das antike Theater
Prof. Dr. Katharina Mommsen:
Goethes Anteil an Schillers »Wilhelm Tell«
Dr. Angelika Reimann:
Goethe und Schillers und ihr Balladenschaffen
Prof. Dr. Volker Hesse:
Goethe und die Medizin
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings:
Die Weimarer Klassik und das Böse
Hans-Wolfgang Kendzia:
Anmerkungen zum Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller
Ulrich Ritter und Christian Steyer: Lesung:
Goethe und Schiller – eine Begegnung
2006 200 Jahre Goethes »Faust«
106
Hans-Helmut Allers:
Dr. Faustus in Historie und Literatur
Prof. Dr. Frank Möbus:
Zur Entstehungsgeschichte von Goethes »Faust«
Dr. Alwin Binder:
Visionen moderner Welt in Goethes »Faust I« vor und nach 1800
PD Dr. Michael Jaeger:
Mephistos Modernität
Dr. Manfred Osten:
Zur Aktualität der »Faust«-Tragödie
Event Theaters Brandenburg in der Ruine des St.-Pauli-Klosters
»Faust I«
Prof. Dr. Volker Hesse:
Dr. Faustus und Dr.med Johann Wolfgang Goethe
Dr. Angelika Reimann:
Goethes Gretchentragödie u. d. Kindsmord im 18. Jahrhundert
Prof. Dr. Theo Buck: »
Faust II«, 5. Akt – Fausts Tod, ein tragisches Ende?
Prof. Dr. Alfred Behrmann:
Die Dramaturgie der »Faust«-Dichtung
2007 Zwischen Musenhof und Ministeramt
110
Hans-Hellmut Allers:
Goethe 1775-1786 – Das erste Weimarer Jahrzehnt
Dr. Jochen Golz:
Ein Portrait der Herzogin Anna-Amalia
Dr. Thomas Franzke:
Goethe und das Weimarer Liebhabertheater
Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma:
Wieland in Oßmannstedt bei Weimar
Dr. Manfred Osten:
Goethe als Leiter der Kriegskommission
Dr. Angelika Reimann:
Goethes amtliche Tätigkeit vor und nach der italienischen Reise
Prof. Dr. Theo Buck:
Goethe – ein politischer Schriftsteller?
Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff:
Politische Dimensionen der Weimarer Theaterarbeit
Prof. Dr. Katharina Mommsen:
Goethes berufliche Auseinandersetzung mit Friedrich II
.
2008 Goethes lebenslange Suche
116
Hans-Hellmut Allers:
Goethes lebenslange Suche
Ursula Homann:
Goethes Glaube und Gottesvorstellung
Dr. Manfred Osten:
Goethe u. d. Verheißungen der Lebenswissenschaften im 21. Jhdt.
Prof. Dr. Ludolf von Mackensen:
Goethe und die Alchemie
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings: »
Faust« – die alte und die neue Schöpfung
Goethes 259. Geburtstag, Jürgen Thormann liest
Goethe: Meine Religion, mein Glaube
Prof. Dr. Volker Hesse:
Goethes Ergründung der Naturwissenschaften
Dr. Otto Krätz:
Chemische und physikalische Experimente bei Goethe
Beate Schubert:
Esoterik in Goethes Leben und Werk
Prof. Dr. Theo Buck:
Goethes Entelechie
2009 Goethes Freunde,Weggefährten und Lehrmeister
132
Hans-Hellmut Allers:
Goethes Freunde,Weggefährten und Lehrmeister
Beate Schubert:
Goethes Lehrmeister in Frankfurt und Leipzig
Dr. Michael Zaremba:
Johann Gottfried Herder – Goethes Mentor
Dr. Ulrike Leuschner:
Die schwierige Freundschaft zwischen Goethe und Merck
Dr. Egon Freitag:
Zum Verhältnis von Goethe und Wieland
Dr. Manfred Osten:
Zur Modernität des Goethe-Jacobi-Verhältnisses
Prof. Dr. K. Mommsen:
Goethes und Schillers Bündnis im Spiegel ihrer Dichtungen
Prof. Dr. Volker Hesse:
Goethe, die Jenenser u. weitere Lehrer d. Naturwissenschaften
Dr. Volker Ebersbach:
Goethes Freundschaft mit Carl August u. m. Carl Friedrich Zelter
Prof. Dr. Manfred Geier:
Goethe und die Gebrüder Humboldt
2010 Goethes Vorbilder
156
Dr. Bettina Fröhlich:
Goethes Platon-Rezeption
Prof. Dr. Günter Häntzschel:
Goethe zu Homer
Dr. Manfred Osten:
Zur Aktualität der Hafis-Rezeption bei Goethe
Prof. Dr. Hendrik Birus:
Goethes Shakespeare
Prof. Dr. Alfred Behrmann:
Dantes Spuren bei Goethe – ein Fährtengang
Dr. Michael Engelhard:
Der Sprachmeister Goethe als Erbe Luthers
Prof. Dr. Christoph Perels:
Goethes kritische Verehrung für Rousseau, den Erzieher
Prof. Dr. Theo Buck:
Goethes Verhältnis zu Moliere,Voltaire und Diderot
Dr. Manfred.Osten:
Goethes Spinoza-Begeisterung
Prof. Dr. Volker Riedel:
Goethes Blick auf die Jahrhundert-Gestalt Winckelmann
2011 Goethe lebt! – Zur Aktualität eines Autors im 21. Jahrhundert
160
Dr. Detlev Lüders:
Goethes Aktualität
(Einführung)
Prof. Dr. Dieter Borchmeyer:
Goethes Altersfuturismus
Dr. Manfred Osten:
Goethe als Manager unserer Krisen
Prof. Dr. Wulf Segebrecht:
Goethe in Gedichten der Gegenwart
Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff:
Die Entdeckung des politischen Goethe
Prof. Dr. Josef Mattausch:
Vom Leben der Goethe-Sprache
Hans-Hellmut Allers:
Goethes Haltung zu Liebe, Ehe und Familie
318
Dr. Elisabeth von Thadden:
Zur Aktualität von Goethes »Wahlverwandtschaften«
Prof. Dr. Volker Hesse:
Goethes naturwiss. Forschungen – ihre aktuelle Bedeutung
PD Dr. Michael Jaeger:
Fausts Weltkolonisation – Zur Aktualität Goethes
2012 Goethes Weltsicht und ihre Aktualität
168
Prof. Dr. Theo Buck:
Goethe heute
Dr. M. Osten u. Dr. Sahra Wagenknecht:
Über den Eigentumsbegriff bei Goethe
Dr. Bernhard Bueb:
Was die deutsche Schule von Goethe lernen sollte
Dr. Adolf Muschg:
Goethes Natur als Beziehungsfähigkeit
Prof. Dr. Uwe Hentschel:
Zur Modernität von Goethes »Werther«
Prof. Dr. Katharina Mommsen:
Goethe und die Weltkulturen
Prof. Dr. John-Dylan Haynes, Dr. Manfred Ostenund, Prof. Dr. Wolf Singer:
Podiumsgespräch
Naturwissenschaftliche Implikationen in Goethes Denken
Dr. Manfred Osten:
Zur Aktualität von Goethes Asienverständnisses
2013 Goethe zwischen Aufklärung Klassik u. Romantik
172
Hans-Hellmut Allers:
Goethe zwischen Aufklärung, Klassik und Romantik
Rainer Falk:
Der junge Goethe und die Berliner Aufklärung
Gösta Knothe (Regisseur):
Die zwei inkommensurablen Teile des Goethe’schen »Faust«
Prof. Dr. Uwe Hentschel:
Die lit. Fehde zwischen Goethe und den Berliner Aufklärern
Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher:
Der Konflikt zwischen Goethe und Kleist
Prof. Dr. Helmut Schanze:
Goethe und die Frühromantik
Prof. Dr. Christa Lichtenstern:
Goethe und die Skulptur
Theater Palais am Festungsgraben: »
Reinecke Fuchs«
zu Goethes 264.Geburtstag
Prof. Dr. Hartmut Fröschle:
Goethes Verhältnis zu der Dramatik der Romantiker
Prof. Dr. Conrad Wiedemann:
Goethes Mann in Berlin – Der Briefwechsel mit Zelter
Dr. M. Osten:
Die Romantik und Goethes Widerstand gegen deren Kunst u. Literatur
Prof. Dr. Theo Buck:
Goethes »Werther« im Urteil der europäischen Romantik
2014 Von Werken Goethes und ihrer Entstehung I
Dr. Manfred Osten:
Goethes Dichtung und was ist Wahrheit?
176
Robert Walter-Jochum, M.A.:
Goethes Sesenheim in »Dichtung und Wahrheit«
Prof. Dr. Gesa Dane:
Fakten und Fiktionen in Goethes »Die Leiden des jungen Werthers«
Prof. Dr. Peter André Alt:
Goethes »Torquato Tasso« als Drama der sozialen Form
Prof. Dr. Rüdiger Safranski, Dr. Manfred Osten:
Goethe – Kunstwerk des Überlebens
Prof. Dr. Uwe Hentschel:
Warum Goethe über Italien keinen Reisebericht verfaßte
Dr. Ariane Ludwig:
Entstehung und Komposition von »Wilhelm Meisters Wanderjahren«
Prof. Dr. Dirk v. Petersdorff:
Widersprüche in Goethes Leben u. Lyrik
Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken:
Aus der Arbeit an der historisch-kritischen
Hybrid-Edition von Goethes »Faust II«
2015 Von Werken Goethes und ihrer Entstehung II
180
Prof. Dr. Peter André Alt:
Das Vorspiel als Endspiel: Goethes »Faust«-Prolog
PD Dr. Michael Jaeger:
Goethe, der Wanderer und »Faust«
Prof. Dr. Daniel W. Wilson:
Schillers Zensur der »Römischen Elegien«
u. d. »Venezianischen Epigramme«
Prof. Dr. Jutta Müller-Tamm:
Zu Goethes autobiogr. Schriften und ihrer Entstehung
Prof. Dr. Uwe Hentschel:
Goethes Briefe aus der Schweiz
Goethes 266.Geburtstag, Duo Con emozione:
Goethe-Vertonungen
Dr. Elke Richter:
Goethes Briefe an Charlotte von Stein
Dr. Manfred Osten:
Alexander von Humboldt in Goethes »Wahlverwandtschaften«
Prof. Dr. Volker Hesse:
Goethes Verständnis des Lichtes
Prof. Dr. Steffen Martus:
Die Entstehung von Goethes Lebenswerk
2016 Weltbürger Goethe
184
Dr. habil. Jochen Golz:
Der Weltbürger Goethe
)
Prof. Dr. Christof Wingertszahn:
Goethe und England
Prof. Dr. Theo Buck:
Die intensive Beschäftigung Goethes mit Frankreich
Prof. Dr. Michael Maurer:
Kulturmuster Bildungsreise – Goethe in Italien u. d. Folgen
Prof. Dr. Uwe Hentschel:
Die böhmischen Bäder: Refugium u. intellektueller Marktplatz
Dr. Manfred Osten:
Goethe, ein fernöstlicher Weltbürger
Prof. Dr. Volker Hesse:
Goethes Interesse an Südamerika
Dr. Manfred Osten:
Zur Modernität von Goethes Islam-Verständnis
PD Dr. Michael Jaeger:
Goethes Flüchtlinge
Prof. Dr. Hendrik Birus:
Goethes Idee der Weltliteratur
2017 Die Liebe, Goethes Lebensthema
Dr. Manfred Osten:
Die Liebe – Goethes Glücksgeheimnis
Prof. Dr. Thorsten Valk:
Erotische Rollenspiele in der Lyrik des jungen Goethe
Prof. Dr. Uwe Hentschel:
Zur Natur- und Liebesdichtung im Sturm- und Drang
Detlef Schönewald:
Der Werther – ein Liebesversuch
August Dr. Heike Spies:
Verlobung und Hochzeit im Goethe-Umkreis
Beate Schubert:
Goethes Briefe und Zettelgen an Frau von Stein
Dr. Monika Estermann:
Die Wahlverwandtschaften - ein literarisches Experiment
Dr. Manfred Osten:
Die Liebe im westöstlichen Divan
Prof. Dirk von Petersdorff:
Die letzte Liebeserschütterung in der Marienbader Elegie
2018 Goethe - Vordenker und Wegbereiter
Prof. Dr. Uwe Hentschel:
Über die Aktualität von Goethes Werken
Dr. Manfred Osten:
Goethe, ein Vordenker der Migrationskrisen des 21. Jahrhunderts
Prof. Dr. Olaf L. Müller:
Goethe als Naturwissenschaftler – eine Rehabilitation!
Prof. Dr. Bertram Schefold:
Goethe und die moderne Wirtschaft
Prof. Dr. Uwe Hentschel:
Goethes Stadtflucht oder warum wir alle einen Kleingarten haben wollen
Podiumsdiskussion: Dr. Manfred Osten, Dr. Rüdiger Safranski:
Das Glück bei Goethe oder die Kunst des Überlebens
Podiumsdiskussion: Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Manfred Osten, Dr. Michael Jaeger:
Auf freiem Grund mit freiem Volker stehn – Alptraum oder Utopie
Prof. Theo Buck:
Goethe als Dramaturg des modernen Theaters
Dr. Bernhard Fischer:
Goethe und Cotta auf dem Weg zum modernen Urheberrecht
Dr. Michael Jaeger:
Feuermaschinen - Goethe und Marx
319
2019 Goethe - Der Zeichner, Kunstkenner und Sammler
Beate Schubert:
Goethes Verhältnis zu den bildenden Künsten
Dr. Manfred Osten:
Einführung in Goethes Schule der Achtsamkeit
Dr. Petra Maisak:
Der junge Goethe und die bildenden Künste
Prof. Dr Norbert Christian Wolf:
Goethe Kunstanschauung vom Sturm und Drang bis zur Rückkehr aus Italien
Festakt im Konzerthaus am Gendarmenmarkt:
100 Jahre Goethe-Gesellschaft Berlin e.V.
Prof. Dr. Johannes Grave:
Ideal und Geschichte - Spannungen in Goethes Kunstauffassung um 1800
Prof. Dr. Hermann Mildenberger:
Goethes Weg zur Landschaft
Prof. Dr. Thorsten Valk:
Spannungsvolle Nähe - Goethe und die Kunst der Romantik
Prof. Dr. Stefan Matuschek (Jena):
Goethe Antike-Konzept in seiner historischen Entwicklung
Dr. Robert Steegers:
Der Sammler Goethe im Spiegel seiner Werke und seiner Zeit
Prof. Dr. Uwe Hentschel:
(Autographen) Sammeln als Leidenschaft
Dr. Markus Bertsch:
Wirkung und Rezeption Goethes in der zeitgenössischen Kunst
2020 Goethes Natur
Dr. Manfred Osten (Bonn):
Goethes ganzheitliches Naturverständnis als Lyriker, Forscher und Pantheist
Dr. Thomas Schmuck:
Tagesfahrt nach Weimar: Führung durch die Ausstellung Abenteuer der Vernunft- Goethe und die Naturwissenschaften um 1800
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Chemnitz/Berlin):
Naturgenie trifft auf Unnatur – Lyriker des Sturm und Drang
Prof. Dr. Volker Hesse (Berlin):
Goethe im Netzwerk der Naturwissenschaften
Dr. Thomas Schmuck (Weimar):
Goethes Gespräch mit der Erde
Dr. Hans-Georg Bartel (Berlin):
Goethe und der Wandel der Chemie zur exakten Naturwissenschaft um 1800
Goethe 271. Geburtstag in Krongut Bornstedt/ Sanssouci
Wolfgang Jorcke (Berlin):
Drei Leseabende zum Jahresthema Goethes Natur
Dr. Helmut Hühn (Jena):
Goethes Morphologie und Metamorphosenlehre
Prof. Dr. Friedrich Steinle (Berlin):
Goethes Farbenforschung im Kontext ihrer Zeit – Ein neuer Blick
2021 Epochenumbruch um 1800 in Goethes Leben und Werk
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Chemnitz/Berlin): Zu den Umbruchs- und Krisenerfahrungen um 1800
Beate Schubert (Berlin): Der Student Goethe inmitten der Epochen
Prof. Dr. Dirk von Petersdorff (Jena): Goethe im Sturm und Drang
Prof. Dr. Ernst Osterkamp (Berlin): Goethe und das klassische Ideal
Dr. Manfred Osten (Bonn): Zur Aktualität des Goetheschen Verständnisses der Französische Revolution
Dr. Manfred Osten – Prof. Dr. Peter André Alt - Podiumsdiskussion: Goethes und Schillers Konzept zur ästhetischen Erziehung des Menschen
Goethes 272. Geburtstag: Bad Lauchstädt -Geburtstags-Matinée Musik um Goethe: Goethe-Theater: Faust - Der Tragödie erster Teil
Drei Leseanachmittage zum Jahresthema: Leitung: Wolfgang Jorcke (Berlin)
Prof. Dr. Jochen Golz (Weimar): Goethe, Schiller und Friedrich Schlegel an der Schwelle der Moderne
Prof. Dr. Helmut Hühn (Jena): Zeit und Geschichte in Goethes „Wahlverwandtschaften“
Dr. h.c. Friedrich Dieckmann (Berlin): Napoleonisches beim alten Faust
PD Dr. Michael Jäger (Berlin): Die Julirevolution in Paris und der Beginn des Maschinenzeitalters
320
2022 - Opponent und Vorbild – Goethe in der Auseinandersetzung
Dr. Manfred Osten (Bonn):
Goethes Opposition gegen alle lebensfeindlichen Tendenzen seiner Zeit
Philipp Restetzki (Görlitz):
Goethes Verhältnis zu Spinoza unter besonderer Berücksichtigung des Faust
Beate Schubert (Berlin):
Der Kriegsminister Goethe in Opposition zu Friedrich des Großen
Prof. Dr. Rainer Holm-Hadulla (Heidelberg):
Goethes unkonventionelle Frauenbeziehungen
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Berlin/Chemnitz):
Goethes Kritik an profaner Nützlichkeit und Arbeitsteilung
Prof. Dr. Jochen Golz (Weimar):
Goethes Blicke auf seinen künstlerischen Widersacher Jean Paul
Goethes 273. Geburtstag:
Bedlam-Theater Fülle des Lebens Gedichte - Balladen – Szenensplitter
Dr. Manfred Osten (Bonn):
Goethe - ein Gegner der kranken Lazarettpoesie der Romantiker
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Berlin/Chemnitz):
Goethe und die Unterhaltungsliteratur
Prof. Dr. Ernst Osterkamp (Berlin):
Der Sammler Goethe im Spiegel seiner Werke und seiner Zeit
Prof. Dr. Uwe Hentschel:
Goethe - ein Weltbürger in den Zeiten des Nationalismus
Dagmar von Gersdorff (Berlin):
Lesung: Die Schwiegertochter - Ottilie von Goethe
Dr. PD Michael Jäger (Berlin):
Goethe, Faust und der Saint-Simonismus
2023 - Zäsuren und Umbrüche in Goethes Leben und Werk
Dr. Manfred Osten (Bonn):
Zur Aktualität der Umbrüche und Krisen in Goethes Leben und Werk für das 21. Jahrhundert
Beate Schubert (Berlin):
Goethe entdeckt Shakespeare
Prof. Dr Albert Meier (Kiel):
Goethes revolutionäres Dichten im Sturm und Drang
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Berlin/Chemnitz):
Goethes „Iphigenie“ – Zeitenwenden in Weimar und auf Tauris
Prof. Dr Jochen Golz (Weimar):
Goethes Lebenskrise nach seiner Rückkehr aus Italien
Besuch des Romantikmuseums in Frankfurt
Prof. Dr. Dieter Borchmeyer (München):
Entstehungsgeschichte von Goethes Götz
Theaterpremiere im Burghof Jagsthausen:
260 Jahre Goethes Götz v. Berlichingen
Dr. Ariane Ludwig:
Goethes Mährchen - eine Reaktion auf die Französische Revolution
Paul Sonderegger:
Lesung zu Goethes 274. Geburtstag
Herz mein Herz , was soll das geben ? Goethe fünf Jugendlieben in Dichtung und Wahrheit
Dr. Monika Estermann (Berlin):
Lesenachmittage zum Jahresthema
Prof. Dr. Georg Schmidt (Jena):
Goethes politisches Wollen und die Zeitenwende
Dr. Friedrich Dieckmann (Berlin):
Goethe in der Zeitenwende/ Von den Schwierigkeiten politischer Dichtung in stürzender Zeit
Prof. Dr. Ernst Osterkamp (Berlin):
Goethes produktiver Widerstand gegen die Zumutungen des Zeitgeistes
Dr. Manfred Osten (Bonn):
Goethes Faust - die versiegelte Tragödie der Zeitenwende
321
Das Jubiläumsjahr 250 Jahre Goethe beginnen wir
erstmalig mit einem monothematischen Jahrespro-
gramm und einem selbstgestalteten Flyer. Eröffnet
wird die Veranstaltungsreihe mit einem Vortrag von
Maria Erxleben, Bewundert viel und viel geschol-
ten… – Goethes Verhältnis
zu Berlin.
Erst  nach  Wochen  des
Suchens hat sich ihr Text
als  Schreibmaschinen-
skript wieder angefunden,
und  wir  können  ihn  auf
den  nächsten  Seiten  in
komprimierter Form wie-
dergeben.
Die  Referentin  räumt
darin auch fachkundig auf
mit  dem  immer  wieder
kolportierten  Vorurteil,
Goethe habe Resentiments
gegen die Berliner gehabt
und  diese  Zeit  seines
Lebens für einen verwege-
nen  Menschenschlag  ge-
halten.
Sie läßt all jene prominenten Berliner Zeitgenossen
Revue passieren  – Literaten, Verleger, Architekten,
Künstler,  Schauspieler,  Musiker,  Mediziner  und
Naturwissenschaflter –, zu denen Goethe in den
sechs Jahrzehnten von 1774 bis 1832 Kontakt hat
und mit denen er umfangreiche Korrespondenzen
unterhält.  
In der anschließender Diskussion wird der  Wunsch
geäußert, man möchte doch einen Spaziergang auf
Goethes Spuren durch das alte Berlin unternehmen.
Gesagt getan, Mitte Mai finden sich fast 40 Inte-
ressierte Unter den Linden ein und folgen,  Frau
Erxlebens kundigen Erläu-
terungen  lauschend,  via
Staatsbibliothek, Universi-
tät,  Zeughaus,  Palais  am
Festungsgraben (die ehe-
malige  Zelter´sche Sing-
akademie),  über  die
Museumsinsel hinüber ins
Nikolaiviertel, um schließ-
lich erschöpft und um ei-
nige Erkenntnisse über das
friderizianische Berlin rei-
cher,  in  der  historischen
Weinstube  in  der  Post-
straße zu landen, die Goe-
the – wer weiß – damals
vielleicht auch schon auf-
gesucht hat.
Zwei  Tage  später  nutzen
drei  Dutzend  Mitglieder
die  Gelegenheit,  sich  die
Stella-Aufführung  der
Schaubühne anzusehen und anschließend ein von
Ekkehart  Krippendorff vermitteltes  Gespräch
mit der Dramaturgin zu führen.
Im Mai findet eine kombinierte Veranstaltung statt:
zunächst eine kundige Führung durch das Käthe-
Kollwitz-Museum durch die Direktorin Gudrun
Fritsch.
1999
Goethe und seine Berliner Beziehungen
Maria Erxleben (Berlin)
Bewundert viel und viel gescholten….
Goethes Verhältnis zu Berlin
Dr. Gudrun Fritsch (Berlin)
Führung durch das Käthe-Kollwitz-Museum
anschließend: Dr. Wolfgang Butzlaff (Kiel)
Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden…
Käthe Kollwitz und Goethe
Hans-Hellmut Allers (Berlin)
Erlaubt ist, was gefällt…
Goethe und das Berliner Theater
Prof. Dr. Ernst Osterkamp (Berlin)
die schönsten Spuren des
fruchtbaren Zusammenseins…
Goethe und Wilhelm von Humboldt
Dr. Helmut Börsch-Suphan (Berlin)
Menschliche Formen zu zeigen,
so schön als möglich…
Goethes Dichtungen
als Inspirationsquelle Berliner Künstler
Dr. Hartmut Schmidt (Lotte-Museum, Wetzlar)
Ein Genie ist ein schlechter Nachbar…
Goethe, Nicolai und die Berliner vor 225 Jahren
Tilmann Buddensieg (Berlin)
Die grenzenlose Marmorthätigkeit der
preußischen Hauptstadt
Schinkel, Rauch und Goethe (Dia-Vortrag)
52
Anschließend läßt uns im benach-
barten Literaturhaus Wolfgang
Butzlaff in  seinem  Vortrag
Käthe Kollwitz und Goethe an
den  Ergebnissen  seiner  For-
schungen teilhaben. Die Enkelin
der Künstlerin hatte ihm die Tage-
bücher ihrer Großmutter zur Lektüre überlassen und
so erfährt man zum allgemeinen Erstaunen, daß die
Malerin der Not, des Elends und der Unbill der Hun-
gerjahre nach dem Ersten Weltkrieg eine ausgewie-
sene und belesene Goethe-Kennerin war.
Nach der Sommerpause eröffnet die Herbstsaison
unser Mitglied Hans-Hellmut Allers mit seinem
Vortrag Erlaubt ist, was gefällt – Der Dramatiker
Goethe und seine Beziehungen zum Berliner Thea-
ter. Seine ungemein spannende, viel bislang unbe-
kannte Details aufweisende Recherche, kann hier
aus Platzgründen auch nicht ansatzweise wiederge-
geben werden, liegt jedoch als 140 Seiten umfas-
sende  Publikation  vor;  zwei  Dutzend  Exemplare
sind noch vorhanden und können über die Berliner
Geschäftsstelle zum Preis von 10 € bezogen werden.
Anläßlich  der  250.  Wiederkehr  von  Goethes
Geburtstag widmen wir uns ja in diesem Jahr vor
allem der Frage, welche Haltung der mittlerweile
überzeugte  Weimarer  Goethe  zur  preußischen
Hauptstadt einnahm. Zu welchen Künstlern, Wissen-
schaftlern und sonstigen Zeitgenossen hatte er Kon-
takt, entweder durch lebhafte Korrespondenzen oder
durch mündlichen Gedankenaustausch in Weimar
oder an einem dritten Ort?
In  seinem  Vortrag Die  schönsten
Spuren  des  fruchtbaren  Zusa-
menseins weist Ernst  Oster-
kamp darauf  hin,  daß  die
Zustände Berlins und Weimars
erstaunlicherweise kaum einen
Niederschlag  im  Briefwechsel
mit Wilhelm von Humboldt finden.
Immerhin gilt dieser als Repräsentant des gültigen
künstlerischen Geschmacks in Berlin und nimmt in
seiner Funktion als Staatsrat für Unterricht und Kul-
tus, als Vorsitzender des Vereins der Kunstfreunde
sowie als Leiter der Kommission zur Einrichtung
des ersten preußischen Kunstmuseums großen Ein-
fluß im Sinne Goethes auf die Kultur und Wissen-
schaftsmetropole.
Wie uns Helmut Börsch-Suphan anschaulich er-
läutert, steht am Anfang der Beziehung zwischen
Goethe und den Berlinern Künstlern die Illustration.
1775 stach Daniel Berger Zeichnungen Chodowie-
ckis  zu  Goethes Schriften, zu Erwin  und  Elmire,
Clavigo, doch insbesondere zu den Leiden des jun-
gen Werther. Es sind Bilder, die im Fluß der Hand-
lung einzelne geeignete Momente herausheben.
Gottfried Eberle (Berlin)
Poesie, Harmonie und Gesang…
Goethe Interesse an Zelters Singakademie
(mit Musikbeispielen)
Prof. Dr. Norbert Miller (Berlin)
Schnappe nur jedes Wort auf, alles will ich
von ihm wissen
Goethe im Hause Mendelssohn
Prof. Dr. Hartmut Böhme, Jan-Lüder Röhrs,
Prof. Ferdinand Dammerschun
Alles der Natur angehörige kam  zur Sprache
Goethe und Alexander von Humboldt
53
Auf  der  höheren  Ebene  einer  durchdringenden
Zusammenfassung des Geschehens stehen die bei-
den von Chodowiecki selbst tradierten Blätter zur
französischen  Übersetzung  des Werther,  weil  sie
Leben und Tod, Anfang und Ende des Romans in der
ganzen Spannung des Geschehens bezeichnen.
Der so beliebten Szene der ersten Begegnung Wer-
thers mit der von sechs Kindern umringten Lotte,
steht  das  von  einer  unerbittlichen  Geometrie  ge-
prägte Sterbezimmer mit der Silhouette Lottes ge-
genüber.  Es  gibt  bei  Chodowiecki  weniges  von
dieser Größe bei kleinem Format.
Eines der am beliebtesten Motive neben den Illu-
strationen zu Goethes Faust war der Erlkönig. Von
diesem Gedicht existieren bis in die Gegenwart un-
zählige Darstellungen; als bekannteste Darstellung
kann wohl das zu Goethes Lebzeiten entstandene
Gemälde von Moritz von Schwind gelten, von dem
unzählige  Kopien  hergestellt  wurden.  Auch  der
Faust I bot eine Fülle von dankbar aufgegriffenen
Motiven,  namentlich solche mit historisierendem
genrehaftem Charakter. Weitgehend unbekannt ist
die von Karl-Friedrich Schinkel 1834 geschaffene
Gouache mit dem Titel Die Nacht zieht über den
Golf von Neapel, zu der er sich von Goethes Faust
II inspirieren ließ.
In einem ebenso launigen wie faktenreichen Vor-
trag erläutert uns Hartmut Schmidt, der Leiter des
Lotte-Museums in Wetzlar das gespannte Verhält-
nis zwischen Goethe und dem Berliner Verleger
Friedrich Nicolai, dem damaligen tonangebenden
Verfechter der Berliner Aufklärung. Dieser macht
sich bekanntlich lustig über den Werther-Kult und
verfaßt 1775 eine Parodie auf Goethes Die Leiden
des jungen Werther: Die Freuden des jungen Wer-
ther, in der dieser am Leben bleibt (die Pistole war
von Albert nur mit Hühnerblut geladen worden)
und schließlich Lotte heiratet. Ende gut, alles gut –
wie langweilig.   
Die Reaktionen auf Nico-
lais  Parodie  sind  höchst
unterschiedlich. Viele, be-
sonders aus den Reihen der
Aufklärer, loben diese Ver-
sion, während die Stürmer
und Dränger überwiegend
die beißend satirische Dar-
stellung der Protagonisten,
die eine deutliche Anspie-
lung auf das Genre sind, kritisieren.
Die wohl heftigste Reaktion kommt jedoch vom
Verfasser des  Originals. Als einer  der bissigsten
Kommentare  Goethes  zu Werthers  Freuden gilt
sein Gedicht Nicolai auf Werthers Grab, erschienen
etwa 1775:
Ein junger Mensch ich weiß nicht wie,
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward dann auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei
Der hatte seinen Stuhlgang frei,
Wie ihn so Leute haben.
Der setzt sich nieder auf das Grab,
Und legt ein reinlich Häuflein ab,
Schaut mit Behagen seinen Dreck,
Geht wohl erathmend wieder weg,
Und spricht zu sich bedächtiglich:
„Der arme Mensch, er dauert mich
Wie hat er sich verdorben!
Hätt’ er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!“
Aufs äußerste verärgert über diese Verunglimpfung
seines Romans, beginnt Goethe einen aufs heftigste
geführten literarischen Feldzug gegen Nicolai, der
Zeit seines Lebens anhalten wird. Neben einzelnen
Streitgedichten verfaßt er weitere schriftliche zum
Teil sehr offensichtliche Angriffe, etwa in den Xe-
nien und 'widmet' Nicolai sogar einen kleinen Auf-
tritt in seinem Faust II als Proktophantasmist, eine
Anspielung darauf, dass Nicolai an Phantasmen litt.
Am 16. Juli schreibt Goethe an Sulpiz Boisserée:
Insofern es mir ziemt, ein Wort mitzusprechen, (...)
thu ich folgenden, doch ganz unmaßgeblichen Vor-
schlag: Rauch in Berlin genießt eines verdienten
Ruhms (…) er könnte mich in den nächsten Mona-
ten besuchen, sein Modell mit fortnehmen und, bey
der gränzenlosen Marmorthätigkeit, die jetzt in
Berlin herrscht, würde die Büste bald fertig seyn;
setzt man sich von Frankfurt aus in Bezug mit ihm,
so erbiete ich mich, ihn auf's freundlichste im Laufe
dieser Monate zu empfangen.
Tilmann Buddensieg entführt uns ins Jahr 1820 in
die Woche vom 18.-20. August, in der die beiden
Berliner  Bildhauer  Christian  Daniel  Rauch  und
Christian  Friedrich  Tieck  gleichzeitig  (a  tempo)
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ihre Bildnisse des einundsiebzigjährigen Goethe in
dessen Jenaer Gartenwohnung modellieren. Wäh-
rend der dreitägigen Modellierarbeit unterrichten
die beiden Bildhauer Goethe über den Fortgang der
Bauarbeiten  am  Neuen  Berliner  Schauspielhaus
nach Plänen Schinkels, dessen Vorgängerbau im
Jahre 1817 abgebrannt war.
Im Unterschied zur Büste Tiecks, die zunächst in
Vergessenheit gerät, erfreut sich die Büste Rauchs
bald  lebhaften  Interesses  und  großer Wertschät-
zung. Auch Goethe selbst ist von der Arbeit Rauchs
sehr angetan. Mit Rauchs Büste bin ich sehr zufrie-
den (...) Die  Behandlung  der  Büste  ist  wirklich
grandios und wird sich daher in jeder Größe statt-
lich ausnehmen.
Heute noch gilt die Büste Rauchs aufgrund ihrer
Lebensnähe  als Inbegriff  des
späten Goethe.
(Siehe hierzu aus  Maria Erxlebens Vor-
trag: Goethe und seine Berliner Beziehun-
gen auf den folgenden Seiten)
Einen weiteren  Höhepunkt bil-
det  die  Veranstaltung  im  Haus  von Gottfried
Eberle im Westend:  Poesie, Harmonie und Gesang
– Goethes Interesse an Zelters Singakademie mit
Gesangseinlagen  der  Sopranistin Regine  Geb-
hardt.
Sowie Zelter sich auf Flügeln des Gesangs mit einem
Sprung über Ziegelsteine und Mauern hinweg vom
Feld seines Handwerks in das Feld der Kunst begibt,
so soll auch dieses geflügelte Pferd über die Felder
springen und dabei genau in der Schwebe, im Sprung
über die Grenze, gleichsam zwi-
schen beiden Feldern festge-
halten sein. Derart gehört es
dem Bereich  der  Kunst  und
dem Bereich des Handwerks
gleichermaßen  an.  Der  im
Wappen abgebildete Zelter als
Pferd ist  zugleich ein Pega-
sus, auf dem der Dichter aus
Weimar im Geiste sich reiten sieht. Versteckt erinnert
Goethe so daran, daß nicht wenige seiner Gedichte
für den Freund und die geselligen Berliner Anlässe in
der Singakademie entstanden.
Auszug aus: Der Singemeister Carl Friedrich Zelter,
hg. von Christian Filips
Mehrheitlich hieß es, man habe sich gefühlt wie in
einem Berliner Salon und ob sich etwas in dieser
Form nicht öfter machen ließe. Ich gebe diese An-
regung hier weiter an Mitglieder, die über die ge-
eigneten  Räumlichkeiten  verfügen  und  bereit
wären, die Goethe-Gesellschaft einmal für eine Ver-
anstaltung  zu  beherbergen;  öffentliche  Säle  mit
einem Flügel sind in Berlin unbezahlbar.
Ein  Selbstläufer  ist  schließlich
der Vortrag von Norbert Mil-
ler über Goethe  und  Felix
Mendelssohn  Bartholdy.
Daß  dieses  Wunderkind,
»der neue Mozart«, zu den
Schülern seines Duzfreun-
des  Zelter  zählte,  ist  ein
Glücksumstand , der Goe-
the wohl bewußt war.  Vier-
zehnmal  kommt  Zelter nach
Weimar. Vergeblich versucht er,
Goethe wenigstens einmal zu einem Besuch von
Berlin  zu  bewegen,  das  doch  im  Hinblick  auf
Musik  und  Musiktheater  so viel mehr zu  bieten
hatte.
Die Gewinner dieser von Miller genau analysierten
Abstinenz sind wir Nachgeborenen. Denn die in der
Provinz-Residenz doch stets mit Spannung erwar-
teten Neuigkeiten aus der Hauptstadt haben zum fa-
cettenreichen  Kolorit  einer  der  wichtigsten
Goethe-Korrespondenzen beigetragen.
Zum Jahresende wagten wir uns dann zum ersten
Mal an eine Podiumsdiskussion: Unser neugeba-
ckenes Vorstandsmitglied Jan-Lüder Röhrs fragte
die beiden Berliner Naturwissenschaftler Hartmut
Böhme und Ferdinand  Dammerschun über
Goethes besonderes Verhältnis zu Alexander von
Humboldt aus.
Zelters Wappen,
Entwurf Goethes, 1831
55
Maria Erxleben
Goethes Beziehungen zu Berlin
Bewundert viel und viel gescholten – Es sei mir ge-
stattet, diesen Vers, der den Helena-Akt des Faust
II eröffnet, zu zitieren und zur Charakterisierung
von Goethes Urteil über Berlin zu benutzen, drückt
er doch in einmaliger Weise die Widersprüchlich-
keit aus, in der sich Zustimmung und Ablehnung
gleicherweise finden. Goethes Verhältnis zu Berlin
sei, eine geistige Mitbürgerschaft (...), welche über
Zeit und Ort hinaus ein gegenseitiges Glück beför-
dert.
(Brief an Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen
vom 15. März 1826.)
Es gibt bedeutende Veranlassung, sich wieder ein-
mal mit Goethes Verhältnis zu unserer Stadt zu be-
fassen und zu versuchen, einen – wenn auch nur
partiellen und notwendigerweise eingeschränkten
– Überblick über die vielfältigen menschlichen und
kulturellen Wechselbeziehungen zu bieten, die sich
zwischen ihm und der sich seit Friedrich des Gro-
ßen Regierung in ungeheuren Tempo entwickeln-
den  Metropole  im  nordöstlichen  Deutschland
ergeben haben.
Äußerungen  Goethes  über  Berlin,  die  große
Königsstadt,  die lebendige,  getümmelreiche,  le-
benslustige, verführerische, ungeheuer weite und
bewegte, die immer wieder mit den berühmt-be-
rüchtigten biblischen Großstädten Babylon, Ninive,
Sodom und Gomorrha gleichgesetzt wurde, solche
Äußerungen, bewundernd, absprechend oder iro-
nisch gebrochen, finden sich in großer Zahl in Goe-
thes  Briefen  und  Gesprächen,  später  auch  in
Aufsätzen und Rezensionen.
Wer  kennt  nicht  die  pointierten  Aussagen,  die
immer wieder belegen sollen, daß Goethe mit un-
serer Stadt nichts im Sinn gehabt habe? Ich meine
die Zeilen des ganz jungen Leipziger Studenten im
Brief  vom  1766  an  die Schwester  Cornelia: Ich
glaube, es ist jetzt in Europa kein so gottloser Ort
als die Residenz des Königs in Preußen oder den
von Eckermann Jahrzehnte später überlieferten Satz
aus einem  Gespräch  vom 4. Dezember 1823: In
Berlin ist ein so verwegener Menschenschlag bei-
sammen, daß man mit Delikatesse nicht weit reicht,
sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und
mitunter etwas grob sein muss, um sich über Was-
ser zu halten.
Viel bedeutsamer für unser Thema als solche Einzel-
aussagen Goethes über Berlin und die Berliner sind
die aus seinem Schaffen erwachsenen und auf sein
Schaffen zurückwirkenden, durch ein Empfangen
und  Geben  fruchtbaren  Wechselbeziehungen  mit
hervorragenden Bürgern und angesehenen Institutio-
nen der Stadt, die sich auf der Basis gleichartiger
sachlicher Interessen und enger persönlicher Kon-
takte – meist beidem – entwickelten und die jeweils
zugleich ein Stück Kulturgeschichte reflektieren.
Seit etwa 1790, nachdem die Aus-
einandersetzung mit der Berli-
ner Aufklärung und besonders
mit Friedrich Nicolai und des-
sen Werther-Persiflage  sowie
die eigenen Reiseeindrücke von
1778 erst einmal Vergangenheit für
Goethe geworden waren, läßt sich ein immer reger
werdendes Interesse seinerseits an den historischen
und  kulturellen  Fortschritten,  an  den  künstleri-
schen, wissenschaftlichen und technischen Vorha-
ben  im  aufstrebenden  Berlin  beobachten.  Diese
Teilnahme, die nach der Italienreise Goethes ein-
setzt, wird ganz sicher durch die monatelange Ge-
meinschaft  mit  Karl  Philipp  Moritz  in  Rom
geweckt.
Dieser  junge,  doch  schon
anerkannte  Reiseschrift-
steller,  Verfasser  des
Romans Anton  Reiser,
Philologe  und  Archäo-
loge  wird  Goethes
Freund  und  Vertrauter,
und er profitiert dabei selbst
von dessen umfangreichen Altertums- und Sprach-
kenntnissen.
Man darf wohl annehmen, daß in den langen Ge-
sprächen,  die  Goethe  in  seiner  Eigenschaft  als
Krankenpfleger, Beichtvater, Vertrauter und gehei-
mer Sekretär – so von Goethe in der Italienischen
Reise im Januar 1787 beschrieben – mit dem Kran-
ken (er hatte sich beim Sturz vom Pferd den Arm
gebrochen) führte, daß in diesen Gesprächen auch
die Rede von Berlin gewesen sein wird.
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Dort in Rom, der südlichen Haupt- und Weltstadt,
dürfte Goethe von Moritz eine freundliche Korrek-
tur seines Eindrucks von Berlin, den er während
seines fünftägigen Besuchs im Mai 1778 gewonnen
hatte, erfahren haben. Dazu dürfte sicher auch die
poetische  Beschreibung  der  großen  Stadt  in
Moritzens Gedicht Sonnenaufgang über Berlin auf
dem Tempelhofer Berge vom 10. August 1780 bei-
getragen haben:
Des blau gewölbten Tages Glanz wird stärker,
und majestätisch steigt Berlin empor.
Die Sonne, die den Gold umsäumten Fächer
Des Morgenrot entfaltet hat,
Vergüldet nun mit ihrem Strahl die Dächer
Und grüßt mit Lächeln unsere Königsstadt…
Mit seiner Häuser und Paläste Menge
Hat es die ganze Flur bedeckt.
Dort dient es sich in ungeheurer Länge
Und hat die beiden Arme ausgestreckt,
Von da, wo seiner Dächer helles Schimmern
Sich in des Waldes Grün verliert,
Bis an die Wiesen, deren sanftes Flimmern
Im Sonnenglanz die Morgenseite ziert…
Nun strömt das Lichtt herab wie Flammenbäche
Und alle Gipfel sind besonnt.
Unüberschaubar ist die weite Fläche
Der Stadt und reicht bis an den Horizont.
Moritz selbst verehrt Goethe unendlich. Als Theo-
retiker  des  sogenannten  Kunstschönen  und  zum
Professor der Ästhetik und Altertumskunde an der
Akademie der Wissenschaften zu Berlin ernannt,
verbreitet  Moritz  in  seinen  Vorlesungen  in  den
Räumen  der Akademie  –  die  Universität  war  ja
noch nicht gegründet –, die von allen bedeutenden
und einflußreichen Leuten, auch von Ministern und
Angehörigen des Hofes sowie einem Kreis gebil-
deter  Damen  besucht werden, Goethes  Ruhm in
Berlin.
Er exemplifiziert an Goethe und an seinem dichte-
rischen Gestaltungsvermögen, seiner ihm von der
Natur verliehenen Bildungskraft, die sich in allen
seinen Werken manifestiere, seine eigene Kunst-
theorie. Damit löst Moritz eine Art Initialzündung,
ein prägendes Bildungserlebnis in den
Köpfen  und  auch  Herzen  seiner
Hörer und vor allen Dingen Höre-
rinnen aus, die, wie er selber, au-
ßerdem  fast  alle  im  seit  1780
bestehenden kultivierten Salon der
Henriette Herz verkehren.
In diesem unterhält man
sich, wie später auch in den
anderen berühmten Berliner
Salons – etwa dem der Rahel
Levin, über die neuesten Er-
scheinungen auf dem Gebiet
der Literatur.
Im Salon Herz, in dem Geist und Gefühl, nicht Her-
kunft und Stand den Ausschlag geben, beginnt man
nun sehr einfühlsam, Goethes Dichtungen in neuem
Lichte zu sehen, sucht und findet Besonderes an
ihnen und findet damit auch gleichzeitig zu einem
neueren  besseren  Verständnis  des  Dichters,  was
gewiß  auch  manchmal  zu  einer  schwärmerisch
übertriebenen Verehrung seiner Person führt.
Auch nach Moritz’ frühem Tod 1793 werden die
freundschaftlichen Gefühle und Verbindungen, die
sich  zwischen  den tonangebenden Männern und
Frauen der Berliner Gesellschaft zu Goethe herge-
stellt  haben,  von  diesen  weitergetragen  und  bei
Begegnungen und in Korrespondenzen vertieft.
Zum Kreise der Verehrer zählen auch die jungen
Dichter  der  Romantik,  die  in  diesen  Jahren  in
Berlin wirken, etwa Ludwig Tieck, die Gebrüder
Schlegel,  de  la  Motte  Fouqué  und  Zacharias
Werner, die sich Goethe und seiner Dichtung ver-
bunden fühlen.
Besonders ist auch der in Berlin geborene Achim
von Arnim zu nennen, der hier in Berlin zusammen
mit Clemens Brentano 1804 die Liedersammlung
Des Knaben Wunderhorn plant, die dann 1805 in
Heidelberg ausgeführt und Goethe gewidmet wird.
Programmatisch für das geistig kulturelle Berlin
stehen ferner Namen wie Wilhelm von Humboldt,
Carl-Friedrich  Zelter,  August  Wilhelm  Iffland,
Georg  Wilhelm  Friedrich  Hegel,  Karl  Friedrich
Schinkel, Christian Daniel Rauch, Christoph Wil-
helm Hufeland und Wilhelm Beuth zu nennen, auf
die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden
kann.
Stellvertretend mögen sie für alle stehen, durch die
Goethe mit der Literatur und Musik, mit der dar-
stellenden, bildenden und der Baukunst sowie den
Geistes- und Naturwissenschaften  einschließlich
der Ökonomie, Technik und Politik sowie mit allen
entsprechenden Institutionen in Berlin verbunden
ist.
Diese Verbindungen erweitern Goethes Gesichts-
feld, bilden mit das universale Hintergrundwissen,
57
aus dem Ideen und Fakten, oft schöpferisch adap-
tiert und reproduziert, Eingang in sein dichterisches
Werk sowie in seine kunsttheoretischen und natur-
wissenschaftlichen Arbeiten finden. Aber auch die
Berliner Bekannten und Freunde fühlen sich ihrer-
seits in ihren Bestrebungen durch Goethe angeregt
und bestätigt.
In Berlin findet Goethe die Anerkennung und Ver-
ehrung weitreichender Kreise durch alle sozialen
Schichten hindurch, nicht zuletzt durch Zelters po-
puläre  Gedichtvertonungen.  Von  hier  wird  der
klassische Goethe und sein Werk weitestgehend be-
kannt gemacht, wird er doch auf den Gebieten von
Kunst und Wissenschaft Autorität und Vorbild.
Im Folgenden sei nun auf einige Einzelheiten von
Goethes Begegnung mit und sein Verhältnis zu Ber-
lin eingegangen. Zunächst einmal ist festzuhalten:
Berlin hat in Goethes Leben einen anderen Stellen-
und Erlebniswert als andere Orte, in denen er ge-
wesen ist oder wohin er briefliche Kontakte unter-
hielt.  Nach  Berlin  verzehrt  ihn  nicht  eine
schmerzhafte  Sehnsucht  wie  nach  Rom,  hierher
  locken ihn nicht die freundlichen Jugenderinnerun-
gen und die Milde des Spätsommerlichts wie nach
den Städten der Rhein-Main-Gegenden. Es zieht
ihn  auch  nicht  eine  heiter  gesellige Atmosphäre
hierher wie in die böhmischen Bäder; nein, die Be-
ziehungen zu Berlin sind von Anfang an nüchterner,
sachlicher,  nicht  durch  eine  arkadische  Traum-
vorstellung verklärt.
Doch  ist  sein  Verhältnis  zu  der  Stadt  zugleich
gemischt aus Neugierde, Furcht und Bewunderung,
weniger voll innerer Wärme. Die Stadt gibt seinem
Geist  Nahrung,  weniger  seinem  Gemüt,  flößt
Respekt ein, aber keine liebenden Gefühle. Dazu
ist sie ihm zu groß, grenzenlos im Umfang wie im
Wollen und Hervorbringen.
Die  große Vielfalt  und  Rastlosigkeit  in  der  sich
verändernden ökonomischen und sozialen Struktur,
die Beschleunigung aller lebendigen und techni-
schen Prozesse als Ausdruck der rasanten Entwick-
lung der Produktivkräfte, reißt alle und alles mit
sich und macht das Lebensgefühl und die Lebens-
weise der Berliner so dynamisch im Positiven wie
auch  Negativen.
In welchem Licht erscheint nun Berlin dem jungen
Goethe? Als er das erste und auch einzige Mal in
die Stadt kommt, ist er 28 Jahre alt, der Sieben-
jährige Krieg erst 15 Jahre vorüber und die preußi-
schen Truppen bereits in ein neues Kriegsabenteuer
verwickelt, den bayerischen Erbfolgekrieg.
Vom 15.-20. Mai 1778 begleitet er den inkognito
als  Graf  von  Ahlefeldt  reisenden  Herzog  Carl
August und den Fürsten Leopold Franz III. von An-
halt-Dessau, die hier in Berlin die politische Lage
sondieren wollen. Friedrich der Große ist zu diesem
Zeitpunkt gar nicht anwesend, sondern bei seinen
Truppen.
Vielleicht  hat  man  gerade  deshalb  diese  Tage
gewählt, denn man macht sehr bald Besuch beim
Prinzen Heinrich, von dem man  weiß, daß  er in
Opposition zu seinem königlichen Bruder steht und
mit verschiedenen Generälen eine Fronde bildet,
die gegen eine Teilnahme an diesem Krieg sind. Die
sächsischen Fürsten wären bei einer erneuten krie-
gerischen Auseinandersetzung zwischen Preußen
und Österreich von einem Durchmarsch der preu-
ßischen  Armee  durch  ihr  Land  die  wieder  am
stärksten Betroffenen.
Also schon der Anlaß für diese Berlinreise ist für
Goethe  ein  höchst
unerfreulicher;  drin-
gende   Zurückhaltung
und Diskretion im Um-
gang mit Zivilpersonen
und  Militärs  zur  Wah-
rung von Carl Augusts
Inkognito sind ihm an-
geraten.  Außerdem  ist
ihm  auch  das  literari-
sche  Berlin  mit  seiner
propagierten Aufklärung, aus der heraus auch Nico-
lais Werther-Persiflage entstanden ist, nicht gerade
sympathisch.  Es  ist  noch  nicht  lange  her, da  hat
Goethe  in  diesem  Zusammenhang  die  Verse  ge-
schrieben: Was schert mich der Berliner Bann, Ge-
schmäckler-Pfaffenwesen,  und  wer  mich  nicht
verstehen kann, der lerne besser lesen!
58
Zeit  seines  Lebens  fühlt  er  sich  in  gewissen
Berliner Literaturkreisen als Geächteter, erst bei
den Aufklärern, sehr viel später dann, fast am Ende
seines Lebens, bei den streng orthodoxen Kreisen
und viele seiner wenig freundlichen Urteile über die
Berliner beziehen sich nur auf diese Personengrup-
pen.
Doch wieder zurück zum Mai des Jahres 1778. Aus
Potsdam kommend fährt Goethe am 16.Mai nach-
mittags um 4 Uhr nach Berlin hinein. Vermutlich
wohnt er Unter den Linden 23 im Hotel de Russie,
das später den Namen Zur goldenen Sonne erhält.
Goethes Berliner Tagebuch bietet nur äußerst lako-
nische  Eintragungen  und  stichwortartig  einige
Namen  und  Bezeichnungen,  aus  denen  seine
Besichtigungen  und  Besucher
werden  müssen.  Man  ersieht
aus den kurzen Notizen, daß er
im  Stadtzentrum  war, in  der
Nikolaikirche,  wo  er  einer
Predigt  des  Aufklärers  und
Berliner   Propstes  Johann  Joa-
chim  Spalding  beiwohnt.   Ferner
besucht  er  die  Spandauer  Straße,  besichtigt  das
Schloß, den alten Dom und das Zeughaus, spaziert
durch  die  Friedrichstraße  und  stattet  auch  der
Königlichen Porzellan-Manufaktur am Ende  der
Leipziger Straße einen Besuch ab.
Die damals doch recht neuen Prachtgebäude Unter
den Linden wie die Oper, die zwischen 1775 und
1780 entstehende Bibliothek, d.h. die Kommode,
das  1766  erbaute  Palais  Prinz  Heinrich,  heute
Humboldt-Universität, sowie die von Friedrich dem
Großen  selbst  als  Entwurf  skizzierte  Hedwigs-
Kathedrale hat er zwar gesehen, äußert aber keine
Eindrücke, sondern notiert nur die Namen.
Zweimal ist Goethe bei
dem von ihm verehrten
Kupferstecher  Daniel
Chodowiecki zu Besuch,
dessen  kleinformatige
Buchillustrationen  er
Zeit  seines  Lebens  be-
wundert.  Das  Titelbild
zu Nicolais Anti-Werther
Die Freuden des jungen
Werthers,  die  Umar-
mung Lottes durch Wer-
ther  darstellend,  hat  er
sich  sogar  ausgeschnit-
ten und, wie er später in Dichtung und Wahrheit be-
schreibt, »unter seine liebsten Kupfer gelegt.«
Erwähnt wird ein Spaziergang im Tiergarten. Fer-
ner besucht er den Archivar der Akademie der Wis-
senschaften, Wegelin, und die deutsche Sappho, die
Dichterin Anna Louise Karsch.
Die  Karschin  und  ihre  Tochter
geben ausführliche Berichte über
Goethes Besuch in ihrem Hause,
die aber sicherlich recht dichte-
risch ausgeschmückt sind. Offen-
bar erfreulich für Goethe sind das
Wiedersehen mit dem aus den Lili-
Tagen in Offenbach bekannten Musiker
und Komponisten Johann André, der 1775 Erwin
und Elmire vertont hat und nunmehr Musikdirektor
der Döbbelinschen Schauspielertruppe in Berlin ist.
Gleich am Abend des Ankunftstages sieht Goethe
die Aufführung Die Nebenbuhler.
Genauso karg wie zu Berlin sind die Tagebuchan-
gaben über die Tage in Potsdam auf der Hin- und
Rückfahrt, die auch nur aus einigen, oft noch in Ab-
kürzung geschriebenen, Wortbrocken bestehen.
Geradezu erschütternd ist jedoch das wiedergege-
ben, was Goethe in Berlin eigentlich bewegt und
dann  auch  wohl  für  mehr  als  50  Jahre  wie  ein
Trauma seine Einstellung zur preußischen Königs-
stadt immer wieder unterschwellig beeinflußt haben
mag, wie in seinen Reisebriefen an Charlotte von
Stein und in einem Bericht an den Freund Johann
Heinrich Merck, den hochgebildeten einstigen He-
rausgeber der Frankfurter Gelehrten Anzeigen und
derzeitigen Kriegsrat in Darmstadt.
Auch in Berlin hat Goethe, der Augenmensch, auf-
merksam  umhergeschaut, aber er hat geschwiegen
– geschwiegen im Tagebuch, an der Tafel, in adliger
Gesellschaft und in bürgerlichen Häusern. Man hat
ihm das – fremde Tagebücher und Briefe bezeugen
es mehrfach – als Stolz und Hochmut, aber auch als
59
Unwissenheit  und Ungeschicklichkeit ausgelegt.
Aber in den vertrauten Briefen sprach er!
Im Bericht an Charlotte von Stein heißt es:
Berlin. Sonntag d. 17. Abends. Durch die Stadt und
mancherley Menschen Gewerb und Wesen hab ich
mich durchgetrieben. Von den Gegenständen selbst
mündlig mehr. Gleichmut und Reinheit erhalten mir
die Götter aufs schönste, aber dagegen welckt die
Blüte des Vertrauens der Offenheit, der hingeben-
den Liebe täglich mehr. Sonst war meine Seele wie
eine Stadt mit geringen Mauern, die hinter sich eine
Citadelle auf dem Berge hat. Das Schloss bewacht
ich, und die Stadt lies ich in Frieden  und Krieg
wehrlos, nun fang ich auch an die zu befestigen,
wärs nur indess gegen die leichten Truppen.
Es ist ein schön Gefühl an der Quelle des Kriegs
zu sizzen in dem Augenblick da sie überzusprudeln
droht. Und die Pracht der Königstadt, und Leben
und Ordnung und Überfluss, das nicht wäre ohne
die tausend und tausend Menschen bereit für sie ge-
opfert zu werden. Menschen Pferde, Wagen, Ge-
schütz,  Zurüstungen,  es wimmelt von allem. (...)
Wenn ich  nur gut erzählen  kan  von  dem grosen
Uhrwerck, das sich vor einem treibt, von der Bewe-
gung der Puppen kan man auf die alte Walze FR,
gezeichnet mit tausend Stiften, schliessen, die diese
Melodien eine nach der andern hervorbringt.
Berlin d. 19. Wenn ich nur könnte bey meiner Rück-
kunft Ihnen alles erzählen wenn ich nur dürfte. Aber
ach, die eisernen Reifen mit denen mein Herz ein-
gefasst wird ,treiben sich täglich fester an, daß end-
lich gar nichts mehr durchrinnen wird. (…) So viel
kann ich sagen, ie grösser die Welt, desto garstiger
wird die Farce und ich schwöre, keine Zote und
Eseley der Hanswurstiaden ist so eckelhafft als das
Wesen der Grossen Mittlern und Kleinen durchei-
nander. Ich habe die Götter gebeten dass sie mir
meinen Muth und grad seyn erhalten wollen biss
ans Ende, und lieber mögen das Ende vorrücken
als mich den lezten Theil des Ziels lausig hinkrie-
chen lassen. Aber den Werth, den  wieder dieses
Abenteuer für mich für uns alle hat, nenn ich nicht
mit Nahmen.
Im Brief an Merck lesen wir am 5.August:
… in Berlin war ich im Frühjahr; ein ganz ander
Schauspiel! Wir  waren  wenige  Tage  da, und ich
guckte nur drein wie das Kind in Schön-Raritäten-
Kasten. Aber Du weißt, wie ich im Anschaun lebe;
es  sind  mir  tausend  Lichter  aufgegangen.  Und
dem alten Fritz bin ich recht nah worden, da ich
hab sein Wesen gesehn, sein Gold, Silber, Marmor,
Affen, Papageien und zerrissene Vorhänge, und hab
über den großen Menschen seine eignen Lumpen-
hunde räsonniren hören. Einen großen Theil von
Prinz Heinrichs Armee, den wir passirt sind, Ma-
noeuvres und die Gestalten der Generale, die ich
hab halb dutzendweis bei Tisch gegenüber gehabt,
machen mich auch bei dem jetzigen Kriege gegen-
wärtiger. Mit Menschen hab ich sonst gar Nichts zu
verkehren gehabt und hab in preußischen Staaten
kein laut Wort hervorgebracht, das sie nicht könn-
ten drucken lassen. Dafür ich gelegentlich als stolz
ausgeschrieen bin.
Soweit Goethes Eindrücke und Erlebnisse bei dem
einzigen Berlin-Besuch seines Lebens. In den Jah-
ren danach tritt Berlin für ihn erst einmal zurück bis
zum Ende seiner Italienreise, erst die 90-er Jahre
des  18.  Jahrhunderts  beginnen  den  Wandel  in
seinen Beziehungen zu Berlin herbeizuführen.
Zwar hat es 1795 noch eine Kontroverse gegeben,
als der zur Aufklärer-Fraktion um Friedrich Nicolai
zählende Daniel Jenisch im Berlinischen Archiv der
Zeit und des Geschmacks den Vorwurf erhebt, daß
es in Deutschland an klassischen Nationalautoren
mangele. Goethe hat das in seinem berühmten Auf-
satz Literarischer Sansculottismus zurückgewiesen
und  dabei  auch  den  heute  selbstverständlichen
Gedanken der Verbindung der vergangenen Kultur-
leistung  mit  den  Bestrebungen  der  Gegenwart
innerhalb  der  eigenen  historischen  Epoche  aus-
gesprochen.
Und auch, als 1796 die Xenien in Berlin wie auch
anderswo große Aufregung bei den Betroffenen,
aber auch geheime Zustimmung bei den Goethe-
Verehrern finden, wird das sich aufbauende Verhält-
nis nicht mehr ernstlich gestört.
Goethe hat sich zur Abrundung seines Weltbildes
und der Verfestigung seiner theoretischen Überle-
gungen  und  wissenschaftlichen  Erkenntnisse  in
Berlin  Gleichgesinnte  gesucht,  gleich  strebende
60
und vorzügliche, Belehrung gebende Sachkenner,
und sie auf fast allen Gebieten gefunden. Er lernt
Berlin  als  die  Stadt  anerkennen,  wo,  wie  er  an
Beuth  im  Februar  1832  schreibt:  Wissenschaft,
Künste, Geschmack und Technik vollkommen ein-
heimisch in lebendiger Tätigkeit sind.
Auf Vorschlag des Archäologen
Aloys Hirt wird Goethe 1806
zum Ehrenmitglied der Aka-
demie der Wissenschaften er-
nannt  in  der  richtigen
Einschätzung,  daß  er  durch
seine  den  Klassizismus  in
Deutschland fördernden Bestrebun-
gen, mit seinen aus tiefer Antike-Kenntnis erwach-
senden theoretischen Aufsätzen und literarischen
Kunstwerken auch wissenschaftliche Anerkennung
verdiene.
Nun  einige  weitere  Bereiche,  in  denen  Goethes
Einbindung in das kulturelle Leben Berlins sichtbar
wird:  Eine hervorragende  Rolle spielt  dabei das
Theater. Der im Entstehen begriffenen deutschen
Bühne kommt eine der bedeutendsten Vermittler-
rolle zwischen dem Autor, dem Sprachkunstwerk
und dem Publikum zu. Weiter gefördert wird beim
Publikum das Verständnis des Bühnenwerks wie
auch die Bekanntschaft mit der Person des Autors
durch Kritiken und Besprechungen in den großen
Berliner  Tageszeitungen,  besonders  der Spener-
schen und der Vossischen.
Es sei jedoch gleich gesagt, daß Goethes Stücke
keinen besonders großen Raum im Spielplan des
Berliner Theaters einnehmen. Die Autorenhonorare
für die Zeit von 1790 bis 1810 belegen das für Ber-
lin. Sie betragen für Goethe 200, Schiller 1100, für
Iffland 2700 und für Kotzebue 4000 Taler! Das liegt
daran, daß man von Seiten des großen Publikums
den klassischen Aufführungen vielfach Langeweile
vorwirft.
Die Natürliche Tochter erregt 1803 sogar einen
Theaterskandal,  ausgelöst  von  dem  Bildhauer
Gottfried Schadow, wie man in Berlin munkelt. Die
Aufführung wurde ausgepocht, also das, was heute
durch Pfeifen und Ausbuhen geschieht.
Anders klingen natürlich die Berichte der Goethe-
Verehrer aus dem an Bildung und Einfluß tonange-
benden  Teil  des  Publikums,  die  auch  auf  die
Geschmacks- und Urteilsbildung ihrer Mitbürger
Einfluß nehmen wollen.
Rahel  Levin  berichtet  z.B.  ihrem  zukünftigen
Gatten Varnhagen von der Tasso-Aufführung 1811:
Meine Wonne! Es mußten 800 Menschen Götter-
worte hören und die Seele einnehmen... Goethe,
Gott, wie vergöttere ich den immer von neuem.
Tatsächlich entfaltet Goethes dramatisches Werk
von Berlin aus seine große künstlerische Wirkung.
Es beginnt damit schon am 12. April 1774 mit der
Uraufführung des Götz von Berlichingen durch die
Koch’sche Gesellschaft. Diese Truppe nimmt nach
dem Götz 1774 auch noch den Clavigo in ihr Re-
pertoire auf; doch das Thema Goethe und das Ber-
liner  Theater  ist  abendfüllend  und  reicht  für
mehrere Bücher.
Wie mit dem Theaterleben ist Goethe über Carl-
Friedrich Zelter natürlich mit der Musikkultur Ber-
lins  verbunden.  Es  ist  dies  ebenfalls  eines  der
großen Themen, die in Einzelbehandlungen immer
wieder dargestellt zu werden verdienen.
1796  hatte  Zelter Goethe einige
seiner Lied-Kompositionen zu-
kommen lassen, die in Goethe
den Wunsch nach näherer Be-
kanntschaft  erwecken.  Er
schreibt  an  die  Übermittlerin
der Lieder, die Frau des Berliner
Verlegers  Johann Friedrich Unger:
Musik kann ich nicht beurteilen, denn es fehlt mir
an  Kenntnis  der  Mittel,  deren  sie  sich  zu  ihrem
Zweck bedient, ich kann nur von der Wirkung spre-
chen die sie auf mich macht... Und so kann ich von
Herrn Zelters Kompositionen meiner Lieder sagen,
daß  ich  der  Musik  so  herzliche  Töne  zugetraut
hätte.
Es ist das Einfache, das Gemütvolle, das ihn an Zel-
ters Musik anzieht. Mit Zelter ergibt sich dann eine
jahrzehntelange  Korrespondenz,  die  in  dem
menschlich so anrührenden und kulturhistorisch so
61
interessanten Briefwechsel nachzulesen ist. Zelter
wird für Goethe der Berichterstatter über Berliner
Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft und
bei Hof, über die Entwicklung der Stadt und ihrer
Bewohner, über das kulturelle Leben in allen seinen
Manifestationen. Er ist der Vermittler persönlicher
Kontakte zwischen Goethe und manchen Berliner
Persönlichkeiten der Wissenschaft und Kunst, und
er wird selbst im Laufe der Zeit so etwas wie der
offizielle  Repräsentant  des  großen  Dichters  in
Berlin.
Als Direktor der Singakademie und Begründer der
geselligen Berliner Liedertafel (1808), so genannt,
weil man alle vier Wochen an jedem einem Voll-
mond nächsten Dienstag (die Straßenbeleuchtung
in Berlin war nämlich katastrophal) bei einer Mahl-
zeit von zwei Gängen an einer langen Tafel zusam-
menkam, bei der man nach dem Vorbild russischer
Truppen auch in Berlin den Männergesang pflegen
wollte, fand Zelter viele Goethe-Gedichte geeignet,
später verfasst der Dichter zum Teil eigens Verse
für diesen geselligen Kreis. Es sei hier nur an das
Bundeslied (In allen guten Stunden...), das Tischlied
(mich ergreift, ich weiß nicht wie, ein himmlisches
Behagen...)  zu  erinnern  oder  an  das  berühmte
Trinklied ergo bibamus (Hier sind wir versammelt
zu löblichem Tun...). Beim  ersten Mal – so ein Be-
richt vom April 1810 – habe man so laut und fürch-
terlich gesungen, daß die Dielen erklangen und die
Decke des langen Saals sich zu heben schien.
Und wer kennt nicht die schlichte Vertonung des Kö-
nigs in Thule? Durch diese volksliedhaften, gut sing-
baren Kompositionen werden Goethes  Gedichte in
weiten Kreisen der Bevölkerung bekannt. Von den
Aufführungen der Berliner Singakademie, von ihrem
endlich 1827 fertiggestellten großen neuen Gebäude
am  Kastanienwäldchen  hinter  der  Alten  Wache
gehen ständig Berichte nach Weimar.
1827 ist auch die Höhe der von Zelter betriebenen
Bach-Pflege  erreicht.  Schon  vorher  sind  in  der
Singakademie Bach’sche Motetten erklungen, nun
aber  überträgt  Zelter  seine  Begeisterung  für  die
Musik  des  universalen  deutschen  Komponisten
auch auf den großen deutschen Dichter.
Der läßt sich in Bad Berka vom dortigen Organisten
Schütz Bachkompostionen vorspielen und übermit-
telt seinem Freund nach Berlin im Juni 1827 den
ungeheuren Eindruck, den diese Musik auf ihn ge-
macht hatte, mit den großartigen, der Musik adä-
quaten Worten: wenn die ewige Harmonie sich mit
sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes
Busen kurz vor der Weltschöpfung möchte zugetra-
gen haben.
Als Krönung von Zelters Bemühungen um Bach ist
die am 11. März 1829 erfolgte erste Wiederauffüh-
rung der Matthäuspassion in der Singakademie an-
zusehen,  die  zu  dirigieren  Zelter  seinem
bedeutendsten und liebsten Schüler überlässt, Felix
Mendelssohn Bartholdy. Auch dieser, schon in Kin-
derjahren bei Goethe eingeführt, ist stets ein großer
Verehrer  des  Dichters  und  seiner  poetischen
Schöpfungen geblieben.
Von seinen Vertonungen Goethischer Gedichte soll
hier nur die 1831 begonnene Erste Walpurgisnacht,
Ballade  für  Chor  und  Orchester,  die  Ouvertüre
Meeresstille und glückliche Fahrt genannt werden,
ebenso die Liedkomposition Auf dem See und das
Zigeunerlied.
Unter  Goethes  Komponisten
seiner  Texte  verdient  noch
besonders  der  schon  ge-
nannte  Johann  Friedrich
Reichardt hervorgehoben zu
werden, der mit seinen Lied-
vertonungen  im  letzten  Jahr-
zehnt des 18. Jahrhunderts sehr zur
Volkstümlichkeit Goethes beigetragen hat.
Nicht zuletzt ist auch Karl-Friedrich Schinkel in
besonderer Weise mit  Zelter  verbunden  –  durch
dessen  Eigenschaft  als  Maurermeister  und  über
Schinkels Theaterneubau des Schauspielhauses am
Gendarmenmarkt und durch seine Bühnendekora-
tionen.
Belebende und  fördernde Anteilnahme sind  hier
ebenfalls  die  Grundpfeiler.  Es  ist  bekannt,  daß
62
Goethe durch sein schöpferisch nachvollziehendes
Vorstellungsvermögen  gerade  bildende  Künstler
anzuregen und zu ermuntern vermag, ihre eigenen
Ideen reicher darzulegen und manche seiner Emp-
fehlungen in ihre eigene Vorstellungswelt einzube-
ziehen.
Schinkel empfindet dies ganz stark, wie aus seinem
Brief an Christian Daniel Rauch vom November
1816 hervorgeht In Goethes Nähe wird dem Men-
schen eine Binde von den Augen genommen, man
versteht sich vollkommen mit ihm über die schwie-
rigsten Dinge, welche man allein sich nicht getraut
anzugreifen und man hat selbst eine Fülle von Ge-
danken darüber, die sein Wesen unwillkürlich aus
der Tiefe herauslockt.
Da Goethe ein lebenslanges Interesse
an Bauaufgaben pflegt, läßt er sich
auch von Schinkel besonders über
dessen Vorhaben in Berlin unter-
richten. 1817 berät er sich mit ihm
über  das  Relief  an  der  Neuen
Wache. 1820 wird er bei einem ge-
meinsamen Besuch von Schinkel, Rauch
und Friedrich Tieck (während die beiden letztge-
nannten dabei ihre Goethe-Büste modellieren) über
den Theaterneubau unterrichtet.
Goethe notiert in den Tag und Jahresheften, wie
fruchtbar für beide Seiten diese Begegnung ist: Es
hatte sich in den wenigen Tagen so viel Produktives
betreffend Anlage und Ausführung, Pläne und Vor-
bereitung, Belehrendes und Ergötzliches  zusam-
mengedrängt,  daß  die  Erinnerung  daran  immer
wieder neu belebend sich erweisen muß.
Und so entwirft er dann mit Schinkel gemeinsam
eine passende Inschrift für das Neue Schauspiel-
haus, der dann aber doch jene des Altertumsfor-
schers Aloys Hirt vorgezogen wird
Auch  über  die  Innenausstattung  und  sogar  über
räumliche Mängel, wie z.B. die Logen hinter dem
Balkon seien zu eng, zu niedrig, finster, ja ängstlich,
oder die Orchesterleute klagten über unbequeme
Eingänge und Treppen oder die Bildhauer bewit-
zelten die Reliefs, Gruppen, Figuren usw., darüber
wird ein genauer Briefwechsel, meist über Zelter
oder Schultz geführt.
Goethe erhält auch alle Pläne und Risse des Alten
Museums im Lustgarten sowie die Bauzeichnungen
der  Friedrichwerderschen  Kirche,  die  der  greise
Dichter mit den Worten kommentiert: Ich wünschte
wirklich darin einer Predigt beizuwohnen, welches
viel gesagt ist!
(an Zelter, 12. Februar 1829)
Am 10. Februar 1821 findet in Anwesenheit des
Hofes die Einweihung des Konzertsaals und der
Festsäle im Schauspielhaus statt. Das eigentliche
Theater wird am 26. Mai mit einem Eröffnungspro-
log,  den  Goethe eigens zu dem Anlaß  gedichtet
hatte, festlich seiner Bestimmung übergeben. Vor-
getragen wurde der Prolog vor einem Prospekt, der
den Gendarmenmarkt mit dem Schauspielhaus zwi-
schen den Türmen des Deutschen und des Franzö-
sischen Domes zeigte.
Goethes Dank an Schinkel für die sich in seiner
Architektur aussprechende humanisierende Bau-
gesinnung, die der eigenen entspricht, findet sich in
den Schlußversen des Prologs zur Eröffnung des
Schauspielhauses 1821 in der mahnenden Anrede
an das versammelte Publikum:
So schmücket sittlich nun den geweihten Saal
Und fühlt euch groß im herrlichsten Lokal
Denn euretwegen hat der Architekt
Mit hohem Geist so edlen Raum bezweckt
Das Ebenmaß bedächtig abgezollt
Daß ihr euch selbst geregelt fühlen sollt.
Auf den Prolog folgte Goethes Schauspiel Iphige-
nie auf Tauris.
Von gleicher Herzlichkeit wie zu Schin-
kel ist gleich von Anfang an Goethes
Verhältnis  zu  Christian  Daniel
Rauch. Auch hier seien nur wenige
Fakten in Erinnerung gerufen. Bei
seinem  Besuch  mit  Schinkel  und
Tieck  in  Weimar  1820  modelliert
Rauch seine berühmte à-tempo-Büste, die
mit ihrem leicht zur Seite gedrehten Kopf wohl die
bekannteste,  weil  lebensvollste  und  wahrheits-
63
getreueste Wiedergabe des Goethe’schen Antlitzes
darstellt.
Die  bereits  erwähnten  Bildhauer
Friedrich Tieck und Gottfried Scha-
dow stehen ebenfalls in einem pro-
duktiven  Verhältnis  zu  Goethe.
War  die  Beziehung  zu  Schadow
ursprünglich ablehnend, so wandelt
sie sich doch im Lauf der Jahre.
Zu  den künstlerischen  und zugleich  technischen
Leistungen, die Goethe hier beeindrucken, gehört
auch die vom Stadtbaumeister Christian Gottlieb
Cantian vor dem Alten Museum aufgestellte Gra-
nitschale, wie Goethes Aufsatz von 1828 Granitar-
beiten in Berlin beweist.
Auf dem sich überschneidenden Gebiet von Wis-
senschaft, Technik und  Volksbildung seien auch
noch zwei Männer genannt, die weiter Wirkendes
und Bleibendes geleistet haben, indem sie den Fort-
schritt auf praktisch technischem Gebiet in die Aus-
bildung junger Menschen integrierten, was Goethe
außerordentlichen Respekt abnötigte.
Es handelt sich um Christian Wilhelm
Beuth als Begründer des Gewerbein-
stituts. Ihm vertraut Goethe in sei-
nen  letzten  Lebenswochen, am  1.
Februar 1832, eine in die Zukunft
gehende  Bitte  an,  nämlich für  die
Herstellung künstlicher plastischer ana-
tomischer Lehrpräparate von Organen und
Körperteilen zu sorgen, wofür Beuth entsprechende
Institutionen und Künstler interessieren sollte.
Ich habe nicht lange mehr Zeit, schreibt Goethe,
und muß daher eilen, das Mögliche zu tun, anderes
zuverlässigen  Freundin  anzuvertrauen.  Ich  mag
mich  aber  umsehen,  wo  ich  will,  außer  Berlin
scheint mir das Gelingen unmöglich. — Wie sehr
er  von  der  Wichtigkeit  dieses Anliegens  durch-
drungen ist, bezeugt der Ausschnitt über die plasti-
sche  Anatomie  im  dritten  Buch  von Wilhelm
Meisters  Wanderjahren,  auch  dieses  wieder  ein
Beispiel, wie Tageswissen in einer Dichtung seinen
Platz findet.
Als zweites Beispiel neben Beuth ist Karl Friedrich
Klöden zu nennen, dessen mit Stichen Daniel Cho-
dowieckis versehenes Buch Von Berlin nach Berlin
manchem bekannt sein wird. Klöden
berichtet darin von seiner Leitung
der  ersten  Gewerbeschule.
Diese, eine hohe Allgemein-
bildung zur Bewältigung der
Aufgaben  der  industriellen
Revolution vermittelnde Schu-
le, wird das Muster eines neuen
Schultyps,  der  Realschule,  in  der
man sich, statt auf die alten Sprachen wie im her-
kömmlichen Gymnasium, auf die lebenden und auf
die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer
konzentriert. Ihr Programm zu Prüfungen an den
Gewerbeschulen  wird  1829  von  Goethe  lobend
besprochen.
Zum Schluß möchte ich noch auf einige der zahl-
reichen und vielfältigen wissenschaftlichen Kon-
takte  eingehen,  die  sich  zwischen  Goethe  und
Berliner Gelehrten und wissenschaftlichen Institu-
tionen ergeben haben.
Es steht außer Zweifel, daß Goethes Streben in den
späteren Lebensjahren darauf gerichtet ist, gerade
auch für seine naturwissenschaftlichen Arbeiten auf
den Gebieten der Optik, der Farbenlehre, der Ana-
tomie, Zoologie, Botanik, Geologie und Mineralo-
gie Anerkennung zu finden, die ihm jedoch von den
meisten Fachgelehrten versagt bleibt.
Als 1806 Preußen seine Universität Halle verliert
(Halle wurde bekanntlich dem Königreich Westfa-
len zugeschlagen), kommen viele Professoren von
dort nach Berlin und es entsteht sehr schnell der
Plan einer Universitätsgründung.
Der Altphilologe Friedrich August Wolf, der die
Philologie von der Theologie eman-
zipiert und die eigentliche Al-
tertumswissenschaft  erst
begründet hat, dem Goethe
freundschaftlich verbunden
ist und dem er viel für sein
eigenes  Antike-Verständnis
verdankt, hat schon 1807 eine
diesbezügliche  Denkschrift  bei
Friedrich Wilhelm III. eingereicht und Wilhelm von
Humboldts Namen an die erste Stelle seiner Vor-
schlagsliste gesetzt.
Zelter schreibt dazu an Goethe am 23 August 1809:
Wolf hat einen Plan gemacht, statt der alten Uni-
versität Halle eine neue preußische hier am Orte
zu etablieren und solche womöglich in der Akade-
mie der Wissenschaften zu verbinden.
Aber erst 1809, als Wilhelm von Humboldt zum
Leiter des preußischen Unterrichtswesens berufen
64
wird, erreicht dieser die Gründungsgenehmigung
und dazu die Schenkung des seit 1802 leerstehen-
den Palais des verstorbenen Prinzen Heinrich als
Universitätsgebäude.
Humboldt, auch im Salon der Henriette Herz als
junger  Mann  zum  Verehrer  Goethes  geworden,
steht seit 1794 in engem Kontakt mit Goethe und
bleibt bis zu dessen Lebensende einer seiner ver-
trauten jungen Freunde, der es sich sogar erlauben
kann, den Herrn Geheimrat in seinen Briefen mit
Liebster Goethe oder mein innig geliebter Freund
anzureden.
Wilhelm  von  Humboldt,  das
sei  nicht  vergessen  anzu-
merken, ist auch der Adres-
sat  von  Goethes  letztem
Brief  vom  17.  März  1832,
fünf  Tage  vor  seinem  Tode
geschrieben, geht dieser somit
als Vermächtnis auch nach Berlin.
Er enthält die Antwort auf Humboldts Bitte, das
Faust-Manuskript doch nicht einzusiegeln, sondern
den  Freunden  schon  jetzt  den  Lesegenuß  zu
gönnen.
Goethe aber lehnt es ab, weil für diese sehr ernsten
Scherze die Zeit noch nicht gekommen sei, da ver-
wirrende Lehre zu verwirrtem Handeln über die
Welt walte. Und er schließt mit dem Bekenntnis und
der Aufforderung zur Steigerung der eigenen Per-
sönlichkeit, der individuellen Existenz.
Genauso vertraut wie zu Wilhelm von Humboldt ist
auch  Goethes  Verhältnis  zu  dessen  jüngerem
Bruder Alexander. 1794 hatte der junge Bergrat bei
seinem Bruder in Jena zu Besuch geweilt und es
hatte  sich  eine  tiefe  gegenseitige  Beziehung
zwischen ihm und Goethe ergeben.
Goethe stellt diese Beziehung in einem Brief an den
Berliner  Verleger  Unger  einmal  so  dar: Die
Gegenwart  des  Herrn  Bergrat  machte  mir  eine
ganz besondere Epoche, indem er alles in Bewe-
gung setzt, was mich von vielen Seiten interessieren
kann.
Auch der junge Humboldt bekennt, daß das Jenaer
Jahr und der Gedankenaustausch mit Goethe auf
seine geistige Entwicklung sehr stark eingewirkt
habe, nach seiner Rückkehr von
einer Süd- und Mittelamerika-
Expedition finden wir in dem
Brief an Goethe vom 6. Feb-
ruar 1806, in dem er die beab-
sichtigte  Übersendung  seiner
mit Bonpland verfaßten Ideen zu
einer Geographie der Pflanzen ankündigt, den schö-
nen Satz: In den einsamen Wäldern am Amazonen-
strom  erfreute  mich  oft  der  Gedanke,  Ihnen  die
Erstlinge dieser Reise widmen zu dürfen nach Art
der antiken Weihgeschenke!
Besonders schätzt Goethe den archäologisch und
zeichnerisch begabten Architekten Wilhelm Zahn,
der Zeichnungen von Wandmalereien aus Pompeji
vorlegen kann und dem die Benennung eines der
schönsten  pompejanischen  Häuser  mit  Casa  di
Goethe zu danken ist.
65
Zu Goethes Besuchern oder Korrespon-
denzpartnern  gehören  ferner  der
Theologe  und  Philosoph  Friedrich
Schleiermacher,  der  Verfasser  der
Römischen Geschichte Barthold Georg
Niebuhr und der Althistoriker  Friedrich
Wilken.
Nicht  vergessen  sei  auch  der  große  Orientalist
Heinrich  Friedrich  von  Diez,  dessen  wertvoller
Nachlaß in der Berliner Staatsbibliothek auf-
bewahrt wird, und dem Goethe bedeutende
Anregungen und Belehrungen für seinen
West-östlichen Divan verdankt. Verbun-
den mit Goethe ist auch der Philosoph
Johann Gottlieb Fichte, mit dessen An-
schauung er vielfach übereinstimmt und
den er gern nach dem Atheismusstreit an der
Universität Jena gehalten hätte.
In der pädagogischen Provinz in Wilhelm Meisters
Wanderjahren reflektiert er in der Lehre von der
notwendigen  Einordnung  des  individuellen
Lebens in die Gesellschaft unter anderem
auch Fichtes philosophische Grundsätze.
Auch Wilhelm Friedrich Hegel ist mit
Goethe seit seiner Lehrtätigkeit in Jena
1801-1807 gut bekannt, Goethes Urphä-
nomen und Hegels Idee sind einander ent-
sprechende Begriffe. Beide verbindet auch
Hegels Eingehen auf Goethes Farbenlehre.
Neben  vielen  anderen  hervorragenden  Männern
ihres Fachs seien auch noch zwei berühmte Ärzte
genannt: Werner Christoph Wilhelm Hufeland, als
Sohn  des Weimarer Hofarztes auch  einige  Jahre
Goethes behandelnder Arzt, ist leitender Mediziner
der Charité und königlicher Leibarzt in Berlin ge-
worden.  Sein  Kollege  Johann
Christoph Reil, nach der Schlie-
ßung der Hallenser Universität
1806 auch in Berlin tätig, ist
bei seiner ärztlichen Tätigkeit
in den Lazaretten nach der Völ-
kerschlacht bei Leipzig 1813 an
Typhus verstorben. Mit Goethe war
er schon als Badearzt in Halle wie auch durch seine
dortige Begründung des Theaters bekannt, wozu
der  Dichter  1811  den  Prolog Was  wir  bringen
geschrieben hat.
Last but not least sei der große Anteil von Berliner
Verlegern  an  der  fruchtbaren  Wechselbeziehung
zwischen Goethe  und  Berlin  angeführt.  Sie  ma-
chen, zum Teil in Erstdrucken,
Goethes Werk dem Lesepubli-
kum bekannt. Um nur die wich-
tigsten  zu  nennen:  Bei Unger
erscheint  1789  Das Römische
Carneval, später in die Italieni-
sche Reise aufgenommen, dann
7 Bände Goethes Neue Schrif-
ten und 1796 der Wilhelm Meis-
ter.  Vieweg  verlegt  1797  den
Erstdruck  von Hermann  und
Dorothea, der ein Riesenerfolg
wird, so daß Goethe zufrieden
an Aloys Hirt schreibt:»Berlin
ist  vielleicht  der  einzige  Ort,
von dem man sagen kann, dass
ein  Publikum  beisammen  sei,
und umso mehr muss es einen
Autor interessieren, wenn er daselbst gut aufge-
nommen wird.«
Nicht  zu  vergessen  auch  der  berüchtigte  Nach-
drucker Friedrich Himburg, der zwar ohne Hono-
rarzahlung an  den  Dichter,  doch  aber schon seit
1775  für  die  Verbreitung  seiner  Werke  gesorgt
hatte. Dem gesamten Verhältnis, das zu einer tiefen
Verbundenheit mit unserer Stadt geführt hatte, gibt
Goethe Ausdruck in einem anfangs bereits zitierten
Brief vom 15. März 1826 an Friedrich Wilhelm III.
anläßlich  des erteilten  Privilegs gegen Nachdru-
cker, wo er sich über Berlin und sich Rechenschaft
gibt: Männer, welche (...) das Treffliche vollbrin-
gen, solche standen von früh an mit mir in trauli-
chen  Verhältnissen  und  durch  fortdauernde
Wechselwirkung ist eine geistige Mitbürgerschaft
eingeleitet, welche über Zeit und Ort hinaus ein ge-
genseitiges Glück befördert.
Auf einer  geistigen  Mitbürger-
schaft beruhte sein Verhältnis zu
Berlin,  der  persönlichen  hat  er
sich, selbst besuchsweise, immer
wieder  entzogen,  trotz  des
manchmal geäußerten Wunsches,
hinzukommen. Am 19. Novem-
ber  1820  schreibt  er: Mein
Wunsch Berlin zu besuchen (...)
die Königsstadt  zu  schauen, zu
erkennen  und  zu  verehren (...),
dieses Gefühl ist zu einer Art Un-
geduld  geworden,  daß,  wenn
Fausts Mantel in meinem Besitz
wäre,  sie  mich  augenblicklich
auffliegen sehen.
66
Aber der Mantel ist  nicht in seinem Besitz. Von
einer weiteren Berlinvisite mag ihn eher eine bei-
nahe ans Existenzielle rührende Faustische Vision
der Großstadt abgehalten haben: Des Erdgeists sau-
sendes Weben, die menschliches Vermögen eigent-
lich  übersteigende  unablässige  Bewegung  und
Tätigkeit, die hier Wirklichkeit geworden war.
Rational läßt sich so etwas nicht erklären. Entschei-
dend aber bleibt, daß trotz oder gerade wegen aller
Widersprüchlichkeiten das Verhältnis Goethes zu
Berlin für beide Seiten fruchtbar war und der Kunst
und der Wissenschaft ihrer Zeit einen bis heute gül-
tigen Stempel aufgeprägt haben.
67
Man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begüns-
tigten  gepriesen, auch will ich mich nicht beklagen und  den
Gang meines  Lebens nicht schelten. Allein im  Grunde ist  es
nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen,
daß ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen ei-
gentliches Behagen gehabt.
Goethe zu Eckermann, 27.Januar 1824
Goethes zahlreiche, oft akut-bedrohliche, oft auch
langwierige und immer wiederkehrende Erkran-
kungen  sind  ein  lebenslanges Thema  in  seinen
eigenen Äußerungen, Gesprächen und Briefkon-
takten mit seinem Umfeld. Die wichtigsten Diag-
nosen, die uns dadurch überkommen sind, seien
hier wiedergegeben: Lebensbedrohliche Risikoge-
burt; Masern, Windpocken, echte Pocken; Hals-
entzündungen, katarrhalische Fieber; zweimaliger
Blutsturz; Gelenk- und Muskelrheumatismus; Ha-
bituelle Obstipation; Nierensteine; Zahneiterun-
gen,  Zahnverlust;  Hypertonie,  Arteriosklerose;
Schwindelanfälle, Gedächtnisverlust; zwei Herz-
infarkte; Hypochondrie, Depression; Polyarthritis;
phasenweise Alkoholismus.
Die erste lebensbedrohliche Krise ist überliefert
aus der Leipziger Zeit, als der Jugendfreund Beh-
risch 1767 nach Dessau versetzt wird, Goethes
Beziehungen zu dem geliebten Kätchen Schön-
kopf zusammenbrechen und ein Juraexamen be-
vorsteht. Eines  Nachts  wachte  ich  mit  einem
heftigen Blutsturz auf, und hatte noch soviel Kraft
und Besinnung, meinen Stubennachbar zu wecken.
Doktor  Reichel  wurde  gerufen,  der  mir  aufs
freundlichste hülfreich ward, und so schwankte ich
mehrere Tage zwischen Leben und Tod.
Ob die Krankheit in dieser akuten Phase wirklich
lebensbedrohlich war, wissen wir nicht; daß sich
aber die Vorstellung einer Todesnähe bei Goethe
traumatisch festgesetzt  hat, lässt  sich über  sein
ganzes Leben immer wieder beobachten. Bei den
ersten Anzeichen der Stabilisierung seines Zustan-
des  bricht  er  seinen  Aufenthalt  endgültig  ab.
Frankfurt  erreicht  er als  Schiffbrüchiger,  als
Studienabbrecher,  körperlich  krank,  vor  allem
aber  seelisch  verwundet. Der enttäuschte Vater
findet einen Kränkling vor.
Es beginnt eine einein-
halbjährige  Rekonva-
leszenz im Elternhaus,
mit  mehreren,  erneut
sehr dramatisch erleb-
ten Rückfällen. In sei-
nem  Giebelzimmer
verbringt  er Tage des
Hindämmerns  und
immer  wiederkehren-
der  Rezidive  seiner
seelischen und körper-
lichen Probleme. Einem
unerklärlichen, schlau-
blickenden,  sprechen-
den, übrigens abstrusen
Arzt gelingt es, mit einer
geheimnisvollen Arznei
die  schwere  Verstop-
fung  zu  durchbrechen.
Als der ungeduldig ge-
wordene  Vater  auf  die
Fortsetzung  des  Studi-
ums drängt und Goethe
im  März  1770  nach
Straßburg  aufbricht,
fühlt er meine Gesund-
heit,  noch  mehr  aber
meinen  jugendlichen
Mut wieder hergestellt.
Als er sich 1775 in das problematische Liebesver-
hältnis mit der Frankfurter Bankierstochter Lili
Schönemann  bis  zur  Depression  verstrickt,
schreibt er an seine vertraute Brieffreundin, Au-
guste Gräfin zu Stolberg: O wenn ich jetzt nicht
Dramas schriebe ich ging zu Grund! Dies ist bei
Goethe  ein  wichtiges,  häufig  wiederkehrendes
Phänomen: Schon nach dem Werther-Erlebnis hat
er seine poetische Kreativität als »altes Hausmit-
tel« bezeichnet und sich dadurch aus »einem stür-
mischen Elemente« gerettet gefühlt.
Daß er sich öfter aus körperlichen Misshelligkei-
ten gewissermaßen frei schreibt, läßt sich bis ins
hohe Alter verfolgen.
2000    
Gesundheit und Krankheit bei Goethe
Prof. Dr. Volker Hesse (Berlin)
Was nützt mir der ganzen Erde Geld?
Kein kranker Mann genießt die Welt
Gesundheit und Krankheit bei Goethe
Dr. Hubert Heilemann (Dresden)
Gesteigertes  Übelbefinden, heftige Schmerzen am
Herzen, um 11 Uhr zur Ader gelassen…
Goethe als Patient
68
Prof. Dr. Manfred Heuser (München)
Farben – die Seele des Lichts
Die Newton-Kritik
– eine paranoide Psychose Goethes?
Prof. Dr. Wolfgang Schad (Witten-Herdecke)
Seelenleiden zu heilen vermag der Verstand
nichts,
die entschlossene Tätigkeit hingegen alles…
Goethe als Psychiater
Goethes 251. Geburtstag in Frau Schuberts
Garten
Musikalisch-literarisches Programm
Seit 1776 führt er 57 Jahre lang Tagebuch, bis
wenige Tage vor seinem Tode. Akribisch notiert
er dort u.v.a. seine körperlichen Zustände und
seine Stimmungen. Bereits am Anfang seines
Weimarer Aufenthaltes lesen wir von andauern-
dem Zahnweh, verdorbenem Magen, von wie-
derholten  Fiebern,  Bronchialkatarrhen  und
rheumatischen Schmerzen in Muskeln und Ge-
lenken, von Herzklopfen und fliegenden Hitzen.
Die ständig gestörte Verdauung wird im Alltag
zum Dauerproblem, ebenso die Zahneiterungen,
die zu dieser Zeit beginnen und ihn bis ins Alter
begleiten, bis er seine Zähne verlor. Die Tage-
buchnotizen lassen sich beliebig auffüllen durch
klagende Briefe an die Geliebte Charlotte von
Stein und an Freunde wie Lavater, Merck, Kne-
bel  und  andere.  Sie  alle  zeigen,  wie  anfällig
Goethe sich fühlt, wie übersensibel, wie hypo-
chondrisch er auf körperliche Beschwerden rea-
giert.
In den 1780-er Jahren, unter der Last seiner Wei-
marer Ämter als Kammerpräsident, in der Berg-
werkskommission und in der Oberaufsicht über
die wissenschaftlichen und Kunstanstalten, lesen
wir im Tagebuch und in seinen Briefen immer
wieder  von  Zahnflüssen,  Halsentzündungen,
rheumatischen Beschwerden, Magenverstimmun-
gen  und  ähnlichen  Alltagsbeschwerden: mein
Zahnweh ist leidlich, doch hab ich mich bei Hofe
entschuldigt; (...) mein Hals hat sich diese Nacht
nicht verbessert, ich will versuchen, zuhause zu
bleiben; (...) ich darf es nicht wagen, auszuge-
hen«; »man sieht, daß allerlei im Körper stickt
das nicht weiß, wohin es sich resolvieren will.
Sein Arzt in dieser Zeit ist bis 1793 der damals
noch junge, später wohl berühmteste Arzt seiner
Zeit, Christoph Wilhelm Hufeland. Er überzeugt
nicht nur Goethe durch seine Vorstellung von
einer dem Körper innewohnenden Lebenskraft
und von der Förderung eines gesunden und lan-
gen Lebens durch die vernünftige Regulierung
der  menschlichen  Grundbedürfnisse  Essen,
Trinken, Schlaf, Bewegung, Ruhe etc., die sog.
Makrobiotik. Hufeland schickt Goethe 1785 zu
seiner ersten Badekur nach Karlsbad – ihr wer-
den vierundzwanzig weitere Badereisen folgen:
Das Karlsbader Schwefelwasser fördert insbe-
sondere  Goethes  chronisch  schlechte  Ver-
dauung – bis an sein Lebensende wird er Wasser
vom dortigen Kreuzbrunnen im Hause haben.
69
Aus der zweiten Badekur in Karlsbad, im Septem-
ber 1786, bricht Goethe heimlich nach Rom auf,
um dort bis zum Juni 1788 zu bleiben. Nie wieder
hat er sich so gesund gefühlt wie dort; das Klima
bekommt ihm ausgezeichnet, wo man den ganzen
Tag nicht an seinen Körper denkt, sondern wo es
einem gleich wohl ist, notiert er bereits nach we-
nigen Tagen in Vicenza für Frau von Stein. Gegen
Ende seines Aufenthaltes schreibt er ihr aus Rom,
er hätte die ganze Zeit keine Empfindung aller der
Übel gehabt, die mich im Norden peinigten« und
daß er »mit eben derselben Constitution hier wohl
und munter lebe, so sehr als ich dort litt.
Im Jahr seiner Rückkehr 1788 nimmt er die 23-
jährige Christiane Vulpius zu sich, begegnet erst-
mals Friedrich Schiller und löst sich von Frau von
Stein. Er steht an der Schwelle zu einer neuen Le-
bensphase  –  und  beginnt  erneut  an  den  alten
Übeln zu leiden und sich entsprechend zu verhal-
ten. Da ich mich einmal entschlossen habe krank
zu sein, so übt auch der Medikus (…) sein despo-
tisches Recht aus, schreibt er im März 1800 an
Schiller, durch dessen Freundschaft er andererseits
seit 1794 den für beide so ungeheuer produktiven
Aufschwung erlebt.
Anfang Januar 1801 erkrankt er an der sogenann-
ten Blatterrose, die medizinisch damals wie heute
als Erysipel bezeichnet wird. Unter gleichzeitigem
hohem Fieber mit einer zeitweisen Bewußtlosig-
keit  entwickelt sich  im  Bereich  der linken Ge-
sichtshälfte  eine  hochentzündliche,  teilweise
blasenbildende  Schwellung,  die  auf  das  linke
Auge, den Gaumen, den Rachen und den Kehl-
kopf übergreift. Krampfhusten und Erstickungs-
anfälle führen dazu, daß er zwei Tage nicht im
Bett bleiben kann, um nicht zu ersticken. Neun
Tage und neun Nächte dauert dieser Zustand, nach
dem endgültigen Abklingen bleibt er monatelang
krank, grämlich und reizbar.
Im Februar 1805 erkrankt Goethe erneut ernstlich,
mit wochenlangen Nierenkoliken unter gleichzei-
tigen Fieberschüben und erheblichen Schmerzen;
die Koliken werden Goethe noch jahrelang quä-
len. Zweimal nachts muß Christiane den ganzen
Leib mit scharfem Spiritus einreiben,  innerlich
werden alte, bei Harnwegserkrankungen bewährte
pflanzliche Hausmittel wie Brennessel und Bären-
traube, aber auch Opium und Bilsenkraut gegen
die Schmerzen gegeben. Zudem muß er reiten, um
den vermuteten Nierenstein in Bewegung zu brin-
gen.
Nach der Schlacht von Austerlitz, in der Napoleon
vernichtend die Österreicher und Russen schlägt,
soll Goethe gesagt haben: Wenn mir doch der liebe
Gott eine von den Russennieren schenken wollte,
die zu Austerlitz gefallen sind!
Noch während der Rekonvaleszenz des Steinlei-
dens bricht nach langer, wirklich schwerer Krank-
heit sein Freund Schil-
ler  zusammen  und
quält sich 9 Tage lang
bis zu seinem Tode am
9. Mai 1805 im Alter
von  45  Jahren.  Man
wagt  zunächst  nicht,
es  Goethe  zu  sagen;
als er es erfährt, rea-
giert  er  mit  einem
schweren  Rückfall.
Unleidlicher Schmerz
ergriff  mich,  und  da
mich  körperliche  Leiden  von  jeglicher  Gesell-
schaft trennten, war ich in traurigster Einsamkeit
befangen. Meine Tagebücher melden nichts von
jener Zeit; die weißen Blätter deuten auf einen
hohlen Zustand. Dieser dauert, wie das  nahezu
stumme Tagebuch ausweist, sieben Monate.
Goethes übersensible Einstellung, sich von Krank-
heit und Tod ihm nahestehender Menschen fern-
zuhalten, ist mehrfach aus seinem Leben bezeugt.
1816, während Christianes achttägigem Sterben in
so fürchterlichen Krämpfen, daß die Mägde da-
vonliefen, bleibt er in seinen hinteren Zimmern,
arbeitet, experimentiert und diktiert Post. Goethe
weiß von dieser seiner Tendenz, sich durch Bei-
hülfen, die uns die Kultur anbietet, zusammen zu
nehmen, um sich von Kummer und Trauer abzu-
lenken, bezahlt dies aber fast jedesmal mit einem
vermehrten Ausbruch seiner körperlichen Übel.
Am deutlichsten wird dies nach dem plötzlichen
Tod seines Sohnes August im Oktober 1830 auf
der  Reise  in  Rom,  den  er  zunächst  äußerlich
Dr. Hartmut Schmidt (Wetzlar)
Ich liebe zu tafeln am lustigen Ort
Essen und Trinken bei Goethe
Prof. Dr. Manfred Bühring (Berlin)
Das Wahre erscheint nicht unmittelbar…
Goethe Anschauen in der Medizin
70
beherrscht zur Kenntnis nimmt, dann aber, einige
Wochen  später mit dem  zweiten Blutsturz  seines
Lebens reagiert.
Mit seinen Ärzten versteht er sich gut; zu seinen
Hausärzten Wilhelm Huschke wie auch später zu
Wilhelm  Rehbein  –  beide  sind  großherzogliche
Leibärzte – hat er großes Vertrauen, wenngleich er
sie vielfach beschimpft und ihre Anordnungen gele-
gentlich hintergeht.
Als sich der 66-jährige 1815 in Heidelberg aus der
Liebesbeziehung mit Marianne von Willemer ver-
abschiedet, fingen aber die bisher nur drohenden
Übel  an,  förmlich  aufzubrechen. Es  entstand,  so
fährt  Goethe  fort, ein  Brustweh,  das  sich  fast  in
Herzweh verwandelt hätte, aber dies sei, so läßt er
sich von dem Heidelberger Professor Nägele beru-
higen, eine  natürliche  Folge  der  Heidelberger
Zugluft und veränderlichen Schloßtemperatur.
Am 11. Februar 1823, im Alter von 74 Jahren, er-
krankt Goethe akut so schwer, daß man bereits sei-
nen  Tod  meldet.  Starke  Schmerzen  in  der
Herzgegend, Beklemmung auf der Brust, hochgra-
diges  Angstgefühl,  Atemnot,  später  Fieber  und
Ödeme an beiden Füßen –Symptome eines Herzin-
farktes.
Huschke  und  Rehbein  können  dies  damals  nicht
wissen, sie behandeln symptomatisch mit Aderlass,
Blutegel, Meerrettich-Kompressen und Arnika-Tee.
Goethe hat hierzu wenig Vertrauen: Probiert nur
immer, sagt er zu seinen Ärzten, der Tod steht in
allen Ecken und breitet seine Arme nach mir aus,
aber laßt euch nicht stören.
Gegen die Hilflosigkeit der Ärzte erhebt er dieses
Mal bittere Klage, beschimpft sie als Hundsfötter
und wehrt sich gegen ihre Verordnungen: wenn ich
nun doch sterben soll, so will ich auf meine eigene
Weise  sterben. Tatsächlich  erholt  er  sich  relativ
bald, ist sich nach dieser Krise aber im Klaren, daß
ihm die nun folgenden Jahre nur  geschenkt sind.
Den nahezu gleichen Zustand mit schwerem Husten
und  Herzschmerzen  erlebt  er  noch  einmal  im
November des gleichen Jahres, in tiefer Depression
nach  dem  Verzicht  auf  die  junge  Ulrike  von
Levetzow in Marienbad. Die relativ schnelle Erho-
lung von diesem Zustand wird sicher zu recht mit
dem  beruhigenden  Besuch  seines Altersfreundes
Carl- Friedrich Zelter gesehen, dem Goethe mehr-
fach die Marienbader Elegie vorliest und dem er
noch ein Jahr später davon schreibt: Wenn das, was
du als Grund meiner Krankheit erkanntest, nun, wie
es den Anschein hat, sich als das Element meines
Wohlbefindens manifestieren wird, so geht alles gut.
Zu Goethes großem Leidwesen verstirbt
1825  sein  langjähriger,  sehr  geliebter
Hausarzt Hofrat Rehbein. An seine Stelle
kommt der junge, erst 28-jährige Dr. Carl
Vogel,  der  Goethe  bis  zu  seinem  Tode
nicht nur bestens ärztlich betreut, sondern
wie seine Vorgänger zur Vertrauensperson
wird. Daß ich mich jetzt so gut halte, sagt
Goethe  zu  Eckermann, verdanke  ich
Vogel; ohne ihn wäre ich längst abgefah-
ren. Vogel ist zum Arzt wie geboren und
überhaupt einer der genialsten Menschen,
die mir je vorgekommen sind.
Bis zuletzt arbeitet er am vierten Teil von Dichtung
und Wahrheit und vollendet im Jahr vor seinem Tod
den zweiten Teil seines Faust. Die Beschreibung sei-
nes  Hausarztes  Vogel  über Die  letzte  Krankheit
Goethe’s im Winter 1831/32 dokumentiert eindrück-
lich den dramatischen Verlauf des offensichtlichen
Herztodes, der schließlich – in der Beschreibung Vo-
gels – ungemein sanft zu Ende gegangen sei.
Prof. Dr. Heinz Schott (Bonn)
Den Sinnen hast Du dann zu trauen,
kein Falsches lassen sie Dich schauen…
Medizin der Goethezeit
Dr. Gunhild Pörksen (Freiburg)
Die Nacht im Sessel sitzend zugebracht…
Gesundheit und Krankheit
in Goethes Tagebüchern und Briefen
71
Hatte Goethe, der sich mit dem Wesen der Natur
beschäftigte, der suchte, was die Welt im Innersten
zusammenhält, der als Staatsmann, Theaterdirektor
und Dichter sich in einem Zustand beständiger Be-
schäftigung  befand,  überhaupt  Zeit  für  Kinder?
Waren sie Teil seines Lebensplanes, seiner Emotio-
nen, seiner Fürsorge und Objekte liebevoller Zunei-
gung?
Wie  wir  aus zeitgenössischen  Berichten  wissen,
fühlt sich bereits der junge Goethe zu Kindern hin-
gezogen. So wissen wir von seiner Zuneigung zu
den Kindern seiner Freunde und Bekannten, u.a. zu
Mercks Kindern  in  Darmstadt,  den  Kindern  des
Amtmanns Buff in Wetzlar, Charlottes Geschwister
sowie den Kindern Wielands in Weimar.
Nach  der  Übersiede-
lung  nach  Weimar
1775 erlebt er den har-
monischen  Familien-
kreis des Schriftstellers
Christoph Martin Wie-
land.  Der  ledige  Goe-
the fühlt  sich Kindern
so eng verbunden, daß
er für den Nachwuchs
der  Freunde  eigens
Kinderfeste  in  seinem
Gartenhaus organisiert
und  gestaltet.  Auch
führt  er  Geschicklich-
keitsspiele und sportli-
che  Übungen  in
Weimar  ein;  etwa  das
Schlittschuhlaufen.
Dies  entspricht  seiner
Vorstellung von einem natürlichen Leben und einer
natürlichen Erziehung.
In  Weimar  nimmt  der  unverheiratete
Goethe zwei Pflegesöhne in sein Haus auf
– zunächst den 12 jährigen Schweizer Hir-
tenknaben Peter im Baumgarten und später
den 11 Jahre alten, Friedrich, genannt Fritz,
den jüngsten Sohn der Frau von Stein.
Die Bemühungen Goethes um seine Pfle-
gesöhne sind in ihrem Ansatz sehr emotio-
nal und z.T. rührend. Während der engen
Bindung an Charlotte von  Stein  kann  er
unter den gegebenen Bedingungen in die-
ser  Lebensperiode  nicht  an  die
Gründung einer eigenen Familie
denken.
Die Betreuung des 12-jährigen
Peter  im  Baumgarten  gestaltet
sich jedoch zunahmend problema-
tisch. Peter gliedert sich nur schwer
ein,  raucht  Pfeife  und  nimmt  seinen
Hund mit ins Bett. Auch malt er einmal die Büste
Wielands mit Tinte an. Nach zwei Jahren schickt
Goethe ihn 1779 nach  Ilmenau, damit er den Jäger-
beruf erlernen soll.  
Frau  von Stein vertraut ihm ihren jüngsten Sohn
Fritz  an, der  drei  Jahre  lang  –  von  1783  bis  zur
Italienreise – in Goethes Haus wohnen wird. Goethe
sieht ihn als ein Liebespfand der Frau von Stein. Er
schreibt ihr 1783: Du weißt nicht, wie sehr ich Dich
auch  in  ihm liebe  und wie ich mich freue,  einen
Pfand von dir zu haben. Er nimmt Fritz auf seinen
Reisen mit, um ihn durch Anschauung zu bilden.
Friedrich  von  Stein  selbst  bezeichnet
später in der Gesamtrückschau die Er-
ziehungsphase bei Goethe als die glück-
lichste Periode seiner Jugend.
In Wilhelm Meisters Wanderjahren äu-
ßert er seine Ansichten über die Aufgabe
der Erziehung: Wohlgeborene, gesunde
Kinder bringen viel mit: die Natur hat
jedem alles gegeben, was er für Zeit und
Dauer nötig hatte, dieses zu  e n t w i k-
k  e  l  n  ist  unsere  Pflicht,  öfters  ent-
wickelt´s sich besser von selbst.
2001
Goethe – Jugend und Alter
Prof. Dr Henrik Birus (München)
Im Gegenwärtigen Vergangenes...
Die Wiederbegegnung des alten
mit dem jungen Goethe
Die neuen Leiden des jungen W. (1976)
Filmvorführung
Anschließend: Diskussion mit dem Autor
Ulrich Plenzdorf: Rückblick nach 30 Jahren
Prof. Dr. Volker Hesse (Berlin)
Meinem Herzen sind die Kinder am nächsten
Goethes Beziehungen zu Kindern
und Heranwachsenden
72
Goethes Erziehungsmaximen beinhalten vor allem
folgende Grundsätze:
1. Heranführen des Kindes an die Dinge der Wirklichkeit.
2. Die Bildung den Anlagen entsprechend zu gestalten.
3. Heiterkeit in der Pädagogik und Milde des Lehrers
4. Erziehung zur Ehrfurcht den Erwachsenen gegenüber.
Bemerkenswert sind für uns auch Goethes Gedan-
ken über Fortentwicklung und Reifen des Kindes.
In Dichtung und Wahrheit schreibt er: Wir können
die kleinen Geschöpfe, die vor uns herumwandeln,
nicht anders als mit Vergnügen, ja mit Bewunderung
ansehen. (...) Das Kind mit seinesgleichen und in
Beziehungen, die seinen Kräften angemessen sind,
scheint so verständig, so vernünftig, daß nichts drü-
ber geht, und zugleich so bequem, heiter und ge-
wandt, daß man keine weitere Bildung für daßelbe
wünschen möchte.
Die Unarten der Kinder vergleicht Goethe milde
mit Stengelblättern einer Pflanze, die nach und nach
von selbst abfallen. Der Mensch sagt er, hat ver-
schiedene  Stufen,  die  er  durchlaufen
muß, und jede Stufe führt ihre besonde-
ren Tugenden und Fehler mit sich, die in
der Epoche, wo sie kommen, durchaus
als naturgemäß zu betrachten und gewis-
sermaßen recht sind. Auf der folgenden
Stufe ist er wieder ein anderer, von den
früheren Tugenden und Fehlern ist keine
Spur mehr, aber Arten und Unarten sind
an deren Stelle getreten. Und so geht es
fort bis zu der letzten Verwandlung, von
der wir nicht wissen, wie wir sein wer-
den.
(zu Eckermann)
Goethe rät zur sorgsamen und geduldigen Erzie-
hung: Ein Blatt, das groß werden soll, ist voller Run-
zeln und Knittern, ehe es sich entwickelt, wenn man
nicht Geduld hat und es gleich so glatt haben will
wie ein Weidenblatt, dann ist’s übel.
(Brief an Jacobi
vom 9. September 1788).
Goethes »Pädagogik« gibt der Bildung den Vorrang
vor der Erziehung. Zwang und Verbote möchte er
vermeiden. In den Wahlverwandtschaften formu-
liert er: Sowohl bei der Erziehung der Kinder als
bei der Leitung der Völker (ist) nichts ungeschickter
und barbarischer als Verbote, als verbietende Ge-
setze und Anordnungen.
Goethe will dagegen dem Heranwachsenden selbst
überlassen, was er aus einem Wissensangebot für
sich entnimmt. Seiner Meinung nach darf das Bil-
dungssystem den Charakter nicht verbiegen. An W.
v. Humboldt schreibt er: Das beste Gemüt ist das,
welches alles in sich aufnimmt, sich alles zuzueig-
nen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundbe-
stimmung, demjenigen was man Charakter nennt,
im mindesten Eintrag thue... Ziel muß es sein, daß
der Einzelne sich zum ’Organ’ der Gemeinschaft
bildet.
Das  Fehlen  erzieherischer  Konsequenzen  beim
gleichzeitigen Ziel eines umfassenden Wissenser-
werbes wirkt sich – retrospektiv gesehen – nicht
umfassend positiv aus, weder auf die Entwicklung
des  Fritz von Stein, noch auf seinen Sohn und seine
Enkel. Als Goethe 40 Jahre alt war, gebärt ihm die
16 Jahre jüngere Christiane Vulpius den einzigen
überlebenden  Sohn  Au-
gust. Es steht außer Zwei-
fel, daß er ein liebevoller
und  besorgter  Vater  ist.
August  wird  später  ein
wichtiger Helfer für Goe-
the, der ihn jedoch lange
noch als Kind und als Ab-
hängigen behandelt.
Nach Augusts Tod muß er zusätzlich die Aufgaben
der Vaterstelle mit übernehmen. Die Enkel haben
in Goethes Haus Sonderrechte, sie dürfen sogar in
das »Allerheiligste«, das Arbeitszimmer, kommen
und haben dort einen Spieltisch. Goethe liebt seine
Enkel, ein Ausdruck hierfür ist ein Brief, den er an
Marianne von Willemer schreibt: Meine Enkel sind
wie heiteres Wetter: Wo sie hintreten, ist es hell..
Wir sehen, daß Goethe nahezu sein ganzes Leben
auch mit Kindern verbringt. Trotz der intensiven
Anforderungen, die an ihn gestellt werden, hat er
Zeit für sie.                                       Volker Hesse
73
Goethe ist sechs Mal in seinem Leben lebens-
bedrohlich erkrankt. Diese Lebenskrisen haben
ihn – das ist das Außergewöhnliche – jeweils tief
verwandelt und ihn geistiger und gereifter werden
lassen, oder, wie er es selbst nannte: Zu höherer
Gesundheit wiedergeboren.
Auch in Zeiten tiefer Depression und schwerer
körperlicher  Beeinträchtigung  arbeitet  Goethe
durch Selbstbeherrschung und mit diszipliniertem
Fleiß und ist auch in solchen Phasen kreativ.
Seine seelischen Krisen, von denen es auch im
Alter viele gibt, bewältigt er durch Läuterung,
konsequente  Bewußtmachung  und  Entsagung
und  schließlich,  dank  seinem  schöpferischen
Genie, durch dichterische Gestaltung.
So sagt er von sich selbst, daß er auch als alter
Mensch aus solchen Krankheits-Krisen gesund
und als ein neuer Mensch hervorgegangen ist, ob-
wohl die körperlichen Einschränkungen unverän-
dert vorhanden sind.
Beim alten Goethe stehen die Mäßigung und der
Verzicht, das Opfer und die Entsagung als For-
men der Selbstbewahrung immer im Mittelpunkt.
Bis ins hohe Alter hinein hat Goethe seine seeli-
schen Leiden und vor allem auch seine körperli-
chen Einschränkungen immer als Ansporn zur
Selbstbesinnung genutzt, um sich auf sich selbst
zurückzuziehen und sein Leben und Wesen zu
deuten. So entstehen bei ihm aus Perioden der
Einsamkeit und der Stille stets Phasen der schöp-
ferischen  Neugestaltung  in  Form  eines  neuen
Kunstwerkes  oder  einer  wissenschaftlichen
Abhandlung.
Goethe über Alter und Krankheit:
Motto von Dichtung und Wahrheit: Der
Mensch, der nicht geschunden wird, wird nicht
erzogen.
Im Tasso: …und wenn der Mensch in seiner Qual
verstummt, gab mir ein Gott zu sagen wie ich
leide.«
In Dichtung und Wahrheit: Genesung ist jedoch
immer angenehm und erfreulich, wenn sie auch
langsam und kümmerlich vonstatten geht und da
sich bei mir die Natur geholfen, so schien ich auch
nunmehr ein anderer Mensch geworden zu sein.
Denn ich hatte eine größere Heiterkeit des Geistes
gewonnen, als mir lange nicht bekannt, ich war
froh, mein Inneres frei zu fühlen, wenn mich gleich
ein langwieriges Leiden bedroht.
Goethe als 78-Jähriger an Kanzler von Müller:
Unser Leben kann sicherlich durch die Ärzte um
keinen Tag verlängert werden, wir leben, solange
es Gott bestimmt hat, aber es ist ein großer Un-
terschied  ob  wir  jämmerlich  wie  arme  Hunde
leben oder wohl und frisch und darauf vermag ein
kluger Arzt viel.
Joachim Wohlleben (Berlin)
Goethes Werther im Kontext seiner Zeit
Prof. Ekkehard Krippendorff (Berlin)
Gespräch über Peter Steins Faustinszenierung
PD Dr. med Klaus-Michael Koeppen (Berlin)
Goethes Schaffenskraft
als geriatrischer Patient
74
Goethe als 80-Jähriger: es ist unglaublich, wie-
viel der Geist zur Erholung des Körpers vermag.
Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibes, al-
leine der geistige Wille und die Kraft des oberen
Teiles halten mich im Gange. Der Geist muß nur
dem Körper nicht nachgeben.
Resümee:
Welche Bedeutung kann das Leben eines dichte-
rischen Genies, das in reichlichem Ausmaß kör-
perliche und seelische Leiden durchgemacht und
überstanden hat, für unsere geriatrischen Patien-
ten haben?
Ganz  wichtig  scheint mir hervorzuheben,  daß
Goethe auch in hohem Alter weiß und umsetzt,
wie man sich weiterhin immerfort verändern, er-
neuern und verjüngen muß, um nicht stehen zu
bleiben.  Wie  viele  unserer  alten  geriatrischen
multimorbiden Patienten bleiben stehen, versto-
cken, können und wollen nicht in die Zukunft bli-
cken, beklagen nur ihre Leiden und erinnern sich
stets  der guten  alten  Zeiten und  der  jüngeren
Jahre.
Goethe führt uns vor Augen, wie man auch in
Phasen seelischer und körperlicher Leiden durch
Anpassung an die physische Gegebenheit weiter
aktiv geistig und schaffend sich betätigen kann.
I m m e r ist Goethe tätig, bis ins hohe Alter führt
er Gespräche mit Altersgenossen, aber auch mit
der jüngeren Generation; er interessiert sich für
neue Tendenzen, sieht das künftige Zeitalter der
Technik herannahen, ahnt auch schon das Pro-
blem der drohenden Arbeitslosigkeit und interes-
siert sich für die Möglichkeiten des Auswanderns
nach Amerika.
Die lebhafte Anteilnahme auch des alten Goethe
an aktuellen politischen Ereignissen, etwa der
französichen Juli-Revolution von 1830, an aller-
neuesten Erfindungen wie der Eisenbahn oder
Entdeckungen, auch in anderen Teilen der Welt,
weiß er noch in seinem Alterswerk zu verarbei-
ten. Faust II, Dichtung und Wahrheit und Wilhelm
Meisters Wanderjahre – nicht umsonst mit dem
Untertitel Die Entsagenden versehen – zeigen
uns, wie ein starker Wille auch körperliche und
seelische  Schwächen  des  Alters  durchstehen
kann.
Insbesondere ist es bewundernswert, wie Goethe
bis in sein letztes Lebensjahr die Idee des Faust,
der ihn über 60 Jahre beschäftigt hat, durch die
Reife  des Lebens  und Alters  gewandelt,  doch
noch vollenden kann.
Bemerkenswert und bezeichned ist, wie sehr sich
Goethe bemüht, stets auf der Höhe seiner Zeit zu
bleiben. Durch seine konsequente, dem Leben zu-
gewandte Neugierde werden offenbar Kräfte frei-
gesetzt, die ihn seine körperlichen und seelischen
Leiden nicht nur ertragen lassen, sondern bei ihm
sogar noch schöpferische Kräfte freisetzen.
Auch wenn sich Goethe mit zunehmendem Alter
auf sich selbst zurückzieht und ungewollte Ein-
drücke der Außenwelt abwehrt, so können sein
dichterisches Werk und sein Leben uns auch in
heutiger Zeit Hinweise geben, wie man selbst im
hohen Alter trotz vieler Gebrechen ein geistig fri-
scher  und  körperlich  tätiger  Mensch  sein  und
bleiben kann.
Klaus-Michael Koeppen
75
76
Alle GG-Ortsvereinigungen, die als Gastgeber
schon einmal ein OV-Treffen ausgerichtet haben,
und auch all jene Vorstandsmitglieder, die bereits
ein Dutzend dieser Tagungen und mehr absolviert
haben, würden vermutlich nur müde abwinken,
würde ich jetzt hier einen ausführlichen Bericht
erstatten über die auf der Arbeitstagung behan-
delten Themen.
Vermutlich würde auch eine eingehende Schilde-
rung des kulturellen Begleitprogramms und der
abendlichen  Festivitäten  nach  so  langer  Zeit
höchstens  ein  gelangweiltes  Gähnen  erzeugen.
Daher werde ich versuchen, es kurz zu machen
und nur die  Aspekte betonen, die für künftige OV-
Treffen-Ausrichter von Interesse sein könnten.
Zunächst hier einmal in Stichworten die Arbeits-
tagung, deren Ablauf eigentlich jedem von uns
geläufig ist.
Dem  einzigen  davon  existierenden  Foto  kann
man entnehmen, daß die Weimar-Abordnung zur
traditionellen Fraktion gehört, denn der Präsident,
Dr. habil. Jochen Golz, und die bewährte Leiterin
der Geschäftsstelle, Dr. Petra Oberhauser, reprä-
sentieren die Muttergesellschaft nunmehr seit den
späten 1990-er Jahren.
Prof. Dr.Volkmar Hansen (Düsseldorf) wurde in-
zwischen von Prof. Dr. Christoph Wingertszahn
abgelöst; der damalige Leiter des Goethehauses
Frankfurt, Dr. Christoph Perels (auf der Tagung
vertreten von Dr. Petra Maisak), wurde vor über
einem Jahrzehnt von Prof. Dr. Anne Bohnenkamp
abgelöst.
Auch bei den GG-Vorständen hat es im Laufe von
16 Jahren einige personelle Veränderungen gege-
ben, aber noch ist es – wie die diesjährige OV-
Tagung  in München  wieder  gezeigt hat – wie
schon seit Jahrzehnten ein großes Familientreffen
der deutschen Goetheaner.
Freitag 27. 4.
9 Uhr, Senatssaal der Humboldt-Universität,
Beginn der Arbeitstagung,
Begleitprogramm:  Stadtführung  durch  das  historische
Berlin, die Friedrichstadt, Gendarmenmarkt, Nikolaiviertel;
15 Uhr, Dampferfahrt mit Kaffeetrinken,
20 Uhr, Konzert in der Deutschen Staatsoper: Fidelio /
(alternativ) 20 Uhr, Philharmonie, Nikolaus Harnoncourt:
Mozart und Haydn.
Samstag, 28.4.
9 Uhr, Senatssaal der Humboldt-Universität,
Fortsetzung der Arbeitstagung,
Begleitprogramm: Zwei Museumsführungen:
Pergamonmuseum / (alternativ) Gemäldegalerie,
16:30 Uhr, Vortrag im Plenarsaal des Deutschen Bundes-
tags sowie die Besichtigung der Kuppel im Reichstagsge-
bäude,
19:30  Uhr, Opernpalais Unter  den  Linden:  Geselliger
Abend mit Buffet. Goethe-Vertonungen von Mozart, Reich-
hart und Schubert, Markus Ahme, Tenor, und Edwin Diele,
Klavier.
Jahrestagung der Ortsvereinigungen in Berlin
77
Sonntag, 29.4.
10 Uhr, Führung: Das neue Berlin
– Potsdamer Platz und Sony Center
12 Uhr, Treffen am Goethe-Denkmal im Tiergarten
mit Ansprache des Präsidenten,
anschließend im Haus Sommer neben dem Brandenburger
Tor Treffen mit Mitgliedern der Goethe-Gesellschaft Ber-
lin, Lesung: Ulrich Ritter: Goethes unsterbliche Geliebte
Resumé: Die Goethe-Gesellschaft Berlin veran-
staltete vom 26. 4. bis 29. 4. 2001 eine Jahresta-
gung mit insgesamt 144 Teilnehmern, von diesen
waren 129 zahlende Teilnehmer aus 52 deutschen
Ortsvereinigungen  der  Goethe-Gesellschaft  in
Weimar e.V..
Die Tagung verlief erfolgreich, sämtliche Veran-
staltungen fanden mit großer Beteiligung statt;
die Organisation verlief reibungslos, die Kosten
blieben im Rahmen der veranschlagten Summen.
Hervorzuheben ist, daß die in Zusammenarbeit
mit der Stadtbibliothek  konzipierte Ausstellung
Goethe- Berlin- Mai 1778, die erfolgreich bis
zum 6. 6. 2001 lief, nur aufgrund der Tagung
überhaupt zustande kommen konnte.
2001
Eröffnung der Ausstellung
Goethe ~ Berlin ~Mai 1778
Durch die Stadt und mancherley Menschen Gewerb
und Wesen hab ich mich durchgetrieben.
(An Charlotte von Stein, 17. Mai 1778)
Mitte Mai 1778 besucht Johann Wolf-
gang Goethe als Begleiter des Weima-
rer  Herzogs  Carl  August  die
Preußischen Residenzen. In Berlin war
er sechs Tage unterwegs, An- und Ab-
reise eingerechnet. Anlaß sind diplo-
matische Erkundungen im Hinblick auf
den  zwischen  Preußen  und  Österreich
drohenden Bayerischen Erbfolgekrieg.
Da er Tagebuch geführt und sich auch in Briefen
über seine Eindrücke geäußert hat, konnte der Aus-
stellungskurator  Siegfried  Detemple  in  der Alten
Staatsbibliothek recht genau nachvollziehen, wel-
ches Besuchsprogramm absolviert wurde, wen die
Gäste aus Weimar trafen, welche Sehenswürdigkei-
ten sie besuchten und was bei den Empfängen am
Hof geredet wurde, sofern das durch schriftliche Äu-
ßerungen überliefert ist.
Die Ausstellung blickt zunächst einmal zurück auf
die Situation in der preußischen Hauptstadt und gibt
auch Berliner Künstlern und Gelehrten das Wort, mit
denen Goethe in den folgenden Jahrzehnten in Ver-
bindung stand.
78
Gezeigt wird, wie Goethe schon vorher in Berlin be-
kannt geworden war, nämlich durch  Aufführungen
von Götz von Berlichingen (Uraufführung) und Cla-
vigo, 1774, der Operette Erwin und Elmire, 1775,
und Stella (Uraufführung), 1776.
An seinen Tagebuchnotizen entlang führt die Schau
durch das friderizianische Berlin, macht bekannt
mit den Freunden, Gelehrten
und  Künstlern,  die  er
aufsuchte,  u.  a. An-
ton  Graff und Da-
niel  Chodowiecki,
zeigt  die  Gebäude,
die er besichtigte, und
gibt  eine  Momentauf-
nahme der Stadt im Augenblick
der Mobilmachung.Zu sehen sind zeitgenössische
Gemälde, Radierungen, Stiche, Briefe und Doku-
mente aus den Sammlungen der Stiftungen Preußi-
scher Kulturbesitz und Preußische Schlösser und
Gärten Berlin-Brandenburg, dem Deutschen Histo-
rischen Museum und  dem Gleimhaus in Halber-
stadt.
Viele  Dokumente  werden  erst-
malig öffentlich ausgestellt, z.
B. der Briefwechsel, den Fried-
rich der Große Januar bis Au-
gust 1778 von Schlesien aus mit
seinem  Bruder,  dem Prinzen
Heinrich in Berlin, führte, Do-
kumente zu Friedrichs Kriegsvor-
bereitungen  sowie  eine  in  der
Staatsbibliothek gefundene Sammlung kolorierter
Kupfer mit einer vollständigen Übersicht über die
Uniformen der Preußischen Regimenter dieser Zeit.
Goethe besucht den einzigen Men-
schen, den er in Berlin persönlich
kennt: Johann  André,  Sohn
eines  Offenbacher Seidenfabri-
kanten, erlernte zwar zunächst
den  Handel,  wandte  sich  aber
früh der Musik zu. Theaterdirek-
tor Döbbelin holte ihn  1777 nach
Berlin. Bis dahin hatte er bereits 18 Opern
und  Singspiele  komponiert.  Die  Bekanntschaft
geht zurück ins Jahr 1773, als Goethe sich mit dem
Gedanken trug,  ein Singspiel für das Theater zu
schreiben und mit der Niederschrift von Erwin und
Elmire begann.
Auf seiner Rheinreise 1774 liest Goethe Lavater aus
seiner ersten Fassung vor;  wenig später vertieft sich
die Verbindung zu André, als der 25-jährige Goethe
sich in Lili Schönemann verliebt, dasWerkchen in
wenigen Wochen zu Ende  schreibt und André in
Offenbach  dazu  die Arien  vertont. Im  Mai 1775
wird es in Frankfurt von einer Liebhaberbühne mit
gutem Zuspruch des Publikums uraufgeführt.
Nach  seinem  Besuch  bei Anton
Graff,  dem  hoch  angesehenen
Portraitmaler  des  Hofes,  ent-
schließt sich Goethe spontan zu
einem weiteren Besuch bei dem
Historiker Jacob Daniel Wege-
lin, da dieser zufälligerweise im
selben Haus wie Graff wohnt.
Wegelin ist Mitglied der Königlichen Akademie der
Wissenschaften und deren Archivar. Mit ihm unter-
hielt sich Goethe über die Philosophie der Geschichte
oder über dessen neuestes Projekt, seine 1779 veröf-
fentlichte Abhandlung über die psychologische Kunst
des Tacitus. Wegelin galt zwar als etwas umständlich
und weitschweifig, hatte aber ein unglaubliches his-
torisches Wissen, und er galt als einer der erster Ver-
treter  der  empirischen  Geschichtsschreibung.
Fruchtbar für den 28-jährigen Goethe war das Ge-
spräch  sicher, hatte  er  jedoch   bereits  zwei  Jahre
zuvor in einem Brief an Merck angemerkt,  er wolle
ausprobieren, wie einem die Weltrolle zu Gesicht
stünde.
Zunächst aus Anlaß einer
gemeinsamen  Jahresta-
gung der Goethe-Gesell-
schaften  geplant,  fügt
sich die Ausstellung ein
in  die  Veranstaltungs-
reihe Preussen/2001.
Wegen der vielen Arbei-
ten  Daniel  Chodowie-
ckis, die zu sehen sein
werden,  ist  sie  auch
eine  kleine  Reminis-
zenz  an  dessen  Tod
vor zweihundert Jah-
ren, am 6.Februar 1801
Auf besonders gelungene Weise informiert über Goethes Berliner Aufent-
halt der Katalog zur Ausstellung Goethe-Berlin-Mai 1778 in der Staatsbi-
bliothek zu Berlin 2001 (Siegfried Detemple in Zusammenarbeit mit der
Goethe Gesellschaft Berlin e.V. anläßlich der Jahrestagung der Goethe-
Gesellschaften vom 26.-29.4. 2001).
79
2001 erscheint im Insel-Verlag eine
400 Seiten umfassende Biografie
über  eine  Frankfurter  Bürgers-
frau namens Elisabeth; monate-
lang steht der dicke Wälzer auf
Nr. 1 der Sachbuch-Bestseller-
liste. Er trägt den Titel: Goethes
Mutter. Die Autorin: Unser Mit-
glied Dagmar  von  Gersdorff.
Grund genug für uns, umgehend bei ihr
anzufragen  und  das  neue  Jahresprogramm  den
Frauen um Goethe zu widmen.
Die Autorin stützt sich nicht nur auf die bisher er-
schlossenen Quellen, sondern hat erstmalig die um-
fangreichen  Haushaltsaufzeichnungen  unter  die
Lupe genommen, aus denen viel Aufschlußreiches
über das Leben im Haus am Großen Hirschgraben
hervorgeht.
Die nur 18 Jahre ältere Mutter, Elisabeth Catharina
Textor, ist die erste Frau in Goethes Leben und trägt
fraglos entscheidend dazu bei, daß er dem weib-
lichen  Geschlecht  Zeit  seines  Lebens  nicht  nur
  Bewunderung, sondern auch großen Respekt zollt.
Das fröhliche, lebensbejahende Naturell der Mutter
sorgt für ein offenes Haus, in dem zahlreiche Besu-
cher  aus-  und  eingehen.  Goethe  und  seine
Geschwister, von denen nur die ältere Schwester
Cornelia das Erwachsenenalter erreicht, verleben
hier eine glückliche Kindheit. Insbesondere Wolf-
gang, ihr über alles geliebter Hätschelhans, wird
von der Mutter verwöhnt und häufig gegen den, um
20 Jahre älteren gestrengen Vater in Schutz genom-
men.
Das enge Verhältnis zur Mutter bleibt ein Leben
lang bestehen; aus den wenigen Briefen, die sich er-
halten haben – Goethe hat bei seinem umfangrei-
chen  Autodafé  1792  fast  sämtliche  an  ihn
gerichteten Briefe verbrannt – wird ersichtlich, daß
Mutter und Sohn enge Vertraute waren, die einander
so gut kannten, daß nur wenige Worte oder Andeu-
tungen nötig waren, um einander zu verstehen.
Nur wenig bekannt ist jenes Gedicht, das Goethe
mit 18 Jahren an Frau Aja richtet:
An die Mutter
Obgleich kein Gruß, obgleich kein Brief von mir /
So lang dir kommt /, laß keinen Zweifel doch
Ins Herz, als wär die Zärtlichkeit des Sohns,
Die ich dir schuldig bin, aus meiner Brust
Entwichen. (...)
Und dir bei jedem Blicke zeigt, wie dich dein Sohn verehrt.
Er habe Phantasie, Einbildungskraft und Formulie-
rungskunst von der Mutter, der brillanten Erzähle-
rin,  geerbt,  bemerkt  Goethe  in Dichtung  und
Wahrheit, und auch die Besucher im Hirschgraben
sind oft überrascht, den Dichter ganz in ihr wieder-
zufinden.
Der dreijährige Leipziger Studienaufenthalt vermit-
telt dem jungen Goethe vielfältige Welt- und Selbst-
erfahrung.  Insbesondere  die  Begegnung  mit
Käthchen Schönkopf mit ihren Höhen und Tiefen
markiert  eine  neue  Entwicklungsstufe. Josef
Mattausch geht dem anhand lebendiger, aussage-
starker Zeugnisse nach.
Als der 17-jährige Student  im Herbst 1766 in Leip-
zig zu Studienzwecken eintrifft, nimmt er den Mit-
tagstisch im Gasthof des Weinhändlers Christian
Gottlieb Schönkopf, wo er alsbald die Tochter des
Hauses kennenlernt; Anna Katharina Schönkopf,
die dort gelegentlich aushilft.
Die  Beziehung  scheint  allerdings
von Anfang an recht problematisch
gewesen  zu  sein,  nicht  zuletzt
wegen  Goethes  extremer  Eifer-
sucht  auf  vermeintliche  Neben-
buhler.  Vertrauter  in  der
Beziehung  zu  Käthchen  ist  der
zehn  Jahre  ältere  Ernst  Wolfgang
Behrisch,  Fachmann  in  allen  Fragen
des galanten Lebens und der Poesie. Käthchen wird
allerdings  der  ständigen  überschwenglichen  Ge-
fühlsausbrüche und künstlichen Eifersuchtsdramen
bald  überdrüssig.  Als  er  sie  nach
schrecklichen Szenen wirklich verlo-
ren hat, erscheint die Trennung im
Frühjahr  1768  unausweichlich.
Goethe kuriert sich von den durch-
gemachten Erschütternissen durch
das Schäferspiel Die Laune des Ver-
liebten,  in  dem  ein  eifersüchtiger
Liebhaber geheilt wird, als er erkennt,
2002                  
Die Frauen um den jungen Goethe
Autorenlesung:
Dagmar v. Gersdorff (Berlin)
Goethes Mutter und Schwester  
Dr. Josef Mattausch (Leipzig)  
Erleben und Fiktion
Goethes Jugendliebe Anna Katharina Schönkopf
80
Monika Schopf-Beige geht´s um Friedriken; aus
Platzgründen  müssen  wir  hier  leider  zahlreiche
Details  weglassen,  aber  die Willkommen-und-
Abschied-Geschichte ist ja doch allgemein ganz gut
bekannt.
In Dichtung und Wahrheit berichtet
Goethe  später von seiner  ersten
Begegnung  mit  Friederike: In
diesem  Augenblick  trat  sie
wirklich  in  die  Türe;  und  da
ging fürwahr an diesem ländli-
chen Himmel ein allerliebster
Stern  auf. (…) Schlank  und
leicht, als wenn sie nichts an sich
zu tragen hätte, schritt sie, und bei-
nahe schien für die gewaltigen blon-
den Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu
zart.
Friederike wohnt sechs Reitstunden entfernt. Je
weiter  weg,  desto  besser.  Nichts  entzündet
Goethes Phantasie mehr als das schwer Erreich-
bare. Er schreibt ihr leidenschaftliche Gedichte.
Bald ist sie sein Mädchen, dem er Hoffnung macht.
1770/1 entsteht eine Reihe von Gedichten und Lie-
dern, die er manchmal mit bemalten  Bändern an die
Geliebte sendet. Die Sesenheimer Lieder gehören
maßgeblich zum Sturm und Drang und begründen
Goethes Ruf als Lyriker. Unter ihnen sind zum Bei-
spiel das Mailied, Willkommen und  Abschied und
Das Heidenröslein.
Die Liebesbeziehung ist jedoch nicht von langer
Dauer. Schon im Frühsommer 1771 erwägt Goethe,
der seine unruhige Seele mit dem Wetterhähnchen
drüben auf dem Kirchturm vergleicht, die Bezie-
hung zu beenden. Am 7. August 1771 sieht er Frie-
derike vor  seiner  Heimkehr  nach  Frankfurt  zum
letzten Mal: Als ich ihr die Hand noch vom Pferde
reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und
mir war sehr übel zumute.
Aus berufenem Munde, nämlich dem des Leiters
der  Städtischen  Sammlungen  Wetzlar, Hartmut
Schmidt, der uns im Vorjahr bereits durchs Lotte-
haus geführt hat, erfahren wir, was wirklich ge-
schah  in  jenem  Sommer  1772.  Bekanntlich  ist
vieles, was im Werther steht, erst 1½ Jahre später
zu Papier gebracht worden und lediglich Goethes
Phantasie entsprungen.
Goethe  lernt Lotte, die Tochter des
verwitweten Wetzlarer Amtmanns
Buff, auf einem Tanzfest kennen.
Lotte bezaubert ihn sowohl durch
ihre  äußerliche  Er-
scheinung  als  auch
durch  ihre  offene
Art.  Wie  im  Wer-
ther  beschrieben,
tanzt  er  den  ganzen
Abend  mit  ihr,  und  es  imponiert
ihm sehr, wie Lotte die Festgesell-
schaft  während  des  Gewitters  mit
einem Spiel ablenkt.
Nicht nur mit Lottes Geschwistern versteht Goethe
sich bestens; selbst zu Albert, Lottes Verlobtem, hat
er nach dessen Rückkehr ein sehr gutes Verhältnis.
Dennoch belastet Goethe die Aussichtslosigkeit sei-
ner  Beziehung  so  sehr,  daß  er  Wetzlar  vorzeitig
  wieder den Rücken kehrt. Unfähig, Zuneigung und
Eifersucht zu zügeln, verläßt er nach einem brief-
lichen Abschied von beiden spontan die Stadt an der
Lahn. Erst als er 1½ Jahre später von dem Freitod
des gemeinsamen Wetzlarer Bekannten Jerusalem
erfährt, entscheidet er sich, das Lotte-Erlebnis lite-
rarisch zu verarbeiten.
Die Erstauflage  des in
wenigen  Tagen  aufs
Papier  gewühlten
Briefromans  mit
dem Titel: Die Lei-
den  des  jungen
Werthers erscheint
1774 in einer ersten
Auflage von rd. 800
Exemplaren, vorsichts-
halber  erst  einmal
anoynym.  Als  Goethe
gewahr  wird,  daß  er
damit den Nerv der Zeit
getroffen  hat,  bekennt
er sich als Autor.
Dr. Wolfgang Butzlaff (Kiel)
…einer einzigen angehören…
Goethes Verlobungen und Gelöbnisse
Monika Schopf-Beige (Ludwigsburg)
O Mädchen, Mädchen, wie liebe ich Dich…
Friedrike Brion
Dr. Hartmut Schmidt (Wetzlar)
So sei es denn, Lotte, Lotte lebe wohl!
Werthers Lotte – Wahrheit und Dichtung
81
Anna Elisabeth Schönemann geht in die
Literaturgeschichte  als  Goethes  Ver-
lobte Lili ein. Sie ist die zweite Prota-
gonistin  des  Referats  von Monika
Schopf-Beige,  die  uns  faktenreich
auch diese nächste aussichtslose Be-
ziehung  des  jungen  Advoka-
ten/Dichters  schildert.  Die
Tochter  eines  vermögenden
Frankfurter  Bankiers  lernt
Goethe im Frühjahr 1775 bei einem
Hauskonzert der Familie kennen. In
die  musikalische  Sechzehnjährige
verliebt er sich Hals über Kopf, ver-
lobt  sich  mit  ihr  nach  nur  wenigen
Wochen insgeheim, wie Goethe im 17.
Buch von Dichtung und Wahrheit schil-
dert, erwägt er sogar, mit ihr nach Amerika auszu-
wandern.
Beide stehen in einem eigenartigen Liebesverhältnis
zueinander, wie man ohne große Mühe aus Goethes
Gedicht Lilis Park herauslesen kann:
Ist doch keine Menagerie so bunt als meiner Lili ihre!
Sie hat darin die wunderbarsten Tiere
Und kriegt sie 'rein, weiß selbst nicht wie,
Die armen Prinzen allzumal,
In nie gelöschter Liebesqual!
Schon  nach  einem halben Jahr wird  beider Ehe-
versprechen wieder gelöst, denn die Elternhäuser
stehen der Verbindung ablehnend gegenüber und
Goethe selbst empfindet Lili bald als Einengung
seiner Lebensplanung, will er doch der Einladung
des Herzogs Carl-August nach Weimar folgen.
Dennoch  kann  er  Lili  zeitlebens nicht  vergessen
(wie in Dichtung und Wahrheit nachzulesen ist), hat
seinerzeit bei seiner ersten italienischen Reise sogar
ihr Konterfei in einem Medaillon um den Hals mit
über die Alpen genommen. Noch im Alter von 80
Jahren offenbart Goethe seinem Vertrauten Fried-
rich Soret Lili war die erste, die ich tief und wahr-
haft liebte, und vielleicht war sie auch die letzte.
Wie bereits im Goethe-Jahrbuch 103 sucht Otti
Lohss dem Wesen der tiefen Beziehung nach-
zugehen, die Goethe im ersten Weimarer Jahr-
zehnt mit Charlotte von Stein verbindet. Die
Eckdaten können ja wohl doch weitgehend als
bekannt vorausgesetzt werden.
Charlotte Albertine Ernestine Freifrau von Stein,
ist Hofdame der Herzogin Anna Amalia und ihre
enge Vertraute. Goethe lernt sie kurz nach seiner
Ankunft in Weimar im November 1775 kennen.
Die  sieben  Jahre  Ältere  ist  verheiratet  mit  dem
Landedelmann  Josias  von  Stein,  dem  Oberstall-
meister am Hofe. Sie hatte sieben Kinder mit ihm,
von denen noch drei leben, als Goethe sie kennen-
lernt. Die 1770 Briefe, Billette, Zettelgen und die
zahlreichen Gedichte, die Goethe an sie richtet, sind
die Dokumente einer außergewöhnlich innigen Be-
ziehung (Frau von Steins Briefe sind nicht erhalten).
Es wird darin deutlich, daß die Geliebte den Dichter
als Erzieherin fördert. Sie bringt ihm höfische Um-
gangsformen bei, besänftigt seine innere Unruhe
und stärkt seine Selbstdisziplin.
Fest  steht  nur,  daß  diese
Liebesbeziehung sowohl
für Goethe als auch für
Charlotte  von  Stein
von  enormer lebens-
geschichtlicher  Be-
deutung  ist.  Auch
kann  es  als  nahezu
gesichert gelten, daß
Charlotte den Wunsch
von Goethe nach Sinn-
lichkeit,  nach  der  der
Liebende auch immer wie-
der strebt, nicht zulassen kann.
Als Goethe 1786 heimlich zu einer fast zweijähri-
gen Reise nach Italien aufbricht, erleidet die Bezie-
hung einen tiefgreifenden Bruch. In Anbetracht von
Goethes Schweigen über sein Wegbleiben, wenigen,
schleierhaften Briefen von unbekanntem Ort und
ihrer Unkenntnis der für sie geschriebenen Reise-
tagebücher, wird die von ihr empfundene Frustra-
tion verständlich. Sie ist der Meinung, er habe sie
verlassen. Erst recht nicht verzeihen kann sie ihm
nach seiner Rückkehr die Liebesbeziehung zu der
um 25 Jahre jüngeren Christiane Vulpius.
Erst  nach  vielen  Jahren  gestaltet  sich  zwischen
beiden  wieder  ein  gewisses  Freundschaftsver-
hältnis, das bis zum Tode der Frau von Stein (1827)
andauert.
Monika Schopf-Beige (Ludwigsburg)
Herz, mein Herz, was soll das geben?
Lili Schönemann
Otti Lohss (München)
Kanntest jeden Zug in meinem Wesen…
Charlotte von Stein – Goethes Freundin
82
Die Herzogstochter und Nichte
Friedrichs des Großen heira-
tet als Sechzehnjährige den
zwei  Jahre  älteren   Herzog
Ernst   August  Konstantin
von Sachsen-Weimar  und
schenkt ihm zwei Söhne.
Als ihr Mann nach drei Jahren
stirbt, verwaltet Anna Amalia die
Regentschaft für ihren unmündigen
Sohn.  In  die  Geschichtsbücher  geht  sie  ein  als
menschliche und sehr kunstsinnige Regentin, die ihr
Herzogtum mit einigem wirtschaftlichen Geschick
lenkte.
Neben ihren vielen offiziellen Pflichten pflegt Anna
Amalia die Künste; sie nahm Klavierunterricht, be-
gründete das deutsche Schauspiel in Weimar und
kann auch als eigentliche Initiatorin der Weimarer
Museen  bezeichnet  werden.  Sie  sammelte  einen
Kreis wichtiger Musiker und Dichter wie Herder,
Wieland und Goethe um sich.
Friedmar Apel nimmt  Corona  Schröter  und  ihr
besonderes Verhältnis zu Goethe in den Fokus. Die
Sängerin, Schauspielerin und Komponistin wird ab
November 1776 auf  Goethes Betreiben  zur viel-
beschäftigten  und  bewunderten  Sängerin  der
Weimarer Hofkapelle. Sie ist vielseitige professio-
nelle Darstellerin und als solche die Hauptstütze
von Goethes Liebhaberaufführungen, eine fertige
Klavier-  und  Flötenspielerin, gewandte  Gesell-
schafterin sowie  künstlerisch  und  literarisch
ambitioniert. 1779 findet die erste Auf-
führung der Iphigenie mit Corona in
der Titelrolle und Goethe als Orest
statt, auch der Herzog wirkt mit.
Corona  Schröter  wird  zu  ihrer
Zeit auch als Liederkomponistin
gefeiert;  vertont  sie  doch  u.a.
auch  Goethes Erlkönig.
Die Beziehung zwischen Goethe
und  der  Schauspielerin  Corona
Schröter ist nach wie vor geheimnis-
voll. Unzweifelhaft aber scheint, daß sowohl
der Herzog als auch Goethe sich um sie bemühen.
Der Dichter aber entziffert an ihr spiegelbildlich
die  Problematik  des  Künstlers  im  Dienst  der
Macht.
Das ist auch ein Thema der Iphigenie. Auffallend
oft sagt Iphigenie im Eingangsmonolog »hier«.
So konnte das Stück dem Weimarer Publikum die
Selbstbehauptung  des  Künstlers  der  Obrigkeit
gegenüber vor Augen führen.
Prof. Dr. Friedmar Apel (Bielefeld)
und selbst Dein Name ziert, Corona,  Dich...
Iphigenie in Weimar
Eckart Henscheid (Berlin)
Frauen unter Goethe (Lesung)
Dr. Franziska Schöffler (Freiburg i.B.)
Lehrjahre
Frauengestalten im Wilhelm Meister
83
Das Jahr beginnt mit einem Lichtbildervortrag im
Literaturhaus,  in  dem  uns Siegfried  Seifert die
Weimarer Primadonna Karoline Jagemann vorstellt.
Sie ist ein Weimarer Kind. Der Vater, Bibliothekar
der  Herzoginmutter,  sorgt  1790  dafür,  daß  die
Stimme  seiner  13-jährigen  Tochter  Karoline  am
berühmten Mannheimer Nationaltheater unter Iff-
lands strenger Leitung die gründlichste Ausbildung
erfährt. sechs Jahre später kehrt sie nach Weimar
zurück,  nun  eine  Sängerin  und  Schauspielerin,
deren  Sprechen so melodisch und geistreich akzen-
tuiert ist, wie ihr Gesang einem Nachtigallenton
gleicht, voll Süße, Rundung und Kraft.
Seiner Lehre, so Goethe 1824 zu Eckermann, habe
sie nie bedurft. Sie sondere klug die Charaktere und
bilde jede Einförmigkeit meidend, die eigene Indi-
vidualität der dichterischen Figur gemäß um«. Sie
sei »wie auf den Brettern geboren, in allem sicher
und entschieden, gewandt und fertig wie die Ente
auf dem Wasser gewesen.
Sie  ist  unbedingt  ein
Gewinn  für  Weimars
Bühne, doch auch ein
Problem für einen In-
tendanten wie Goethe,
der selbst von der gro-
ßen  Begabung  den
Willen  zur  Einord-
nung in das Ensemble
erwartet.  Karoline
aber  neigt  weder  zur
Bescheidenheit  noch
zur  Selbstunterschät-
zung.
Die Situation verschärft sich, als sie dem jahrelan-
gen leidenschaftlichen Werben Carl-Augusts nach-
gibt und 1802, nachdem sie sicher sein kann, daß
Herzogin Luise großmütig zustimmt, in eine Ver-
bindung einwilligt, die sie als Nebenfrau an Carl
Augusts Seite rückt. Goethe sieht sich plötzlich mit
einer  Primadonna  konfrontiert,  gegen  die  er  nur
mühsam seinen Willen behaupten kann.
1809 legalisiert Carl August zudem den Bund mit
Karoline und deren Nobilitierung zu einer Frau von
Heygendorf. Noch im selben Jahr ernennt der Her-
zog sie zur Operndirektorin. Sie übernimmt, nach-
dem sie gegen Goethe intrigiert und 1817 dessen
Rückzug aus dem Theaterbetrieb bewirkt hat, die
alleinige  Leitung des Hoftheaters. Als  1823, zur
Feier von Goethes Genesung von einer schweren
Herzerkrankung Tasso gegeben wird, krönt sie statt
Vergils Goethes Büste mit Lorbeer und bringt am
Ende der Aufführung, noch im Kostüm ihrer Rolle,
den Kranz dem Dichter.
Eckart  Kleßmann,  ausgewiesener  Kenner  der
Goethezeit, bereitet gerade ein Buch vor mit dem
Titel: Christiane – Goethes Geliebte und Gefährtin
und gewährt uns vorab schon einmal einen Einblick
in seine Recherchen. Zahlreich sind die überkom-
menen Klischees über Goethes langjährige Lebens-
gefährtin und spätere Ehefrau, die zunächst von der
Weimarer  Gesellschaft,  später  von  Generationen
von Literaturhistorikern als Bettschatz und Dumm-
chen tituliert wurde.
Mit  dem  schönen  Elan  der
Sympathie entwirft Kleß-
mann  ein  gerechteres
Bild der jungen Frau,
die  mehr  ist  als  die
sinnliche  Geliebte,
die umsichtige Wirt-
schafterin  und  sor-
gende  Mutter:  für
Goethe  ist  sie die
unvergleichlich e
Partnerin  im  Reich
der guten Täglichkeit,
deren Liebe er mit Liebe
erwidert  und  für  deren
Wärme er mit Wärme dankt,
des dauerhaften Vergnügens, das
sie ihm beschert, niemals überdrüssig.
Kleßmann geht es darum, durch eine Auswahl von
Urteilen  und  Briefen  zum  einen  den  Charakter
Christianes für uns schärfer zu konturieren sowie
zum anderen zu umreißen, wo und wie wir der lang-
jährigen Lebensgefährten Goethe in seinem Werk
wiederbegegnen.
2003                 
Die Frauen um den älteren Goethe
Siegfried Seifert (Weimar)
Goethes schöne Freundin?
Die Weimarer Primadonna Karoline Jagemann
(Dia-Vortrag)
Eckart Kleßmann  (Hamburg)
Mein Liebchen Du…
Christiane Vulpius im Urteil der Zeitgenossen
und in Goethes Briefen und Gedichten
84
Dem  Gedicht Gingko
biloba und  seiner  Ent-
stehunggeschichte.wid-
met  sich Theo  Buck.
Das  Gedicht  ist  Mari-
anne von Willemer ge-
widmet  und  stellt  das
Ginkgoblatt  aufgrund
seiner Form als Sinnbild
der  Freundschaft  dar.
Die Erstfassung des Ge-
dichts ist datiert auf den
15. September 1815, als
Goethe  während  eines
fünfwöchigen  Aufent-
haltes in Frankfurt dort
mehrmals mit Marianne
von Willemer am Main-
ufer  verabredet  ist.  Er
wohnt sogar eine Woche im Roten Männchen, der
Willemerschen Stadtwohnung, die übrige Zeit in
der Gerbermühle.
Überliefert ist, daß Goethe die Blät-
ter des Ginkgo betrachtet und über
deren Form sinniert habe. Eines der
Blätter  sendet  er  schließlich  als
Ausdruck seiner Zuneigung an Ma-
rianne. Der mit Goethe befreundete
Kunstsammler  und  Schriftstel-
ler  Sulpiz  Boisserée  erwähnt  in
einer Tagebucheintragung vom 15.
September  1815: Heiterer Abend.
G. hat der  Willemer ein Blatt des
Ginkgo  biloba  als  Sinnbild  der
Freundschaft  geschikt  aus  der
Stadt. Man weiß nicht ob es eins das sich in 2 theilt,
oder zwey die sich in eins verbinden. So war der In-
halt des Verses.
Im Juni ist Katharina Mommsen, Expertin in Sa-
chen Divan, aus Palo Alto wieder einmal über den
Großen Teich gekommen und widmet sich in ihrem
Vortrag der Dichterin Marianne von Willemer.
Eine eingehende wissenschaftliche Beschäftigung
mit diesem Thema schien sich bisher weitgehend zu
erübrigen. Fast ausnahmslos werden die Gedichte
aus Mariannes Feder Goethe zugerechnet, in dessen
Divan sie sich so nahtlos einfügen; apostrophiert als
Goethes Suleika, erscheint  sogar  die Verfasserin
selbst als Goethes Geschöpf, als Dichterin allein
von Goethes Gnaden, aus deren Mund letztlich das
Genie selber spricht.
Dabei ist die Tatsache, daß Marianne einige Ge-
dichte zu Goethes großem Spätwerk beigetragen hat
seit 1869 durchaus bekannt, zumindest der Goethe-
Forschung. Ihr großes Geheimnis wurde allerdings
erst neun Jahre nach ihrem Tod ver-
öffentlicht. In einem Gespräch mit
dem Schriftsteller und Kunsthistori-
ker Herman Grimm, dem Sohn des
Märchensammlers Wilhelm Grimm,
bekennt sie  sich dazu, als Suleika
dem Dichter auf seine Verse mit ei-
genen  Gedichten  geantwortet  zu
haben.
Katharina Mommsen: In der Litera-
tur über Marianne von Willemer ist
es üblich, ihre Gedichte, soweit es
sich nicht um die des Buchs  Suleika handelt, als
schwach zu kennzeichnen und als bloße Gebrauchs-
lyrik  abzuwerten.  Wie  es  scheint,  hat  sie  selbst
durch die für sie charakteristische große Beschei-
denheit zur Unterbewertung ihres dichterischen Ta-
lents  beigetragen.  Bezeichnend  für  ihre  Demut,
beginnt auch ihr erstes an Goethe gerichtetes Ge-
dicht mit dem Vers:
Zu den Kleinen zähl ich mich,
Liebe Kleine nennst Du mich.
Willst Du immer so mich heißen,
Werd ich stets mich glücklich preisen,
Bleibe gern mein Leben lang
Lang wie breit und breit wie lang.
Als den Größten kennt man Dich,
Als den Besten ehrt man Dich,
Sieht man Dich, muß man Dich lieben,
Wärst Du nur bei uns geblieben,
Ohne Dich scheint uns die Zeit
Breit wie lang und lang wie breit.
Dadurch  gibt  sie  sich  selbst  auf  den  ersten  Blick
einen fast schulmädchenhaften Anstrich. Doch wenn
man die Verse genauer betrachtet, so entdeckt man,
daß sie bei aller äußeren Einfachheit von unüber-
windbarem Raffinement sind.Das konnte allerdings
nur Goethe gewahr werden, während sich die übrigen
Leser durch den naiven Ton täuschen ließen.
Prof. Theo Buck (Aachen)
…sind es zwei, die sich erlesen...
Mariannne von Willemer und Goethe
im Spiegel des Gedichtes Gingko biloba
Prof. Dr. Katharina Mommsen (Palo Alto)
Zu den Kleinen zähl ich mich…
Die Dichterin Marianne von Willemer
85
Im  März  setzt  uns Hans-Hellmut
Allers ins Bild über Goethes Verhält-
nis zu Bettine Brentano, der exzen-
trischen Tochter seiner Jugendliebe
Maximiliane, die stirbt, als Bettine
acht Jahre alt ist. Der Vortrag setzt
ein bei der Großmutter Sophie La
Roche, schildert die Freundschaft
der  jungen   Bettine  mit  Goethes
Mutter,  deren  Erzählungen  aus  der
Kindheit des Dichters letztendlich Goe-
the zur Niederschrift seiner Autobiografie anregen.
Als  Bettine  in  Begleitung  von  Schwester  und
Schwager Savigny Goethe das erste Mal in Weimar
gegenübertritt, ist sie 22 Jahre jung; er ist 57 Jahre
alt und seit sechs Monaten mit Christiane verhei-
ratet.
Was folgt, ist allgemein bekannt: Bettines zahlreihe
Briefe an ihn; seine meist spärlichen und recht sprö-
den Antworten; mehrere Begegnungen; ihre Verlo-
bung mit Achim von Arnim; ihr beharrliches Vor-
schlagen eines Treffens zwischen Goethe und Beet-
hoven, die sich ohne ihre Vermittlung vielleicht nie
persönlich begegnet wären; schließlich der vielfach
kolportierte  Streit  zwischen  ihr  und  Christiane
– Bettine äußert sich hochmütig und abfällig über
die Werke vom Kunschtmeyer; Christiane reißt  ihr
daraufhin die Brille von der Nase, worauf  Bettine
sie bekanntlich eine wahnsinnige Blutwurst nennt.
Goethe erteilt ihr Hausverbot; es wird ein endgülti-
ger Bruch sein. Dem Referenten gelingt es, in der
restlichen halben Stunde Bettines Familienleben zu
schildern, ihr späteres soziales Engagement in Ber-
lin und einzugehen auf den von ihr nach Goethes
Tod veröffentlichten überwiegend fingierten Brief-
wechsel mit einem Kinde. Als Epilog sodann die
kurze Schilderung ihres Entwurfs für ein Goethe-
Denkmal: Dieses zeigt ihn als thronenden Olympier
gehüllt in eine griechische Toga mit nacktem Ober-
körper, in der Hand eine Lyra.
Viel  ist  schon über  Bettine  geschrieben  worden,
deshalb  faßt  der  Vorstand  den  Entschluß,  Hans-
Hellmut Allers' Vortrag über Goethes Verhältnis zu
Bettine  als  Jahresgabe  zu  publizieren,  der  eine
Reihe weiterer aus seiner Feder folgen werden.
Im Oktober spricht der Historiker Detlef Jena, Ex-
perte für die napoleonische Ära, und bringt uns die
Zarentochter Maria Pawlowna näher, indem er sie
im historischen, geistigen, politischen und räumli-
chen Kontext zeigt und daher auch ihr Verhältnis zu
Goethe sehr lebensnah mit Kolorit versieht.
Wir lernen  viel  an  diesem Abend:  Die russische
Großfürstin Maria Pawlowna, Enkelin Katharina
der Großen, Tochter des unglückseligen, 1801 von
einer Adelsclique erdrosselten Zaren Paul, Schwes-
ter der Zaren Alexander und Nikolaus und spätere
Schwiegermutter des deutschen Kaiser Wilhelm I.,
heiratet 1804 den Erbherzog von Sachsen-Weimar-
Eisenach, Carl Friedrich. Vom weltstädtischen Ve-
nedig des Nordens – St. Petersburg – kommt die
18-jährige in das kleine, provinzielle, aber geistig
und literarisch hochgerühmte Weimar.
Maria Pawlowna, die neben Rus-
sisch und Französisch Deutsch,
Englisch  und  Italienisch
spricht, identifiziert sich mit
der Weimarer Klassik, verehrt
und unterstützt insbesondere
Goethe und Liszt und ruft eine
einmalige  Symbiose  von
Musik, bildender Kunst, Archi-
tektur und Dichtung ins Leben.
Zunehmend  entwickelt  sie  sich  zur  sozial  und
karitativ engagierten, lebenspraktisch orientierten
Landesmutter  und  setzt  sich  landesweit  für  eine
elementare Bildung und Ausbildung insbesondere
für Frauen und Kinder ein. Goethe zu Eckermann:
Ich kenne die Großfürstin seit dem Tage ihrer An-
kunft und habe in Menge Gelegenheit gehabt, ihren
Geist und Charakter zu bewundern. Sie sei eine der
besten  und  bedeutendsten  Frauen  ihrer  Zeit  und
würde es auch sein, wenn sie keine Fürsten wäre.
Und er fährt fort: Für dieses Land ist sie von jeher
wie ein guter Engel gewesen und wird es mehr und
mehr, je länger sie mit ihm verbunden ist.
Hans-Hellmut Allers (Berlin)
Du wunderliches Kind
Bettine von Arnim und ihre Beziehung zu Goethe
Prof. Detlev Jena (Eisenberg/Jena)
Die sehnlichst Erwartete
Goethes Verhältnis zur Großfürstin
Maria Pawlowna
Dr. Heike Spies (Düsseldorf)
Mariane, Philine, Aurelie….
Die Frauengestalten in Goethes Roman
Wilhelm Meisters Lehrjahre
86
Im  November  widmet  sich
Klaus-  Michael  Koeppen
Goethes letzter  Liebe,  Ulrike
von   Levetzow,  und  erläutert
dem Publikum, warum  Goethe
1823  am  Herzen  erkranken
mußte, und daß dies ein gera-
dezu  klassisches  Beispiel  von
psychosomatischen Leiden dar-
stelle.
Den  Reigen  beschließt  im  Dezember Monika
Schopf-Beige mit einem faktenreichen Vortrag über
Goethes Schwiegertochter. Diese, geborene Ottilie
von Pogwisch, lebt allein bei der Mutter und Groß-
mutter,  einer  geborenen  Henckel  von  Donners-
marck. Von Zeitgenossen wird sie beschrieben als
klein  und  zierlich,  sie  hat  ausdrucksvolle  blaue
Augen, schönes Haar und kann gewandt plaudern;
sie singt, zeichnet, ist gefühlvoll und früh gewitzt,
gelehrig, begeistert sich für Byron, hat Freude am
Theater und dichtet auch ein wenig.
Goethe setzt große Hoffnungen in diese junge Frau,
um die  sein Sohn August wirbt. Schließlich ent-
schließt sie sich im Juni 1817, also ein Jahr nach
Christianes Tod, mit knapp 21 Jahren nach einigem
Widerstreben die Frau August von Goethes zu wer-
den,  doch  vor  allem  die  Schwiegertochter  des
Weimarer Dichterfürsten.
In der Mansardenwohnung am Weimarer Frauen-
plan ist sie wohl mehr die mit dem berühmten Dich-
ter geistvoll plaudernde Schwiegertochter als die
sich  dem  Ehemann  August  liebevoll  widmende
Gattin,  dem  sie  immerhin  drei  Kinder  gebärt:
  Walther Wolfgang (1818), Wolfgang Maximilian
(1820) und das 1827 geborene Nesthäkchen Alma.
Während Ottilie sich neben dem Schwiegervater zu
behaupten weiß, ist August eher eine fatale Rolle
zugeteilt: Der Vater hat ihn herangezogen, damit er
Goethes Geschäfte verwaltet; für ihn die Honorar-
verhandlungen mit den Verlegern führt und über-
haupt  alles  übernimmt,  was  Goethe  von  seinen
wichtigen Hauptgeschäften, seinen Korresponden-
zen und seinem dichterischen Tun abhält.
Dies  erfüllt  er  zwar  alles  zur  Zufriedenheit  des
Vaters, doch Ottilie entgeht dieser etwas entwürdi-
gende Status des Ehemanns quasi als Haushofmei-
ser  am  Frauenplan  keinesfalls  und  das  läßt  sie
August auch spüren. Die Ehe ist alles andere als
harmonisch.
15 Jahre lang wird sie nun die
nächste  Mitbewohnerin  des
Dichters.  Rasch  entwickelt
sich die geistreiche Schwie-
gertochter zum Anziehungs-
punkt  der  internationalen
Gästeschar des alten Goethe.
1829  gründet  sie  die  Zeit-
schrift Chaos,  in  der  neben
Goethe und den Weimarer Freun-
den auch zahlreiche berühmte Zeitgenossen vertre-
ten sind.
Nach zwölf Ehejahren projiziert Ottilie ihre uner-
füllte Liebessehnsucht auf den neunzehnjährigen
Iren Charles James Sterling, der Goethe im Auftrage
Lord Byrons besucht.
Sterling bleibt ein Jahr lang in Weimar; zur selben
Zeit, da der 74-jährige Goethe seine Marienbader
Affäre mit Ulrike von Levetzow hat, bahnt sich zwi-
schen Ottilie und Sterling eine von Ottilie leiden-
schaftlich betriebene Beziehung an.
Dennoch erfüllt sie weiterhin ihre Pflichten als Mut-
ter  und  Schwiegertochter.  Augusts  Alkohol-
probleme und Ottilies Liebschaft belasten die Ehe
allerdings bald so schwer, daß August sich zu einer
Reise nach Italien entschließt, wo er 1830 in Folge
eines Nierenversagens stirbt.
Nach seinem Tod lebt Ottilie weiterhin bei ihrem
Schwiegervater; obwohl sie sich gelegentlich von
Goethe überfordert fühlt, gehört er, den sie liebevoll
Vater nennt,  zu  den wenigen  stabilen  Größen  in
ihrem Leben.
Als Goethe 1832 stirbt, verfügt er in seinem Testa-
ment, daß an Ottilie eine Rente auf Lebenszeit nur
unter  der  Prämisse ausgezahlt wird,  daß sie von
einer erneuten Heirat absieht.
Dr. Klaus-Michael Koeppen (Berlin)
Keine Liebschaft war es nicht
Ulrike von Levetzow –
Traum oder Wirklichkeit?
Monika Schopf-Beige (Ludwigsburg)
Was Du mir als Kind gewesen,
was Du mir als Mädchen warst
Ottilie von Goethe
87
Zum Auftakt führt uns Werner Busch Goethes Ver-
hältnis zur bildenden Kunst vor Augen. Seine ersten
bewußten Kunsteindrücke: Die Gemälde der zeit-
genössischen Frankfurter Malerschule deren Land-
schaften  der  Vater  sammelt.  Noch  mehr
beeindrucken ihn die Renaissance-Kupferstiche im
Treppenhaus, die über drei Jahrzehnte seine Vor-
stellung von Rom prägen werden.
Der Leipziger Student nimmt Un-
terricht  beim   Kupferstecher
Adam Friedrich Oeser, doch mit
der arabesken Formensprache
des Rokoko vermag er wenig
anzufangen. Es folgt die Straß-
burger Sturm- und-Drang-Zeit,
in  der  der  Zweiundzwanzig-
jährige  den Aufsatz Von  deut-
scher Baukunst verfaßt, in dem er
über  die  gotische  Bauweise  des
Münsters und seiner Details reflektiert.
Den entscheidenden Einschnitt markiert die Italien-
reise.  Die  dort  gewonnenen  Eindrücke  werden
Goethes  Kunstideal  für  die  nächsten  Jahrzehnte
prägen. An den aus der Geschichte  der Antike und
der  Renaissance  gewonnenen  Vorstellungen  des
Menschenbildes, der Architektur- und Naturdarstel-
lung richtet Goethe nun seine kunsterzieherischen
Bemühungen in den nächsten Jahren aus. Sie prä-
gen in der Zeit um 1800 auch seine aktive Einfluß-
nahme gegen die Romantiker;
Erst im letzten Drittel seines Lebens – nach der
durch Sulpiz Boisserée herbeigeführten Wiederbe-
gegnung mit Motiven der altdeutschen Malerei –
wird  Goethe  versöhnlicher  anderen  Kunstauf-
fassungen gegenüber gestimmt. Sein hohes künst-
lerisches  Schönheitsideal  –  die  harmonische
Verbindung des Menschen mit der Natur – bildet
das Leitthema seiner Sammlung von über 17.000
Graphikblättern.
Im Februar gibt uns Hans-Hellmut Allers einen
detaillierten Einblick in das Bühnengeschehen hin-
ter den  Kulissen  des Weimarer Theaters,  dessen
Leitung Goethe über 25 Jahre innehat. Von beson-
derem Interesse ist  für viele Zuhörer auch die enge
Verbindung  zu den Berliner Bühnen, die der Dra-
matiker, Intendant und Spieleiter Goethe Zeit seines
Lebens sucht.
Goethe steht mit Iffland, Devrient und vielen ande-
ren  in  engem  Briefkontakt  und  läßt  sich  später
regelmäßig von seinem vertrauten Freund Zelter
berichten, wie das Publikum auf welche Inszenie-
rungen reagiert habe.   
2004                
Goethe und die Künste
Prof. Dr. Werner Busch (Berlin)
Goethe und die Künstler
Hans-Hellmut Allers (Berlin)
Erlaubt ist, was gefällt
Der Theaterleiter Goethe
Prof. Dr. Katharina Mommsen (Palo Alto)
vielleicht die kultivierteste Frau in Europa
Die Malerin Angelica Kauffmann
Michael Engelhard (Bonn)
Nichts Höheres, nichts Vollkommeneres…
Goethe und Palladio
Gottfried Eberle (Berlin)
Symbolik fürs Ohr
Goethe und die Musik
Prof. Dr. Ernst Osterkamp (Berlin)
Goethe als Leser
Johann Joachim Winckelmanns
88
89
Im italienischen Tagebuch (für Charlotte von Stein)
heißt es unter dem Datum 19. Oktober 1786: Zwey
Menschen, denen ich das Beiwort groß, ohnbedingt
gebe, habe ich näher kennen lernen: Palladio und
Raphael. Es war an ihnen nicht ein Haarbreit Will-
kürliches,  nur  das  sie  die  Grenzen
und  Gesetze  ihrer  Kunst  im
höchsten Grade kannten und
mit  Leichtigkeit  sich  darin
bewegten,  sie  ausübten,
macht sie groß!
Michael Engelhard bringt
uns  rhetorisch  beeindru-
ckend und kenntnisreich den
führenden  Baumeister  der
norditalienischen  Renaissance
näher. Dessen Schriften mit Grundris-
sen und Stichen der antiken Tempelbauten erwirbt
Goethe in Padua  und macht sich auf den Weg nach
Rom, dessen klassische Bauten er nun durch die
Augen Palladios zu sehen beginnt: Jetzt studier ich
das  Buch  und  es  fallen  wie  Schuppen  von  den
Augen, der Nebel geht auseinander und ich erkenne
die Gegenstände.
Im  Mai  ist  zur  Abwechslung  die  Musik  an  der
Reihe. 50 Mitglieder lauschen Gottfried Eberles
Ausführungen,  betitelt Symbolik  fürs  Ohr  in  der
Dahlemer Geschäftsstelle. Wir erfahren viel Neues
und  Wissenswertes  über  Goethes  Verhältnis  zur
Musik,  im  Besonderen  zu  zeitgenössischen
Musikern wie Mozart, Beethoven und Schubert, zu
Reichhardt und Zelter, der ihn in Weimar mit dem
jungen  Felix  Mendelssohn-Bartholdy  bekannt
macht.
Eberle, jahrzehntelang Musikredakteur beim RIAS,
reichert seinen faktenreichen Vortrag immer wieder
mit Musikbeispielen am Klavier an, einprägsam er-
gänzt durch die junge Nachwuchssopranistin Ute
Eckert, die unter einem Zelter-Gemälde Vertonun-
gen Goethischer Gedichte vorträgt, neben den Ever-
greens Veilchen, Erlkönig, Rattenfänger und Wer
nie sein Brot mit Tränen aß eben auch solche, die
man nicht alle Tage zu hören bekommt.
Zur  Einstimmung  auf  die
Schweizer Reisen reist in der
ersten  Augusthälfte Jochen
Klauss aus  Weimar  an,  um
uns über das Verhältnis Goe-
thes  zum  Künstlerfreund
Heinrich Meyer zu unterrich-
ten.  Diesen  hatte  Goethe
1786  in  Rom  kennen  und
bald als unentbehrlichen Rat-
geber schätzen gelernt. 1791 zog der Kunschtmeyer
ins Haus am Frauenplan mit ein, dessen  Ausgestal-
tung  Goethe dem Freund während seiner durch die
Teilnahme an den Feldzügen von Valmy und Mainz
bedingten Abwesenheit  überläßt. 1795 überträgt
ihm Goethe die Leitung der Freien Zeichenschule.
Den  Zeitgenossen  ist  ein  wenig  unverständlich,
warum Goethe sich ausgerechnet auf das Urteil die-
ses als Maler eher mittelmäßig talentierten Schwei-
zer  Kunsthistorikers offenbar  blindlings  verläßt.
Relativ wenig schriftliche Zeugnisse von Dritten
sind überliefert, aus denen sich ein Charakterbild
Meyers ergibt. Goethe schätzt diesen kunstsinnigen
Hausgenossen so sehr, daß er einmal äußert: Wenn
er stirbt, so verlier ich einen Schatz, den wiederzu-
finden ich für das ganze Leben verzweifle. Meyer
hielt sich daran und überlebte Goethe um wenige
Wochen.
Im September beschert uns Hans-Wolfgang Kend-
zia neue Erkenntnisse über Goethes Portraitisten.
Zu Goethes Lebzeiten entstehen über 80 Portraits,
Schattenrisse, Bleistift-, Sepia-, Kreide- und Tusch-
zeichnungen, Radierungen, Kupferstiche, Minia-
turen sowie Reliefs, Skulpturen und mehr als ein
Dutzend Ölgemälde.
Der Vortragende konzen-
triert  sich  notabene  auf
jene  Portraits  des  Dich-
ters,  die  Goethes  Natur
und seinem Wesen wohl
am nächsten kommen: die
Bleistiftzeichnung  des
26-Jährigen  etwa  von
Georg  Melchior  Kraus;
Martin  Gottlob  Klauers
Büste von 1790, ferner die Altersbildnisse Heinrich
Kolbes  und  Joseph  Karl  Stielers  und  die  Büste
Christian Daniel Rauchs. Interessantes ist zu erfah-
ren über Goethes Verhältnis zu seinen Portraitisten
und ihren »Hervorbringungen«, von denen er nur
den geringeren Teil gelten ließ.
Mit der ihm eigenen kunsthistorischen Kompetenz
und  Detailkenntnis  referiert Helmut  Börsch-
Suphan über das Verhältnis Goethes zu dem Berli-
ner Architekten und Maler Karl Friedrich Schinkel,
den er persönlich erst 1816 kennenlernt.Vier Jahre
später trifft man sich in Jena, wo Schinkel ihm die
Pläne für sein neues Schauspielhaus in Berlin zeigt,
die  bei  Goethe auf  großes  Interesse stoßen,  ent-
spricht doch die Art, wie der um 32 Jahre Jüngere
die griechische Baukunst den Bedürfnissen eines
modernen Theaters anzupassen versteht, ganz sei-
nem eigenen Kunstideal.
In seinen Annalen verzeichnet er:
...eine lebhafte, ja leidenschaftli-
che  Kunstunterhaltung  und  ich
durfte  diese  Tage  unter  die
schönsten  des Jahres rechnen.
Dr. Jochen Klauss (Weimar)
Wenn er stirbt, so verlier ich einen Schatz...
Johann Heinrich Meyer,
Goethes Künstlerfreund
Hans-Wolfgang Kendzia (Berlin)
Goethes Portraitisten
und sein Verhältnis zu ihnen
Dr. Helmut Börsch-Suphan (Berlin)
Mögen wechselseitige Zeugnisse dieses
glückliche Verhältnis immerfort beleben…
Goethe und Schinkel
90
Neue  Einsichten  bieten  auch  die  Ausführungen
Norbert  Millers  über  den  Zeichner  Goethe,  in
denen er sich auf die Begegnung des Dichters mit
Jakob  Philipp  Hackert  konzentriert,  dem  wohl
berühmtesten  Landschaftsmaler  seiner  Zeit.
Goethe, der zuvor mehr oder minder als Autodidakt
...doch nicht ganz ohne Talent Thüringer Berge und
Burgen aufs Papier gestrichelt hat, geht nun hier
noch einmal in die Schule und studiert Kompositi-
onslehre- und Ausführung. Hackert verachtet den
bloßen  Kunst-Enthusiasmus  der  Dilettanten;  die
flüchtig schraffierte Impression ist ihm ebenso är-
gerlich wie die durch heftige zum Ereignis drama-
tisierte Naturansicht. Sein Credo Die Natur trägt
die Schönheit in sich macht Goethe sich zu eigen,
muß sich freilich alsbald eingestehen, daß der eige-
nen gestalterischen Begabung hier Grenzen gesetzt
sind.
Im Dezember schließt
sich  der  thematische
Reigen mit Manfred
Koltes Vortrag  über
Das  Verhältnis  der
Gebrüder  Boisserée
zu Goethe. Bevor wir
jene  Baurisse  des
noch unfertigen Köl-
ner  Doms  zu  sehen
bekamen,  mit  denen
der  Kunstsammler
Sulpiz  Boisserée  1810  Goethe  an  den  Rhein  zu
locken  versuchte, gab  es  erst einmal Außen-und
Innenansichten  des  Weimarer  Goethe-Schiller-
Archivs zu sehen.
Dort nämlich befinden sich die Briefe Sulpiz Bois-
serées an Goethe, die – wie seit kurzem der gesamte
übrige Goethe-Bestand – von Manfred Koltes be-
treut werden. Erstaunt nehmen wir zur Kenntnis,
daß dem jungen Rheinländer häufig so das Herz
übersprudelte, daß er ganz vergißt, über seine Zei-
len eine Anrede zu setzen. 1814 endlich entschließt
sich Goethe die Boisserée’sche Sammlung in Hei-
delberg anzuschauen, deren Schätze altdeutscher
und niederländischer Meister einen tiefen Eindruck
auf ihn machen.
Prof. Dr. Norbert Miller
Der Dichter, ein Landschaftsmaler
(Dia-Vortrag)
Dr. Manfred Koltes (Weimar)
Das Verhältnis der Gebrüder Boisserée
im Spiegel ihrer Korrespondenz
91
1791 eröffnet das Weimarer Hoftheater. Goethe ist ein
strenger Theaterchef; er will den ganzen komödian-
tischen Stand und damit das deutsche Theater zu klas-
sischer  Höhe  treiben.  Erstmals  hat  Weimar  ein
eigenes Ensemble, erstmals einen eigenen Direktor.
Goethe, gerade von der zweiten Italienreise zurück,
ist voll Elan für einen neuen Anfang. Bisher gab es in
Weimar mit dem benachbarten Sommerbad Lauch-
städt nur das vom Hofadel und dem Herrn von Goethe
selbst gespielte Liebhabertheater oder fahrende Thea-
tertruppen ließen sich kurzfristig nieder. Deren Zeit
geht nun zu Ende. Überall in Deutschland entstehen
feste Hof- und Nationaltheater; Weimar will im 1776
erbauten Komödienhaus mithalten.
Alle sind angesteckt vom Goethes Ernst und Elan. Als
der erste Vorhang sich hebt, will man die Sache of-
fenbar bescheiden  angehen. Goethes Prolog:
Der Anfang ist in allen Sachen schwer;
Bei vielen Werken fällt er nicht ins Auge.
Der Landmann deckt den Samen mit der Egge,
Und nur ein guter Sommer reift die Frucht;
Der Meister eines Baues gräbt den Grund
Nur desto tiefer, als er hoch und höher
Die Mauern führen will; der Maler gründet
Sein ausgespanntes Tuch mit vieler Sorgfalt,
Eh' er sein Bild gedankenvoll entwirft,
Und langsam entsteht, was jeder wollte.
Nun, dächten wir, die wir versammelt sind,
Euch manches Werk der Schauspielkunst zu zeigen,
Nur an uns selbst; so träten wir vielleicht
Getrost hervor und jeder könnte hoffen
Sein weniges Talent euch zu empfehlen.
Allein bedenken wir, daß Harmonie
Des ganzen Spiels allein verdienen kann
Von euch gelobt zu werden, daß ein Jeder
Mit jedem stimmen, alle mit einander
Ein schönes Ganzes vor euch stellen sollen:
So reget sich die Furcht in unsrer Brust.
Von allen Enden Deutschlands kommen wir
Erst jetzt zusammen; sind einander fremd,
Und fangen erst nach jenem schönen Ziel
Vereint zu wandeln an, und jeder wünscht
Mit seinem Nebenmann, es zu erreichen;
Denn hier gilt nicht, daß einer atemlos
Dem andern heftig vorzueilen strebt,
Um einen Kranz für sich hinweg zu haschen.
Wir treten vor euch auf, und jeder bringt
Bescheiden seine Blumen, daß nur bald
Ein schöner Kranz der Kunst vollendet werde,
Den wir zu eurer Freude knüpfen möchten.
Und so empfehlen wir mit bestem Willen
Uns eurer Billigkeit und eurer Strenge.
92
Drei Jahrzehnte später verrät er Eckermann, er sei
mit Vernügen an die Arbeit gegangen. Nicht ohne
wirtschaftliche Rücksichtnahme, ist dafür doch
nur wenig Geld vorhanden. Auch muß er dem
Geschmack des Publikums Rechnung tragen. Al-
lein 87 Titel von  Kotzebue und 38 von Iffland
lässt Goethe während seiner Intendanz spielen,
die  25  Jahre  später  wegen  der  Intrige um  den
legendären dressierten Hund auf der Bühne zu
Ende gehen soll. Das  Publikum und die Schau-
spieler müssen zu Größerem erzogen werden, zu
Shakespeare, Calderon, Molière und nicht zuletzt
zu Goethe und Schiller.
Genauso wichtig wie das Sprechtheater ist ihm
das  Musiktheater,  das  auch    Herzenssache  der
Herzoginmutter ist; eine besondere Freude für den
Theaterchef, wenn er vor allem Mozart spielen
lassen kann. 280 Mal kommen Mozarts Opern in
Goethes Intendantenzeit vor. Fasziniert ist er vor
allem von der Zauberflöte, die in Weimar mit dem
von  ihm  entworfenen  Bühnenbild  so  auf  die
Bühne kommt, daß an den Abenden die Türen
offen stehen müssen, da das Haus das Publikum
nicht fassen kann.
93
Katharina Mommsen präsentiert uns die vielleicht
kultivierteste Frau iher Zeit in Europa: die Malerin
Angelica  Kauffmann,  eine  der  wenigen  begabten
Künstlerinnen  des  18.  Jahrhunderts,  war  eine
Ausnahmeerscheinung.  Goethe  war  ihr  in  Rom
begegnet, hatte ihr Modell gesessen für ein Portrait,
das einen etwas effeminierten Dichter zeigt, der dazu
meint: ...ein hübscher Bursche, aber keine Spur von
mir.
In ihr lernt er zum ersten Mal eine Malerin von in-
ternationalem Ansehen kennen, zählt sie doch nicht
nur zu den gesuchten Portraitisten der Gesellschaft,
sondern gilt als anerkannte Historienmalerin. Sein
Urteil: Sie hat unglaubliches und als Weib wirklich
ungeheures Talent! quittiert das überwiegend weib-
liche Publikum im Auditorium mit vernehmlichem
Räuspern.
Er liest ihr aus Iphigenie und aus Egmont vor, die
sie illustriert. Sie faßt Vertrauen zu ihm und gibt zu
erkennen, daß sie gern aus ihrem Arbeitsalltag aus-
brechen und ein anderes Leben führen würde.
Bildnisaufträge machen zeitlebens den lukrativsten
Hauptbestandteil ihres künstlerischen Œuvres aus.
Neben  Herrscherporträts  für  die  neapolitanische
Königsfamilie und dem Bildnis für Kronprinz Lud-
wig von Bayern porträtierte sie Künstlerkollegen
wie  Reynolds  und  Jakob  Philipp  Hackert  sowie
zahlreiche Romreisende, unter ihnen Goethe und
Herder. Doch auch auf dem Gebiet der Historien-
malerei, welches Frauen aufgrund des Aktstudiums
nahezu verschlossen bleibt, genieß Angelica Kauff-
mann hohes Ansehen. Wichtige Aufträge führte sie
u.a. für Kaiser Joseph II. und für das russische Herr-
scherhaus aus.
Viele ihrer Werke, in denen sich trotz ihres rokoko-
haften, leichten Farbauftrags klassizistische Tenden-
zen  spiegeln,  werden  bereits  zu  Lebzeiten  in
Stichfolgen verbreitet und  finden dekorative An-
wendung auf kunstgewerblichen Gegenständen. Die
zeitgenössische  Begeisterung  für  Kauffmanns
Werke finden ihren Ausdruck im enthusiastischen
Ausruf: The whole world is angelicamad!
Die  für  eine  bürgerliche  Frau  ungewöhnliche
Karriere  zu  einer  angesehenen,  hochdotierten
Künstlerin und zum Mitglied der Akademien von
London, Rom,  Florenz,  Bologna und Venedig ist
nicht nur auf Kauffmanns früh entwickeltes künst-
lerisches Talent zurückzuführen, sondern auch auf
ihre gesellschaftliche Akzeptanz und ihre viel ge-
rühmte zarte Seele, dem Inbegriff weiblicher Emp-
findsamkeit.
94
Ernst Osterkamp legt dar, wie früh bereits in
der Leipziger Studentenzeit Joachim Winckel-
manns  Ideal  der  autonomen,  körperlich  wie
geistig schönen Persönlichkeit – vermittelt durch
den glühenden Winckelmann-Verehrer Oeser –
auf den 17-jährigen Goethe einwirkt. In Rom er-
wirbt er das Hauptwerk Winckelmanns in italie-
nischer  Sprache  und  steht  –  wie  auch  sein
gesamter römischer Freundeskreis – von nun an
unter dem Eindruck von dessen Gedanken und
Idealen. Gewissenhaft stattet er auf Spuren sei-
nes Mentors in Sachen Antike den Zeugnissen
der Vergangenheit seinen Besuch
ab, wobei er insbesondere seiner
Begeisterung über den Apoll von Belve-
dere in Briefen an die Freunde hymnisch
Ausdruck  verleiht: Gewaltiger  Eindruck
eines göttlichen Marmorbildes.
Ähnlich wie sein Vorbild Winkelmann be-
ginnt auch Goethe bereits während seines
Italienaufenthalts den eigenen Bildungs-
weg als etwas Besonderes zu sehen, als ein
bewußt formbares Kunstwerk, das
auf das Leben zu übertragen sei. Goethes Refle-
xionen über die Totalität des Kunstwerks, in dem
sich die menschliche Schönheit verewigt, stellen
den Künstler zwar als zweiten Schöpfer dar, sein
Werk wird jedoch als autonome Schöpfung be-
trachtet und nicht mehr zu den Hervorbringun-
gen in der Natur gezählt.
Nach seiner Rückkehr aus Italien beginnt sich
Goethe  intensiv  mit  Winckelmanns  Kunstan-
schauungen  im  Einzelnen  zu  beschäftigen;  er
verfaßt eine Reihe von Aufsätzen, in denen er
noch einmal alles resümiert, was er mit Moritz in Italien,
mit Meyer und auch mit Schiller über Antikes, Heidni-
sches und ihre jeweiligen Auffassungen zeitloser Schön-
heit durchgesprochen und durchgearbeitet hat.
Auf diese Weise entsteht eine einzigartige Aufsatzsamm-
lung, die neben Winkelmanns Briefen den Entwurf einer
Kunstgeschichte des 18. Jahrhundert umfaßt. Glanzstück
des Werkes ist jedoch Goethes Charakteristik Winkel-
manns, die in weit ausgreifenden Betrachtungen eine
Übersicht über die Erscheinung dieses Mannes als
eines großartigen Repräsentanten des Zeitalters bie-
tet.
Der Referent legt dem Auditorium wärms-
tens  die  Lektüre  von Goethes  Winckel-
mann und sein Jahrhundert ans Herz; man
sollte sich das Werk allerdings besser aus-
leihen, gehört es doch zu jenen Ausnah-
mepublikationen,  die  vom  derzeitigen
Preisverfall bei Büchern nicht betroffen
sind; der Reprint mit Illustrationen kostet
nach wie vor im Buchhandel stolze € 98.
95
Seine Zeichnungen wirken bescheiden. Zart fließen
die wasserdünnen Farben in Aquarelltechnik inei-
nander, färben den Himmel blassblau, den Horizont
blassrosa, das Laub der Bäume blassgrün.
Wenn man Goethes Zeichnungen, auch die bekann-
teren von seiner Italienreise, betrachtet, könnte man
meinen, der Dichter nehme sich beim Zeichnen sehr
zurück.  Es  scheint das  Kraftvolle zu  fehlen, das
seine  Dichtung  so  auszeichnet.  Dieser  Eindruck
deckt  sich  durchaus  mit  der  Selbsteinschätzung
Goethes: Täglich wird mir's deutlicher, dass ich ei-
gentlich zur Dichtkunst geboren bin und dass ich
die nächsten zehen Jahre, die ich höchstens noch
arbeiten darf, dieses Talent exkolieren  und noch
etwas Gutes machen sollte, da mir das Feuer der
Jugend  manches  ohne  großes  Studium  gelingen
ließ. Von meinem längeren Aufenthalt in Rom werde
ich den Vorteil haben, dass ich auf das Ausüben der
bildenden Kunst Verzicht tue.
Selbst später, als er ein alter Mann und seines Ruh-
mes sicher war, schreibt er über sein Zeichentalent:
Was ich aber sagen wollte, ist dieses, dass ich in
Italien in meinem vierzigsten Jahre klug genug war,
um mich selber insoweit zu kennen, dass ich kein
Talent zur bildenden Kunst habe.
Doch was auf uns – und ihn selbst – manchmal so
unentschieden gewirkt haben mag, entspricht in vie-
lerlei Hinsicht der Technik und dem Verständnis der
Epoche. Freilich, Goethe schreibt selbst: Ich hatte
eine gewisse Furcht, die Gegenstände auf mich ein-
dringend zu machen, vielmehr war das Schwächere,
das Mäßige nach  meinem  Sinn.  Machte ich eine
Landschaft und kam ich aus den schwachen Fernen
durch  die  Mittelgründe  heran,  so  fürchtete  ich
immer,  dem  Vordergrund  die  gehörige  Kraft  zu
geben, und so tat denn mein Bild nie die gehörige
Wirkung.
Doch betrachtet man Zeichnungen seines großen
Vorbilds und Lehrers  in  Italien  Philipp  Hackert,
wird die Verwandtschaft augenfällig. Hackert malt
keine Stimmungen, sondern Details. Er strebt da-
nach, in den Konturen eines Baumes, in der Struk-
tur der Rinde und der Form der Blätter noch die
Buche erkennbar zu machen. In dieser Detailver-
sessenheit kann der zeichnende Goethe sich wieder-
96
finden.  So  bringt  er  nicht  nur  Land-
schaften und Tempel aufs Papier, son-
dern  auch  anatomische  Studien  und
naturwissenschaftliche Skizzen – auch
als bildschaffender Künstler fühlt sich
Goethe den Anhängern Johann Joachim
Winckelmanns verbunden, den Klassi-
zisten.
2700 Zeichnungen Goethes sind erhal-
ten. Der zehnbändige Corpus der Goe-
the-Zeichnungen macht  deutlich,  daß
der Dichter durchaus einen überdurch-
schnittlich ausgeprägten Sinn für For-
men und Farben hatte. Sein Vater wäre
stolz auf ihn gewesen. Über ihn schrieb
Goethe  in Dichtung  und  Wahrheit:
Zeichnen müsse jedermann lernen, be-
hauptete mein Vater. Auch hielt er mich
ernstlicher dazu an als zur Musik.
97
Auftakt des Vortragszyklus Das Goethe-Schiller-
Jahrzehnt bildet der Einführungsvortrag von Hans-
Hellmut Allers, der den 120 Zuhörern anschaulich
vor Augen führt, welch große Hindernisse zu über-
winden waren, bis die beiden so unterschiedlichen
Charaktere Goethe und Schiller zueinander finden
konnten, um  schließlich  über  ein Jahrzehnt  lang
gemeinsam jene dioskurische Dichterwerkstatt zu
betreiben, die in der Literaturgeschichte wohl ein-
zigartig ist.
Wer aus den letzten fünf Jahrzehnten des 20. Jahr-
hunderts  literarische  Hervorbringungen  für  das
Theater in deutscher Sprache zu nennen wüßte, die
es mit  den damals entstandenen Klassikern aufnah-
men könnten, der trete hervor.
Ein  Experiment  stellt das  im  Februar von
Monika Schopf-Beige veranstaltete Mär-
chen-Seminar samt Rollenspiel dar. 30 Mit-
glieder lassen sich davon überzeugen, daß
Goethes 1794 entstandenes Märchen eine
Botschaft an den Freund Schiller enthalte
– eine Entdeckung, die Katharina Momm-
sen bereits vor einigen Jahren pu-
bliziert hatte.
Der  März-Vortrag  von Rainer
Schmitz Weimarer Xenien, Berliner
Prügeleyen beschert den Zuhörern
interessante Einsichten hinsichtlich
der  literarischen  Streitkultur  um
1800. Zwischen 1795-96 verfassen
die beiden Dichter nahezu tausend
Xenien, ironische Spitzen auf bor-
nierte Kritiker und andere medio-
kre, publizistisch tätige Zeit-
genossen wie etwa der Ber-
liner Buchhändler Friedrich
Nicolai, der seinerseits sa-
tirische  Angriffe  gegen
Goethe, Schiller und Her-
der geritten hatte und als
organisatorischer Mittel-
punkt  der Berliner Auf-
klärung galt.
2005             
Das Goethe-Schiller- Jahrzehnt
Hans-Hellmut Allers (Berlin)
Glückliches Ereignis…
Goethe und Schiller –
Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft
Monika Schopf-Beige (Ludwigsburg)
Das Märchen –
Eine Botschaft Goethes an Schiller
Zweitägiges Seminar
Rainer Schmitz (München)
Weimarer Xenien, Berliner Prügeleyen...
Anmerkungen zur literarischen
Streitkultur um 1800
Prof. Dr. Rolf-Peter Janz (Berlin)
Die Braut von Messina und Iphigenie
Schillers und Goethes Annäherung
an das antike Theater
98
Im April unterrichtet uns der FU-Dozent Rolf-Peter
Janz über die unterschiedliche Herangehensweise
der beiden Dichter an das antike Theater . Dem Au-
ditorium ist manches neu, was Schillers dramati-
sche  Kunstauffassung  anbetrifft,  etwa  seine
Rechtfertigung, in der Braut von Messina wieder
den antiken Chor einzuführen: Ein poetisches Werk
muß sich selbst rechtfertigen, und wo die That nicht
spricht, da wird das Wort nicht viel helfen. Man
könnte es also gar wohl dem Chor überlassen, sein
eigener Sprecher zu sein.
Der Mai beschert uns ein weiteres Mal das Glück,
Katharina Mommsen als Referentin zu hören, die
uns überzeugend darlegt, daß der Tell eigentlich ein
Gemeinschaftswerk  beider  Dichter  gewesen  sei.
Seine Teilhabe am Entstehungsprozeß geht weit da-
rüber hinaus, daß er lediglich Schillers Aufmerk-
samkeit auf den Stoff lenkte. Ursprünglich gedachte
Goethe, den Stoff selbst zu bearbeiten; nun schildert
er dem Freund lebendig die Tell-Gedenkstätten in
den Ur-Kantonen. Aus Katharinas Mommsens Vor-
trag mehr auf der folgenden Doppelseite.
Im September erläutert Volker Hesse aus der Sicht
des erfahrenen Arztes die verschiedenen schweren
Krankheiten, die den Dichter seit der Jugend pla-
gen. Das Resumée: Nur Schillers starker Wille, der
in seinem Credo zum Ausdruck kommt: Es ist der
Geist, der sich den Körper baut, kann die erstaun-
liche Tatsache erklären, daß ein Mensch mit einer
derart labilen Gesundheit, die ihn häufig zur Arbeit
unfähig machte, überhaupt in der Lage ist, in einer
Lebensspanne von nicht einmal zwei Jahrzehnten
ein derartiges Werk zu schaffen.
Im Oktober erwartet uns ein Vortrag von
Hans-Jürgen Schings, betitelt: Die Wei-
marer Klassiker und das Böse am Bei-
spiel von »Wallenstein« und »Faust I
Thematischer  Roter  Faden:  der  Pakt
zwischen Gut und Böse, gewissermaßen
als Dreh- und Angelpunkt beider Stücke.
Der  Disput  zwischen  den  guten  und
schlechten Kräften bleibt im Wallenstein
abstrakt und intellektuell. Faust dagegen
muß  sich  mit  einem  veritablen  Teufel
herumschlagen.
Im November läßt uns Hans-Wolfgang-Kendzia
noch einmal teilhaben an der geistigen Atmosphäre,
die in diesem nach erheblichen Anlaufschwierigkei-
ten  zustande  gekommenen Arbeits-  und  Freund-
schaftsbund herrschte. Das Goethische Bekenntnis:
Ich bin Ihnen nah, mit allem, was in mir denkt und
lebt vermag uns dieser eindrucksvolle Abend bild-
haft vor Aug und Ohr zu führen, hat der Referent
doch noch eine Überraschung parat: Vom Band er-
klingt der Anfang des Briefwechsels, gelesen von
Will Quadflieg und Gerd Westphal.
Im Dezember haben sich Ulrich Ritter und Erwin
Schastok mit ihrem Live-Programm: Atemlos in
unserer Mitte zum Ziel gesetzt, einen inhaltlichen
Akzent  auf  jenen  Zeitraum  zu  setzen,  da  beide
Dichter einander noch persönlich fremd waren und
im jeweils anderen zunächst allein den Konkurren-
ten sehen.
Wir werden Zeuge, wie der von einer anfänglichen
Hassliebe erfüllte Schiller gegen den älteren erfolg-
reichen Goethe zunächst polemisiert, um später –
nach  Einsetzen  der  Korrespondenz  –  doch  sehr
wohl zu registrieren, daß nicht nur er als Jüngerer
von Goethe lerne, sondern daß auch dieser nun sehr
wohl von seinen, Schillers Ratschlägen profitiere.
Prof. Dr. Volker Hesse (Berlin)
Ohne Gesundheit kann man nicht gut sein
Schiller, Goethe und die Medizin
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings (Berlin)
Die Weimarer Klassik und das Böse
Beispiele Faust und Wallenstein
Hans-Wolfgang Kendzia (Berlin)
Ich bin Ihnen nah mit allem,
was in mir lebt und denkt…
Anmerkungen zum Briefwechsel
zwischen Goethe und Schiller
Ulrich Ritter und Christian Steyer lesen:
Atemlos in uns’rer Mitte
Goethe und Schiller – eine Begegnung
99
In neuerer Zeit hört und liest man immer wieder die
Behauptung,  Schiller  habe  den  Stoff  zu  seinem
Wilhelm Tell nur aus Büchern geschöpft. Bei nähe-
rer Beschäftigung mit der Entstehungsgeschichte
von Schillers Tell stellt sich heraus, daß Goethes
Anteil weit größer ist, als bisher von der Forschung
bemerkt wurde. Goethes Teilhabe an der Konzep-
tion und dem Entstehungsprozess des Tell, gehört
zu den  ergreifendsten  Beweisen  seiner  Liebe zu
Schiller;  er  fördert  den  schwerkranken  jüngeren
Freund,  dem nur noch  eine  kurze Lebensspanne
vergönnt ist, insgeheim, um ihm mit dem Tell zum
größten Erfolg seines Lebens zu verhelfen.
Bekannt ist die Tatsache,  daß Goethe im  Herbst
1797 an Schiller schreibt, er habe sich die großen
Naturszenen, die den Vierwaldstättersee umgeben,
wieder recht genau vergegenwärtigt und plane, den
Tell-Stoff zu behandeln. Schiller weiß, daß Goethe
sich  zum  dritten  Mal  auf  Tells  Spuren  befindet,
denn  er  kennt  dessen  frühere  Briefe  aus  der
Schweiz von 1775 und 1779. Goethe hat sie ihm,
dem immer um Stoff verlegenen Herausgeber der
Horen, im Februar 1796 zur Verfügung gestellt, und
Schiller macht tatsächlich  durch  die Veröffentli-
chung der Briefe auf einer Reise nach dem Gotthard
von 1779 in den Horen von 1796 davon Gebrauch.
Goethe bezeichnet schon seine früheste Pilgerschaft
zu den Tell-Stätten, die er 1775 unternommen hat,
als  eine  längst  ersehnte  Wanderung.  Goethe  ist
bereits damals an der Tell-Figur intereressiert.
Aufgrund des Tagebuchs von 1775 berichtet Dich-
tung und Wahrheit noch vom Besuch der Tell-Ka-
pelle in der Hohlen Gasse: Nicht ohne manche neue
wie  erneuerte  Empfindungen  und  Gedanken  ge-
langten wir durch die bedeutenden Höhen des Vier-
waldstätter Sees nach Küßnacht, wo wir landend
und unsere Wanderung fortsetzend, die am, Weg ste-
hende Tellen-Capelle zu begrüßen und jenen, der
ganzen Welt als heroisch, patriotisch-rühmlichen
Meuchelmord zu gedenken hatten.
Goethes  primäres  Interesse  an  der  Gestalt  des
Wilhelm Tell liegt allerdings nicht bei dessen poli-
tischer Befreiungstat. Schon damals ist er politisch
zu  illusionslos, um sich für Tell als geheimen Ver-
schwörer  und  Freiheitskämpfer  zu  engagieren;
nein, was ihn schon im Juni 1775 in Altdorf  bewegt,
darauf deutet ein Brief vom 19. Juni 1775 hin, den
er nach einer längeren Pause an Lotte und Albert
Kestner  schreibt.  Diesem  ist  zu  entnehmen:
Goethes Interesse gilt Tell, dem Familienvater und
dem  Phänomen,  daß  seelische  Grausamkeit  und
willkürlich ausgeübte  Gewalt  in  den der Gewalt
Unterworfenen  Gegengewalt  weckt  und  sie  zu
Handlungen bewegt, die sie normalerweise nie be-
gehen würden.
Genaueres  über  Goethes  Interesse  an  der  Tell-
Gestalt wissen wir erst seit 1797, als er mit Schiller
über seine Tell-Konzeption spricht. Dabei zeichnet
sich als Hauptzug von Goethes Wilhelm Tell ab, daß
er seinem ganzen Wesen nach kein Revolutionär
und Verschwörer ist, sondern nur für seine Familie
leben will.
In  den Tag-  und  Jahresheften bestätigt  Goethe:
Schiller war mein Plan wohlbekannt und ich war
zufrieden, daß er den Hauptbegriff eines selbstän-
Prof. Dr. Katharina Mommsen (Palo Alto)
Unser Tell...
Goethes Anteil an Schillers Wilhelm Tell
100
digen, von den übrigen Verschworenen unabhängi-
gen Tell benutzte.
Goethes Faszination durch die Lokalitäten der Tell-
Legende ist so stark, daß es ihn vier Jahre nach der
ersten Schweizer Reise wieder dorthin zieht. Auf
der 1779 mit Carl August zusammen unternomme-
nen zweiten Schweizer Reise sucht der inzwischen
30-jährige Goethe die Tell-Gedenkstätten in umge-
kehrter  Richtung  und  Reihenfolge  auf,  worüber
Carl Augusts Reisetagebuch manche Einzelheiten
verrät.
1797, nach weiteren 18 Jahren durchwandert und
durchschifft der inzwischen 48-jährige Goethe zum
dritten und letzten Mal die Tell-Landschaft, diesmal
in Gesellschaft des gebürtigen Schweizers Heinrich
Meyer, des Malers und Kunsthistorikers, der ihm
als Begleiter besonders willkommen ist, weil er mit
seinem richtigen und scharfen Blick schon lange die
Verhältnisse kannte und in einem treuen Gedächtnis
bewahrte, wie Goethe im Brief aus Stäfa vom 14.
Oktober 1797 gegenüber Schiller rühmt.
Dort ist ausführlich von unmittelbarem Anschauen
von interessanten Gegenständen, von Einblicken in
die Naturhistorischen, geographischen, ökonomi-
schen und politischen Verhältnisse, wie auch der
Lektüre einer alten Chronik die Rede und von sonst
manchem Aufsatz der arbeitsamen Schweizer.
An das frohlockende Bekenntnis seiner Absicht, die
Fabel vom Tell (…) episch zu behandeln, schließt
Goethe die Bemerkung an, daß er die Charaktere,
Sitten und Gebräuche der Menschen in diesen Ge-
genden, so gut als in der kurzen Zeit möglich beob-
achtet habe, nun, komme es auf gut Glück an, ob
aus diesem Unternehmen etwas werden kann.
Es war auf  dem Vierwaldstättersee und  auf dem
Weg nach Altdorf in der freien Natur, wo Goethe
seiner eigenen Aussage nach den Plan eines Tell-
Epos konzipiert.
Dem wiederholten Anschauen der Örtlichkeiten und
Studium von Land und Leuten und der Schweize-
rischen Geschichte liegt Goethes Absicht zugrunde,
der poetischen Darstellung des Stoffes möglichst
viele realistische Züge und dadurch Überzeugungs-
kraft zu verleihen. Solche realistischen Züge der
helvetischen Existenz betrachtet er als wichtigste
Voraussetzung,  um  dem  Tell-»Märchen«  wahres
Leben einzugeben.
Betrachtet man nun  Goethes Landschaftsnotizen
seiner drei Schweizer Reisen genauer, so findet man
viele Entsprechungen in Schillers Tell-Drama, so
daß es völlig überzeugend  ist, wenn man in den
Eckermann-Gesprächen liest: In Schillern lag die-
ses Naturbetrachten nicht. Was in seinem Tell von
Schweizer Lokalität ist, habe ich ihm alles erzählt,
aber er war ein so bewundernswürdiger Geist, daß
er selbst nach solchen Erzählungen etwas machen
konnte, das Realität hatte.
Von vornherein begrüßt Schiller Goethes Tell-Pro-
jekt mit Begeisterung und spendet ihm auch weiter-
hin großen Beifall. Natürlich wird sofort nach der
Rückkunft aus der Schweiz darüber gesprochen, als
Goethe bei Schiller in Jena Station macht. Dieser
ist damals vollauf durch die Arbeit am Wallenstein,
101
an Maria Stuart, der Jungfrau von Orleans und der
Braut von Messina beansprucht.
Die Gespräche mit Goethe über den Tell-Stoff zie-
hen sich hin, mit Unterbrechungen, von 1798 bis
zur Aufführung von Schillers Tell im März 1804 .
Gegenüber Eckermann charakterisiert Goethe 1827
seinen gedachten Helden: Den Tell dachte ich mir
als einen urkräftigen,  in sich  selbst  zufriedenen,
kindlich  unbewußten  Heldenmenschen,  der (...)
überall gekannt und geliebt ist, überall hülfreich,
übrigens ruhig sein Gewerbe treibend, für Weib und
Kinder  sorgend,  und  sich  nicht  kümmernd,  wer
Herr oder Knecht sei.
Hier zeigt sich deutlich: Goethes Tell ist nicht der
übliche Freiheitsheld, Revolutionär und typische
Rebell  gegen  politische  Mißstände,  sondern  ein
Mensch, der sich über Herrschaft oder Knechtschaft
überhaupt  keine  Gedanken  macht.  Darin  unter-
scheidet sich Goethes Tell-Konzeption ganz ent-
schieden von den  zahlreichen Darstellungen  der
Schweizer Überlieferungen, die sämtlich Tell als
Verschwörer und Anführer auf dem Rütli darstel-
len.
Schiller  schließt  sich  zwar  darin  der  Schweizer
Tradition an, daß er den Helden als Alpenjäger auf
die Bühne stellt, aber im Gegensatz zur Tradition
sondert Schiller seinen Tell von den Verschwörern
ab. Dies ist ein ganz wesentlicher Zug, den Schiller
von Goethes Tell übernimmt.
Als Einzelgänger wie bei Goethe, der eben nicht aus
dem gleichen Holz wie die politischen Täter ge-
schnitzt war, läßt sich die Tell-Figur differenzierter,
gebrochener, interessanter gestalten. Goethe ist der
Zusammenhang zwischen seiner und Schillers Tell-
Konzeption völlig klar.
In seinen Annalen von 1804 drückt Goethe seine
Zufriedenheit darüber aus, daß der mit seinem Tell-
Plan vertraute Freund den Hauptbegriff eines selb-
ständigen,  von  den  übrigen  Verschworenen
unabhängigen Tell benutzte. Wenn man an einen
derartig selbstbestimmten Tell denkt, der keines-
wegs aus Büchern stammte, so ist die Behauptung,
Schiller habe den Stoff nur aus der Literatur ge-
schöpft, geradezu absurd.
Tatsächlich rücken Schillers Gestalten der wackeren
Zeitgenossen des Tell also ganz in die Nähe der Ge-
stalten, die Goethe vorgeschwebt haben und von
denen er Eckermann 1827 berichtet: Das Höhere
und Bessere der menschlichen Natur (...) Die Liebe
zum heimatlichen Boden, das Gefühl der Freiheit
und Sicherheit unter dem Schutze vaterländischer
Gesetze, das Gefühl ferner der Schmach, sich von
einem fremden Wüstling unterjocht und gelegent-
lich mißhandelt zu sehen, und endlich die zum Ent-
schluss reifende Willenskraft, ein so verhasstes Joch
abzuwerfen, alles dieses Höhere und Gute hatte ich
den  bekannten  edleren  Männern  Walther  Fürst,
Stauffacher, Winkelried und anderen zugeteilt und
dieses waren meine eigentlichen Helden, meine mit
Bewußtsein handelnden höheren Kräfte.
Im Gespräch mit Eckermann erinnert sich Goethe,
wie er von diesem schönen Gegenstande (…) ganz
voll war und dazu schon gelegentlich seine Hexa-
meter summte und Schiller sich damals durch seine
Schilderungen nicht nur die Landschaften, sondern
auch die handelnden Personen einprägen.
102
Aber, so fährt Goethe fort, da ich andere Dinge zu
tun  hatte  und  die  Ausführung  meines  Vorsatzes
immer weiter verschob, so trat ich meinen Gegen-
stand an Schiller völlig ab, der denn daraus sein
bewundernswürdiges Gedicht schrieb.
Zur Überlassung des Stoffes an den Freund berich-
ten die Tag- und Jahreshefte zum Jahr 1804: Über
dieses innere Bilden und äußere Unterlassen waren
wir  in  das  neue  Jahrhundert
eingetreten.  Ich  hatte  mit
Schiller  diese  Angelegenheit
oft  besprochen  und  ihn  mit
meiner lebhaften Schilderung
jener Felswände und gedräng-
ten Zustände oft genug unter-
halten, dergestalt daß sich bei
ihm dieses Thema nach seiner
Weise zurechtstellen und for-
men mußte. Auch er machte mich mit seinen Ansich-
ten bekannt, und ich entbehrte nichts an einem Stoff,
der bei mir den Reiz der Neuheit und des unmittel-
baren Anschauens verloren hatte und überließ ihm
daher denselben gerne und förmlich, wie ich schon
früher mit den Kranichen des Ibykus und manchem
andern Thema getan hatte; da sich denn aus jener
obigen Darstellung, verglichen mit dem Schilleri-
schen Drama, deutlich ergibt, daß ihm alles voll-
kommen angehört, und daß er mir nichts als die
Anregung und eine lebendigere Anschauung schul-
dig sein mag, als ihm die einfache Legende hätte
gewähren können.
Wann genau Goethe seinen epischen Tell dem dra-
matischen Tell Schiller zuliebe beiseite legt und den
Stoff seinem Freund abtritt, ist nicht überliefert.
Fassen wir abschließend noch ein mal zusammen,
worin Goethes Anteil an diesem Werk besteht:
1. in der Anregung, sich überhaupt mit dem Stoff
zu befassen,
2. in der suggestiven Schilderung der Schweizer
Lokalitäten,
3. in der Konzeption des Helden als eines Einzel-
gängers; die vaterländischen Verschwörungsmotive
überträgt Schiller – Goethes Konzeption entspre-
chend – auf die anderen Gestalten sowie auch auf
einzelne Frauen des Dramas.
Zu den Frauen im Tell sei noch ergänzend gesagt,
daß  auch  sie  von  Goethe  wesentlich  mitgeprägt
worden sind.
Wilhelm Tell ist Schillers letztes vollendetes Werk.
Als  er  wenige  Monate  nach  dessen  Vollendung
stirbt, plante Goethe eine Totenfeier, doch war er
selber so leidend, daß ihn die Vorstellung einer sol-
chen Feier zu sehr angriff und so sind nur wenige
Versfragmente von dem, was er als Freund sagen
wollte, übriggeblieben.
Goethes Reflexion: Das Gute was man Liebenden
erzeigt / Belohnet sich in dieser ernsten Stunde ruft
unwillkürlich seine Mitwirkung am Gelingen des
Wilhelm  Tell ins  Gedächtnis. Auch  die  trostlose
Frage: Soll ich ihm nicht mehr das leisten? läßt an
Goethes Teilhabe an diesem großen Werk denken.
In diesen Versfragmenten kommt das überwälti-
gende  Gefühl  der  Einsamkeit  nach  dem  Verlust
Schillers zum Ausdruck, das Bewußtsein, keinen
Partner  mehr  zu  haben,  den  er  so  beschenken
konnte wie den geliebten Freund.
103
Die  meisten  Balladenschöpfungen,  wie  wir  sie
heute kennen, verdanken ihre Entstehung in diesem
fruchtbaren Jahrzehnt ausschließlich jener einzig-
artig engen Zusammenarbeit zwischen zwei Dich-
tern, ihrer ständigen gegenseitigen Anregung, aber
auch konstruktiver Kritik, die dem Genius und der
Eigenart des Anderen jedoch stets freie Hand lässt.
Dies  ist freilich nur dadurch möglich, daß  beide
über derart viel kreatives Potential verfügen, daß sie
sich Ideen und Eingebungen eben mal auf einem
Zettelgen hinüber- und herüberschicken können.
Heute, im Zeitalter des Ideenklaus, da es ohnehin
allerorten an  originellen und  geistvollen literari-
schen  Schöpfungen  mangelt,  erscheint  dieser
Reichtum  der  dichterischen  Produktion  in  nur
einem Jahrzehnt an nur einem Ort schier unglaub-
lich.
Unvergesslich wird allen Anwesenden sicher die
Juni-Veranstaltung in der Landesvertretung Baden-
Württembergs bleiben.  Angelika Reimann, Litera-
turwissenschaftlerin aus Jena, hatte als Untertitel zu
ihren Ausführungen  über  Goethes  und  Schillers
Balladenschaffen das launige Zitat gewählt: Leben
Sie recht wohl und lassen Sie Ihren Taucher je eher,
desto besser ersaufen.
Neben der lebhaften Darstellung des Funktionierens
der gemeinsamen  Jenenser Dichterwerkstatt, mal in
Schillers Garten, mal im Gasthof zur Tanne, erfreut
uns die Referentin auch noch durch professionelles
Deklamieren einiger Balladen Schillers.
In seiner Schrift Über naive und sentimentalische
Dichtung hatte Schiller vom modernen Dichter ge-
fordert, über den Zustand der Naivität hinauszuge-
hen,  da  die  Darstellung  des  Ideals  den  Dichter
mache.  Im  Unterschied  zur  Volksballade  solle
die Kunstballade bewußt sittliche Lehren vermit-
teln. Gestalten und Geschehnisse sind einer tragen-
den Idee zu unterwerfen, die Gestaltung soll mit
straffer  Handlungsführung  und  sprachlichem
Schwung  auf  unmittelbare  Wirkung  beim  Hörer
bzw. Leser zielen. Den Balladen weist er die Auf-
gabe zu, den Leser zu Anteilnahme und Wertungen
aufzufordern, ihm seine Möglichkeiten des mensch-
lichen Handelns zu zeigen und die Balladenwelt mit
seiner bisherigen Lebenserfahrung zu vergleichen.
Laut Goethe solle der Leser die Literatur urteilend
genießen. Außerdem sollen die Texte die Vielfalt
sprachlicher Schönheiten der deutschen Sprache de-
monstrieren.
Die  beiden  verabreden,
eine größere Zahl an Bal-
laden  zu  verfassen,  um
ihre  theoretischen  Ab-
sichten literarisch zu ver-
wirklichen.  Die  Verse
entstehen  in  einer  Art
künstlerischem  Wett-
streit,  werden  jedoch
häufig  vor  ihrem  Er-
scheinen brieflich disku-
tiert.
Das Jahr 1797 gilt als
die Geburtsstunde der
klassischen Kunstbal-
lade.  Niemals vorher
und  niemals  danach
schreiben Goethe und
Schiller so viele Bal-
laden wie im Frühjahr
und  im Sommer  die-
ses  Jahres.  In  kurzer
Folge  entstehen Der
Taucher, Der  Hand-
schuh, Ritter Toggen-
burg, Die  Kraniche  des  Ibykus ebenso  wie Der
Schatzgräber, Der Gott und die Bajadere oder Der
Zauberlehrling, die über  Generationen zum unver-
zichtbaren Bestand unserer Nationalliteratur gehö-
ren.
Die Balladen dieses Sommers
erscheinen  im Musenalma-
nach auf das Jahr 1798. Schil-
ler im Vorwort: Wir haben uns
vereinigt, in den diesjährigen
Almanach  mehrere  Balladen
zu geben  und  uns bei  dieser
Arbeit über Stoff und Behandlung dieser Dichtungs-
art selbst aufzuklären.
Nach dem aufsehenerregenden Xenien-Almanach
im Vorjahr überraschen die beiden zusammen ar-
beitenden  Dichter  die  literarische  Öffentlichkeit
auch hierin. Die Einheit von Goethe und Schiller
offenbart sich in ihrer wechselseitigen Annäherung
ihrer künstlerischen Auffassung und in der Behand-
lung der Gattung.
Dr. Angelika Reimann (Jena)
Leben Sie recht wohl und lassen Sie
Ihren ‘Taucher’ je eher, je besser ersaufen…
Die Zusammenarbeit Goethe und Schillers
am Beispiel des Balladenschaffens
104
Goethes  ältere  Balladen
wie Der Fischer, Der Erl-
könig und Der König von
Thule,  aber  auch  seine
späteren Balladen-Schöp-
fungen sind empfindungs-
reiche  Stimmungsgedichte,  Spiegelungen
geheimnisvoller  Naturer-
scheinungen, Darstellung ma-
gischer Eindrücke, welche die
Elemente mit ihrer verlocken-
den, sinnbetörenden und zer-
störenden  Macht  auf  unser
Gefühl und auf unsere Phan-
tasie ausüben.
Auch seine neueren Balladen von 1797 leugnen den
Ursprung aus der nordischen Volksdichtung nicht.
Auch  hier  walten  dämonische  Kräfte,  Tod  und
Grauen wie in Die Braut von Korinth oder in Der
Gott  und  die  Bajadere.  Im Zauberlehrling und
im Schatzgräber walten harmlosere Geister. Wäh-
rend Goethe also die Stimmung seiner alten Balla-
den beibehält, trifft er den Ton nun kunstvoller und
bewußter. Neu hingegen ist bei Goethe, daß seine
Ereignisse nun einer bestimmten Idee folgen. Hierin
macht sich der Einfluß von Schiller bemerkbar, der
seine Balladenstoffe ebenso zu behandeln pflegte.
Goethe bekennt in einem Brief an Meyer am 21.
Juli 1797, es komme darauf an, die Balladenform
mit würdigeren und mannigfaltigen Stoffen und mit
einem tieferen Gehalt zu erfüllen.
Schiller hingegen tritt immer mehr aus der Sagen-
welt in das geschichtlich bewußte Leben über. Seine
Balladen bilden eine besondere Kunstform, in der
das episch-dramatische Element das lyrische über-
wiegt. Dabei ist er immer bestrebt, die rein erfaßte
Idee sinnlich und gegenständlich erscheinen zu las-
sen. Den idealen Gehalt füllt er plastisch, zeichnet
ihn mit Klarheit und bringt ihn durch seine charak-
teristische  Färbung  zu  lebendiger  Anschauung.
Goethe bleibt hierin sein Vorbild.
Goethe ist wohl der erste, der den wahren Wert von
Schillers Balladen aufrichtig anerkennt, bewundert
und verteidigt – sogar gegen Schiller selbst. Schiller
erscheint in seinen Balladen als Volksdichter, der
den  Geschmack  der  Gebildeten  und  das  Auf-
fassungsvermögen  der  großen  Menge  durch  die
Größe seiner Kunst aufzuheben versteht.
Schiller selbst bekennt zu Beginn des gemeinsamen
Balladen-Wettstreits am 18. Juni 1797, Goethe ge-
wöhne ihm immer mehr die Tendenz ab, vom All-
gemeinen zum Besonderen zu gehen. Er führe ihn
auf  den  umgekehrten  Weg
vom  Engen  ins  Weite,  vom
einzelnen  Fall  zum  großen
Gesetz, vom Bild und der An-
schauung zum Gedanken. Mit
wenigen Ausnahmen bringen
Schillers Balladen eine sittli-
che Idee zum Ausdruck.
Doch nirgends ergreift er das Wort zu lehrsamer
Mahnung  oder  fügt  formelhaft  eine  moralische
Nutzanwendung  hinzu.  Aus  seiner  Darstellung
leuchtet der Grundgedanke hell und rein als orga-
nischer Bestandteil hervor. Die Balladen ergreifen
durch ihre Schönheit und Wahrheit als echte Kunst-
werke. Sie erschüttern das Gemüt durch das Schick-
sal,  das  sie  offenbaren,  und  regen  den  Geist  zu
ahnungsvollem Sinnen an.
105
2006
200 Jahre Goethes Faust
Hans-Helmut Allers (Berlin)
Vom Volksbuch bis zu Thomas Mann
Dr. Faustus in Historie und Literatur
Prof. Frank Möbus (Göttingen)
Der Teufel, den ich beschwöre,
gebärdet sich sehr wunderlich…
Zur Entstehungsgeschichte von Goethes Faust
Im Januar gibt uns Hans-Hellmut Allers einen an-
schaulichen  Überblick  über  die  Entwicklung  der
Faustfigur Vom  Volksbuch  bis  zu  Thomas  Mann.
Obwohl wir bereits im Vorjahr bei unserem Besuch
des Faust-Museums in Knittlingen mit dem histori-
schen Dr. Faustus und den zahlreichen ihn umgeben-
den Sagen und Gerüchten bekannt gemacht worden
waren, erfahren wir doch noch viel Neues, nicht nur
über die Faust-Historie, sondern auch über die diver-
sen Faust-Adaptionen von Christopher Marlowe bis
Thomas Mann.
Zur Entstehungsgeschichte von Goethes Faust teilt
uns  im  Februar  der  Göttinger  Professor Frank
Möbus erstaunliche  Details mit. Vielen  Zuhörern
wird nun erst klar, daß die Faust-Figur in Deutsch-
land bis ins späte 18. Jahrhundert hinein eigentlich
mehr oder minder als Marionette mit holzsschnittar-
tigen Charakterzügen agiert, bei Jahrmärkten  und
Messen auf Puppenbühnen, der Dr. Faustus  als ein
berüchtigter Magier und Schwarzkünstler, der mit
dem Teufel wettet und ihm schließlich seine Seele
verschreibt.
Erst  Goethe erkennt das dramatische Potential dieses
Charakters, der auf der metaphsysischen Suche ist
und wissen will, was die Welt im Innersten zusam-
menhält. Er läßt seinen Protagonisten bekanntlich in
Begleitung  Mephistos die Reise in die Kleine und
die Große Welt antreten, reichert  die wunderliche
Posse noch  durch  eine  Liebesgeschichte  an  und
schafft damit aus der Puppenspielfabel einen Stoff
der Weltliteratur und aus Faust einen zeitlos moder-
nen  Charakter,  den  seitdem  jede  Generation  von
neuem für sich entdeckt und interpretiert.
106
Dr. Alwin Binder (Münster)
Nur Neuigkeiten ziehn uns an…
Visionen moderner Welt in Goethes Faust
vor und nach 1800
Dr. Michael Jaeger (Berlin)
Der Geist, der stets verneint…
Mephistos Modernität
Im März legt Alwin Binder mit seinem
Vortrag, Visionen  moderner  Welt  in
Goethes  Faust,  dar,  daß  das Faust-
Drama  im  Grunde  genommen  von
Goethe  bereits als Parabel auf die mo-
derne Welt zu verstehen sei. Faust sei
alles andere als ein positiver Charakter;
vielmehr  zerstöre  er  alles  um  sich
herum, lasse alle ethischen Bedenken
beiseite;  kurzum,  ein  Spiegelbild  des
modernen Menschen  
Etwas schlucken müssen hier all jene,
die noch Inszenierungen vor ihrem gei-
stigen Auge haben wie  etwa jene be-
kannte  des  Hamburger  Schauspiel-
hauses von 1961 mit Gustav Gründgens
und  Will  Quadflieg,  der  als  idealisti-
scher  Faust  agiert,  glaubhaft  als  ein
guter  Mensch  in  seinem  dunklen
Drange, der sich des rechten Wegs doch
stets bewußt ist.
Unter dem Titel: Der Geist, der stets ver-
neint widmet sich der April-Vortrag Me-
phistos Modernität. Michael Jaeger geht
es darum, aufzuzeigen, daß das mephis-
tophelische Prinzip der Beschleunigung
und  Rastlosigkeit  bereits  von  Goethe
quasi vorausgeahnt worden sei: Konsum-
orientiertheit, schnelle Bedürfnisbefrie-
digung  und  die  Seelenlosigkeit  der
Maschinengesellschaft seien als Meta-
phern  einer  industriellen  anti-kontem-
plativen Arbeitsgesellschaft zu verstehen,
deren opferreichen Anfang Goethe ins-
besondere im Faust II kritisch darstelle
und deren Scheitern  wir Heutigen gerade
erlebten.
Die hochkomplexen Ausführungen und
Thesen Jaegers sind nachzulesen in sei-
ner materialreichen Habilitationsschrift,
die  unlängst  unter  dem  Titel Fausts
Kolonie erschienen ist.
107
Mitte Mai setzt sich der Faust-Zyklus fort mit
Manfred Osten. Hier der Grundtenor seines re-
ferierten  Credos:  Daß  unsere  Zivilisation  aus
Mangel an Ruhe in eine neue Barbarei ausläuft,
bemerkt Goethe bereits 1778 in Berlin, mit dem
Ergebnis, daß er sein Leben lang ein konsequen-
ter Berlinverweigerer geblieben ist.   
Fast ein halbes Jahrhundert später schreibt er im
November 1825 an den preußischen Juristen Ni-
colovius: Für das größte Unheil unsrer Zeit, die
nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man
im nächsten Augenblick den vorhergehenden ver-
speist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus
der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas
vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blät-
ter für sämtliche Tageszeiten. Dadurch wird alles,
was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat,
ins  Öffentliche geschleppt. Niemand darf  sich
freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der übri-
gen; und  so springt's  von  Haus  zu Haus,  von
Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von
Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.
Goethe geniale Wortschöpfung veloziferisch be-
zeichnet die Verschränkung von Velocitas (die
Eile) mit Luzifer. Faust erscheint als der moderne
Blitzkrieger der Erfüllung jener Wünsche einer
Anspruchsgesellschaft, die alles will, und zwar
sofort. Und was Luzifer alias Mephisto der Un-
geduld Fausts andient, sind denn auch schon jene
Instrumente des Veloziferischen, die am Ende des
20. Jahrhunderts zwar andere Namen tragen, aber
dieselben Dinge meinen: die schnelle Liebe, der
schnelle  Mantel,  das  schnelle  Geld  und  zum
Schluß: der schnelle Mord an Philemon und Bau-
cis. Fausts globales Dorf, von Mephistos Gnaden,
gebietet bereits perfekt über virtuelle Welten, wie
wir sie heute mit Videoclips und beim Zappen
zwischen TV-Kanälen kreieren. Sein virtuelles
Arsenal reicht von Walpurgisnächten aller Art bis
zur heraufzitierten schönen Helena.
Es sind immer rascher wechselnde Filmschnitt-
sequenzen einer Beschleunigungskultur mit Lu-
zifer  als  omnipotentem  Artifex  einer
Unterhaltungsgesellschaft,  die  sich  bereits  im
Zeichen grandioser Oberflächlichkeit und eines
perfekten Zeitmanagements zu Tode amüsiert.
Im Juni brechen über 60 Berliner Goethefreunde
auf, um sich in der Ruine des ehemaligen St.-
Pauli-Klosters in Brandenburg an der Havel die
Faust I-Premiere des dortigen Event-Theaters an-
zuschauen; eine frische Inszenierung mit nur zehn
Akteuren, von denen – mit Ausnahme der beiden
Protagonisten – alle mehrere Rollen übernehmen,
unterstützt vom Brandenburger Kammerchor, der
beim Osterspaziergang und Walpurgisnacht dem
Bühnengeschehen Vehemenz und Turbulenz ver-
leiht.
Faust  I in  einem  gotischen  Kirchenschiff  mit
Backsteinwänden, das ist eine Erfahrung der be-
sonderen Art. Ein junges Ensemble – darunter ein
wahrhaft entzückendes ungestümes Gretchen –
beschert uns drei unterhaltsame Stunden; eigen-
willige  und  sonderbare  Regieeinfälle,  wie  sie
heute eigentlich an sämtlichen deutschen Thea-
tern die Klassiker zu aktualisieren suchen, halten
sich in Grenzen. Eine Hexen-Gulaschsuppe und
ein  Premieren-Prosecco tun das ihrige, um die
Berliner nach einem gelungenen Abend in ver-
gnügter Stimmung wieder heimfahren zu lassen.
Dr. Manfred Osten (Bonn)
Fluch vor allem der Geduld…
Zur Aktualität der Faust-Tragödie
Prof. Dr. Volker Hesse (Berlin)
Habe nun ach, Philosophie, Juristerey
und Medizin studiert...
Dr. Faustus u. Dr. med Johann Wolfgang Goethe
Premierenbesuch Faust I
in Brandenburg a.d. Havel
Verweile doch, Du bist so schön!
Inszenierung des Event Theaters Brandenburg
in der Ruine des  St.-Pauli-Klosters
108
Der Figur des Gretchens  widmet sich Angelika
Reimann in ihrem Vortrag Goethes Gretchentra-
gödie und der Kindsmord im 18. Jahrhundert. Sie
legt dar, welche Gründe den jungen Goethe veran-
laßt haben dürften, das Thema des Kindsmordes
mit der Liebesbeziehung von Faust und Margarete
zu  verknüpfen,  ein  Thema,  das  ihn  auch  später
noch in seiner Eigenschaft als Mitglied des Gehei-
men Consiliums beschäftigt. Viel Wirbel hatte ei-
nige  Jahre  zuvor  Sigrid  Damm  mit  ihrer
Christiane-Biografie verursacht, in der sie fälsch-
licherweise behauptet hatte, Goethe habe hier als
Minister das entscheidende Votum zur Hinrichtung
einer Kindsmörderin abgegeben und dadurch deren
Todesstrafe veranlaßt. Angelika Reimann stellt dies
notwendigerweise richtig. Ihr Fazit: Gesellschaft-
liche und individuelle Handlungen jeder Epoche
können immer nur vor dem Hintergrund der dama-
ligen gesellschaftlichen Zustände erklärt und ge-
deutet werden.
Im September erläutert uns Theo Buck die Entste-
hungsgeschichte des Faust unter einem ganz neuen
Aspekt; wir erfahren, welche Bezüge diese oder
jene Szenen zu Goethes Lebenswirklichkeit auf-
weisen. Ein tief Theater scheint sich aufzustellen,
geheimnisvoll ein Schein uns zu erhellen, und ich
besteige das Proszenium. Dieses Zitat  hat der Re-
ferent gewählt, um uns die Dramaturgie der gesam-
ten Faust-Dichtung noch einmal zu verdeutlichen
und durch ausgewählte Beispiele darauf hinzuwei-
sen, daß es sich insbesondere bei vielen Szenen des
2. Teils um Allegorien und Traumbilder handelt,
die im Leser und Zuschauer Assoziationen wecken
sollen. Dieser von Goethe beabsichtigte Kunstgriff
der Andeutung des Unausgesprochenen, der inter-
pretierbaren Metapher, bewirkt jenes Geheimnis
des wunderlichen Hexenwerkes, wie Goethe die
Dichtung zuletzt selbst nannte, das den Faust zum
zeitlosen Gesamtkunstwerk werden läßt.
Fausts  Tod  –  ein  tragisches  Ende? mit  dieser
durchaus ernst gemeinten Frage beschließt Alfred
Behrmann im November den diesjährigen The-
men-Zyklus: Bei allem tragischen Geschick, das
Gretchen und ihrer Familie widerfahre, handele es
sich – so der Referent – beim Faust mitnichten um
eine Tragödie im griechischen Sinne, in welcher
der Held gefälligst mit den Schicksalsmächten zu
hadern  habe  und  auch  selbst  mindestens  einige
  heroische Taten  zu vollbringen oder wenigstens
derartige Gedanken und Absichten zu äußern habe.
Ganz im Gegenteil: Der Faust weise über weite
Strecken burleske, groteske, gar komödiantische
Szenen auf, die der sarkastisch angelegten Rolle
des Mephisto geschuldet seien, einem Unterteufel,
vom Herrn lediglich ausgestattet mit beschränkter
satanischer Handlungsvollmacht.
Ein vierfach schuldhaft gewordener Protagonist,
ein mehrfacher Mörder gar, dessen Seele am Ende
des Stücks Engel, schwebend in der höhern Atmo-
sphäre,  dem  leer  ausgegangenen,  sich  betrogen
fühlenden Mephisto entführen; eine Aktion, vom
Chor seliger Knaben kommentiert mit Gesängen
wie: Gerettet ist das edle Glied der Geisterwelt
vom Bösen: Wer immer strebend sich bemüht, den
können wir erlösen. Das – so der Referent –sei eine
geniale Dichtung mit Happy-End, ein Drama, eine
Tragödie nie und nimmer.
Dr. Angelika Reimann (Jena)
Schon zuckt nach jedem Nacken die Schärfe,
die nach meinem zuckt…
Goethes Gretchentragödie und der Kindsmord
im 18. Jahrhundert
Prof. Dr. Theo Buck (Aachen)
Ein tief Theater scheint sich aufzustellen,
geheimnisvoll den Schein uns zu erhellen
und ich besteige das Prozsenium...
Fausts Tod, ein tragisches Ende?
Prof. Dr. Alfred Behrmann (Berlin)
Löset die Flocken los, die ihn umgeben!
Schon ist er schön und groß voll heiligen Leben
Die Dramaturgie der Faustdichtung
109
Der Herzog mit dem ich nun
schon an die neun Monate in
der  wahrsten und  innigsten
Verbindung  stehe,  hat  mich
endlich  auch  an  seine  Ge-
schäffte gebunden, aus uns-
rer  Liebschaft  ist  eine  Ehe
entstanden, die Gott seegne.
So  beschreibt  Goethe  1776
seine Beziehung zu Carl Au-
gust.  Diese  dreiundfünfzig  Jahre  lange  Männer-
freundschaft  zwischen  den  beiden  Charakteren
prägte Weimar sehr. Eine solch lange Freundschaft
zwischen zwei Männern ist für uns fast unvorstell-
bar. Da stellt sich natürlich die Frage, inwieweit
diese Freundschaft ernst zu nehmen war, wie inten-
siv sie war und wie es überhaupt dazu kam.
Am 7. November 1775, morgens
um 5 Uhr, trifft Goethe in Wei-
mar  ein.  August  von  Kalb
bringt  ihn  im  Hause  seines
Vaters, Karl Alexander von
Kalb, unter – gleich gegen-
über  der  Herderkirche  –  es
steht noch heute. Dies bleibt
für  ein  halbes  Jahr  Goethes
erste Wohnung in Weimar.
Viele Menschen in Weimar sind gespannt auf den
jungen Dichter des Sturm und Drang, der die lite-
rarisch interessierte Jugend so beeindruckt hat.
Zu diesen gehören die Herzogin-Mutter Anna Ama-
lia, damals 36 Jahre alt, der Schriftsteller Christoph
Martin Wieland, Herausgeber des Teutschen Mer-
kur, der bald zur wichtigsten deutschen Literatur-
zeitschrift wurde, der
Lyriker und Überset-
zer Carl Ludwig von
Knebel  sowie  zahl-
reiche  Hofdamen,
darunter  Charlotte
von Stein und Louise
von  Göchhausen,
Friedrich Justin Ber-
tuch,  der  reiche
Kaufmann  und  Ver-
walter  der  Staats-
kasse, ferner Johann
Carl August Musäus,
der Literat, Pädagoge
und Philologe, Leiter
des Gymnasiums in Weimar, und zahlreiche andere.
Goethe wird noch am selben Tage
vom  Herzog  und  Anna  Amalia
zum  Mittagessen  eingeladen.
Wieland ist anwesend und gibt
seiner Verehrung für den jun-
gen Dichterkollegen in mehre-
ren  Briefen  temperamentvoll
Ausdruck. So schreibt er Fried-
rich Jacobi drei Tage später: Was
ganz  der  Mensch  beim  ersten  An-
blick nach meinem Herzen war... Seit dem heutigen
Morgen ist meine Seele so voll von Goethen wie ein
Tautropf von der Morgensonne...
An Lavater heißt es am gleichen Tage: Ich habe die-
sen herrlichen Menschen binnen dieser drei Tage
so  herzlich  lieb  gewonnen  und bedaure nur,  ihn
noch  nicht  allein  gesehen  und  gesprochen  zu
haben...
2007
Zwischen Musenhof und Ministeramt
Hans-Hellmut Allers (Berlin)
Meine Schrifstellerey subordiniert sich dem Leben
Goethe 1775- 1786 – Von Frankfurt nach Weimar
Einführungsvortrag
Dr. Jochen Golz (Weimar)
Erhabenes verehrend, Schönes geniessend…
Ein Portrait der Herzogin Anna-Amalia
Dr. Thomas Franzke (Gera)
Hab Dank für Dein entzückend Spiel…
Goehte und das Weimarer Liebhabertheater
Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma (Hamburg)
Wer ist berechtigt, die Menschheit
aufzuklären? Wer es kann!
Osmantinische Aufklärung –
Wieland in Oßmannsstedt
Dr. Manfred Osten (Bonn)
Ein Kind des Friedens?
Goethe als Leiter der Kriegskommission
Dr. Angelika Reimann (Jena)
Daß des Menschen Leben nur insofern etwas wert ist,
als es Folge hat…
Goethes amtliche Tätigkeit vor und nach
der italienischen Reise
Prof. Dr. Theo Buck (Aachen)
Sowie ein Dichter politisch wirken will,
ist er als Poet verloren
Goethe – ein politischer Schriftsteller?
110
Für die weitere Entwicklung in Weimar ist entschei-
dend, daß zwischen dem jungen Herzog und dem
acht Jahre älteren Goethe bald ein freundschaftli-
ches Verhältnis entsteht. Carl August ist ein sehr
selbstbewußter, eigensinniger junger Mann, der sich
seiner neuen Würde und  der damit verbundenen
neuen Freiheiten gern erfreut.
Zu Beginn seiner Regierungszeit genießt er es, seiner
Lust an ausschweifenden Vergnügungen freien Lauf
zu lassen, seine Sturm- und Drang-Zeit auszuleben.
Deshalb sieht es Anna Amalia sehr gern, daß der äl-
tere und mittlerweile doch sehr viel reifere Goethe
mäßigend auf ihn einzuwirken versucht, nicht als of-
fiziell beauftragter Erzieher, sondern
als Vertrauter und Freund.
Dennoch  erregt  das genialische
Treiben der jungen Leute beträcht-
liches  Aufsehen  im  Land,  zumal
höfische Ordnung und Etikette aus-
gedient zu haben scheinen. Da wird
übermütig geritten, Schlittschuh ge-
laufen, im kalten Fluss gebadet, mit
den  Dorfmädchen  –  besonders  in
Stützerbach und Ilmenau – gefeiert
und wohl nicht nur das.
Die  Kunde  von  solchem  Tun  er-
reicht auch Klopstock in Hamburg,
der  Goethe  im  Mai  1776  einen
Mahnbrief  schreibt.  Goethe  ant-
wortet tags darauf kurz, aber ent-
schieden: Verschonen  Sie  uns
künftig mit solchen Briefen, lieber
Klopstock...
Nun, auch diese Zeit überlebt sich. Wie man auch
immer  damals  und  heute  darüber  urteilen  mag:
Geistlos sind diese Späße und Spiele nie – und da-
neben beschäftigt man sich wie selbstverständlich
ganz ernsthaft mit philosophischen Gesprächen und
musischem Tun. Goethe berichtet, wie er oft näch-
telang mit Carl August über ernsthafte Themen dis-
kutiert habe.
Werfen wir einen Blick auf die Menschen, die da-
mals zum Hofleben gehörten und das Geschehen im
sogenannten Musenhof mitbestimmten. Neben den
oben Genannten gehören dazu natürlich auch die
Herzogin Luise sowie der Jurist Friedrich von Ein-
siedel, seit 1775 Hofrat in Weimar
und Kammerherr bei Anna Ama-
lia.
Ein Ereignis besonderer Art ist die
Ankunft Johann Gottfried Herders
in Weimar. Gegen beträchtlichen
Widerstand hat Goethe mit Hilfe
des  Herzogs  durchgesetzt,  daß
Herder – damals Hofprediger in
Bückeburg  –  die  vakante  Stelle
des Superintendenten in Weimar
erhält.  Damit  hat  Goethe  den
Mann in seine Nähe geholt, dem
er seit den Straßburger Tagen so
viel  zu  verdanken  hat.  Herder
bleibt wie Goethe Zeit seines Le-
bens in Weimar.
Im April  1776 erwirbt  Carl Au-
gust  das  Gartenhaus  an  der  Ilm
und schenkt es Goethe. Mehrere
Jahre  bleibt  es  zunächst  sein
Hauptwohnsitz, bis er im Juni 1782 in das Haus am
Frauenplan umzieht.
Im Juni 1776 will der Herzog seinen Freund  Goethe
in das Geheime Consilium, das oberste Gremium
der  Staatsregierung,  aufnehmen.  Carl  August
möchte  damit  Goethe  politische  Verantwortung
übertragen, weil er seinen Rat schätzt  und wohl
auch, um ihn an Weimar zu binden. Er setzt dies
gegen  starken  Widerstand  durch,  insbesondere
gegen  den  Freiherrn  von  Fritsch,  der  erst  durch
Anna Amalias Eingreifen vom Rücktritt zurückge-
halten werden kann. Mit Goethes Vereidigung und
seiner Ernennung zum »Geheimen Legationsrat«
beginnt seine staatsmännische und administrative
Tätigkeit, die er sehr ernst nimmt und die bis an sein
Lebensende dauern wird.
Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff (Berlin)
Das Publikum nicht wie Pöbel behandeln…
Politische Dimensionen der
Weimarer Theaterarbeit
Prof. Dr. Katharina Mommsen (Palo Alto)
Dem alten Fritz bin ich recht nah geworden…
Goethes berufliche Auseinandersetzung
mit Friedrich  II.
111
Die  fast  elf  Jahre  des
ersten  Weimarer  Jahr-
zehnts vom November
1775  bis  zum  3.  Sep-
tember 1786 – seinem
Aufbruch nach Italien –
sind ein Abschnitt von
besonderer  Bedeutung
für Goethe. Seine kom-
munale und staatspoli-
tische  Tätigkeit  wird
nun  immer  mehr  zum
Mittelpunkt seines Le-
bens, wohl nicht ganz ungewollt, denn letztendlich
ist dies auch der Grund, in Weimar zu bleiben. Er
will an der Gestaltung des Gemeinwesens mitwir-
ken.
Bleiben wir vorerst noch beim »Musenhof«: Anna
Amalia bewohnt seit dem Schlossbrand von 1774
das Wittumspalais, das vorher dem Freiherrn
von  Fritsch  gehört  hatte  und  nach  einem
Umbau  für  Jahre  ihr  Hauptwohnsitz  wird.
Später kommen Tiefurt und Schloss Belve-
dere dazu.
Hier finden nun allwöchentlich die berühm-
ten  Tafelrunden  statt,  die  Georg  Melchior
Kraus in seinem bekannten Gemälde festge-
halten  hat.  Anna Amalia,  Goethe,  Herder,
Graf Einsiedel, Fräulein von Göchhausen u.a.
sind  darauf zu sehen. Diese Zusammenkünfte
werden zum Symbol für alle musischen Un-
ternehmungen  am  Hofe  zu  Weimar.  Man
trifft sich zu Gesprächen über Kunst, Musik,
Literatur, Malerei und Theater; auch gesell-
schaftspolitische  Themen  werden  angesprochen,
und nicht selten prallen auch die Meinungen auf-
einander.
Den Mittelpunkt des »Musenhofes« bildet das so-
genannte Liebhabertheater, in dem ausschließlich
Laien  die  Akteure  sind.  Seit  Goethes  Ankunft
kommt es nun so richtig in Schwung. Hat man Lust
zu spielen, dann trifft man sich. Goethe kümmert
sich sofort nach seiner Ankunft um die Inszenierun-
gen, führt zwei unterschiedliche Gruppen zusam-
men  und  ist  bald zuständig  für die  Planung, die
Proben, die Dekorationen, die Stücke, die geschrie-
ben werden müssen, und bald ist er selbst auch als
Schauspieler aktiv.
Da das einstige Schloßtheater mit dem Brand von
1774 zerstört war, spielt man zuerst im sogenannten
Redoutenbau, später im Saal des Wittumspalais, in
Schloß Ettersburg auf dem Ettersberg oder in Tie-
furt, in Belvedere oder an der Ilm im Park zu Wei-
mar, auch in den Dornburger Schlössern.
Die  aufgeführten  Stücke  sind  bunt  gemischt:
Possen,  Schwänke,  Singspiele,  aber  auch  an-
spruchsvolle Theaterstücke. Von Goethe standen
auf  dem  Spielplan  u.a.: Erwin  und  Elmire,  Die
Geschwister, Die Mitschuldigen, Lila, Das Jahr-
markstfest  von  Plundersweilern,  Triumph  der
Empfindsamkeit,  Iphigenie,  Die  Laune  des
Verliebten, Proserpina, Jery und Bätely, Die
Vögel, Die weiblichen Tugenden, Die Fische-
rin. – Diese Liste ist keineswegs vollständig.
Zwischen 1775 und 1782 werden etwa 60 In-
szenierungen des Liebhabertheaters realisiert;
also neun neue Stücke pro Jahr auf den ver-
schiedenen Bühnen und in freier Natur.
Goethe  gelingt  es,  im  November  1776 die
Sängerin und Schauspielerin Corona Schröter
nach Weimar zu holen, die er schon während
seiner Leipziger Zeit kennen und schätzen ge-
lernt hat.   Sie wird sehr bald die einzige pro-
fessionelle Stütze des Liebhabertheaters sein.
112
Die schöne Schauspie-
lerin, die auch mehrere
Sprachen  beherrscht,
malt und mehrere Mu-
sikinstrumente  spielt,
beschäftigt die Phanta-
sien des Herzogs und
Goethes  ganz  erheb-
lich.  Schließlich  läßt
der Herzog gegenüber
dem Wittumspalais ein
neuesTheater erbauen.
Besonders die Zeichenkunst zählt zu den tragenden
Säulen des »Musenhofes«. Die Begeisterung für die
Darstellung  der Natur  mit  dem Zeichenstift  teilt
Anna Amalia mit Goethe. Dieser zieht häufig mit
der  Zeichenmappe
durch  die  Weimarer
Umgebung und hält die
Natur mit dem Stift fest.
Zuweilen  schwankt
Goethe zwischen seinen
literarischen Ambitionen
und denen zur bildenden
Kunst,  glaubt  er  doch
durch Übung und Unter-
richt bei erfahrenen Meistern der Zeichenkunst die
gleichen Erfolge haben zu können wie in der Lite-
ratur.
Seine  kommunal-  und  staatspolitische  Tätigkeit
nimmt Goethe von Anbeginn sehr ernst. Er will den
Einfluß auf den Herzog behalten und ihm ist nicht
nur daran gelegen, die praktische Politik zu beein-
flussen., sondern er will auch Ergebnisse erreichen,
wie etwa die erneute Inbetriebnahme des Ilmenauer
Bergwerks.
Zwar  werden  im  mindestens
einmal wöchentlich  tagenden
Consilium – mit den drei Mit-
gliedern und dem Herzog –alle
kommunalen Angelegenheiten
gemeinsam besprochen, den-
noch  gibt  es  konkrete  Auf-
gabenverteilungen.  Goethes
Beamtentätigkeit erstreckt sich ab dem Jahre 1777
auf die Erneuerung des Bergbaus und ab 1779 auf
den Vorsitz  zweier ständiger  Kommissionen, der
Wegebaukommission und der Kriegskommission,
mit der Zuständigkeit für die Aushebung der Rekru-
ten für die Weimarer Armee.
Sein Hauptanliegen ist es, durch Einschränkung der
öffentlichen Ausgaben bei gleichzeitiger Förderung
der Wirtschaft den völlig verschuldeten Staatshaus-
halt zu sanieren. Dies gelingt zumindest teilweise,
z. B. führt die Halbierung der »Streitkräfte«  zu Ein-
sparungen. Schwierigkeiten und die Erfolglosigkeit
seiner Bemühungen im Staatsdienst bei gleichzei-
tiger Arbeitsüberlastung lassen ihn zuweilen resig-
nieren. Goethe notiert 1779 im Tagebuch: Es weis
kein Mensch was ich thue und mit wieviel Feinden
ich kämpfe um das wenige hervorzubringen.
Durch Reisen mit dem Herzog macht sich Goethe
mit Land und Leuten vertraut. Seine Tätigkeiten
führen ihn unter anderem nach Apolda, dessen Not
er beschreibt, wie auch in andere Gebiete des Her-
zogtums. Zumeist im Rahmen dienstlicher Pflichten
unternimmt  Goethe  in  seinem  ersten  Weimarer
Jahrzehnt mehrere Reisen auch über die Landes-
grenzen hinaus,  darunter  im  Frühjahr  1778  eine
Reise nach Dessau und Berlin, von September 1779
bis Januar 1780 in die Schweiz sowie mehrmals in
den Harz.
1782 wird er vom Herzog zum Kammerpräsidenten
(Finanzminister)  ernannt,  in  der  Hoffnung,  den
Staatshaushalt weiter zu konsolidieren. Er fördert
die Landwirtschaft, ist in der Kriegskommission,
der Wege- und Wasserbaudirektion sowie der Berg-
werkskommission tätig. Ab 1784 leitet er die Steu-
errevision  im  Kreis  Ilmenau,  außerdem  ist  er
Berater des Herzogs in Fragen der Außenpolitik
Hier noch kurz seine Entwicklung: im Juni 1776
wird er Legationsrat, im September 1779 Geheimer
Rat, im April 1782 wird er nobilitiert. Im gleichen
Jahr  beschreibt  Goethe  im  Gedicht   Ilmenau das
Leben des Herzogs Carl August – vom zügellosen
Jugendtreiben zum jetzigen Wirken im Interesse des
Landes.
113
Wie dank' ich, Musen, euch!
Daß ihr mich heut auf einen Pfad gestellet,
Wo auf ein einzig Wort die ganze Gegend gleich
Zum schönsten Tage sich erhellet;
Die Wolke flieht, der Nebel fällt,
Die Schatten sind hinweg. Ihr Götter,
Preis und Wonne!
Es leuchtet mir die wahre Sonne,
Es lebt mir eine. schönre Welt;
Das ängstliche Gesicht ist in die Luft zerronnen,
Ein neues Leben ists, es ist schon lang begonnen.
So mög, o Fürst, der Winkel deines Landes
Ein Vorbild deiner Tage sein!
Du kennest lang die Pflichten deines Standes
Und schränkest nach und nach die freie Seele ein.
Der kann sich manchen Wunsch gewähren,
Der kalt sich selbst und seinem Willen lebt;
Allein wer andre wohl zu leiten strebt,
Muß fähig sein, viel zu entbehren.
So wandle du – der Lohn ist nicht gering –
Nicht schwankend hin, wie jener Sämann ging,
Daß bald ein Korn, des Zufalls leichtes Spiel,
Hier auf den Weg, dort zwischen Dornen fiel;
Nein! streue klug wie reich, mit männlich steter Hand,
Den Segen aus auf ein geackert Land;
Dann laß es ruhn: die Ernte wird erscheinen
Und dich beglücken und die Deinen.
Ilmenau am 3. September 1783
Goethes Freundschaft mit dem Herzog ermöglicht
das Einfließen aufklärerischen und liberalen Gedan-
kengutes auf einen regierenden Souverän.
Des Herzogs  große  Passionen, die Goethe  beide
nicht teilt, sind die Jagd und das Militärwesen. Er
ist bestrebt, dem Vorbild seines Großonkels Fried-
rich II. nachzueifern und an seiner Seite militärische
Lorbeeren  zu  ernten.  Daß  er  auf  diesem  Gebiet
gemäßigt wird, ist mit Sicherheit auf Goethes Ein-
fluß zurückzuführen.
Das anfängliche Sturm- und Drangtreiben, später
die Jagdleidenschaft des Herzogs, das Theaterspie-
len, die literarischen Unternehmungen der Hofge-
sellschaft, die Übungen im Zeichnen stellen Goethe
nach einigen Jahren nicht mehr zufrieden, zumal
seine schriftstellerischen und poetischen Aktivitäten
durch seine unzähligen Verpflichtungen immer wei-
ter eingeschränkt sind.
Im  September  1783  bricht  Goethe  auf  zu  einer
Reise in den Harz. Die erste Nacht unterwegs ver-
bringt  er  auf  einer  kleinen  Jagdhütte  auf  dem
Kickelhahn  bei  Ilmenau:  Dort  entstehen  die  be-
rühmten Verse:
Über allen Gipfeln ist Ruh
in allen Wipfeln spürest Du
kaum einen Hauch
Die Vöglein schweigen im Walde
warte nur: balde – ruhest Du auch.
Fast ein halbes Jahrhundert später wird Goethe am
Vorabend seines letzten Geburtstages noch einmal
die Hütte aufsuchen und die von ihm in die Bretter-
wand geritzten Verse lesen.
Wenig später wird er zu Eckermann bemerken: In
den ersten zehn Jahren meines Weimarer Lebens
habe ich so gut wie nichts gemacht; eigentlich war
es die Verzweiflung, die mich nach Italien trieb...
In Goethes Briefen der nächsten Monate schwingt
zuweilen nun ein mißvergnügter Unterton mit; als
Dichter hat er in diesen Jahren kaum noch etwas zu-
stande gebracht. Der Faust, die Iphigenie, der Tasso
und der Egmont liegen als Fragmente in der Schub-
lade. Die Amtstätigkeit im Dienste des Herzogs be-
lastet ihn zunehmend.
Ich darf mich nicht säumen, ich bin schon weit in
den Jahren und vielleicht bricht mich das Schicksal
in  der  Mitte  und  der  Babylonische  Turm  bleibt
stumpf, unvollendet, schreibt er an einen Freund.
114
Meine Schriftstellerei subordiniert sich dem Leben,
schreibt er am 14. Mai 1784 an Kestner, doch er-
laube ich mir, setzt er mit einiger Ironie hinzu, nach
dem Beispiel des großen Königs, der täglich einige
Stunden auf die Flöte wandte, auch manchmal eine
Übung in dem Talente, daß mir eigentlich eigen ist.
Ab  Mitte  der  1780er  Jahre,
auf dem Gipfel seiner Amts-
karriere,  gerät  Goethe  in
eine  Krise.  Seine  amtli-
chen Tätigkeiten bleiben
ohne  Erfolgserlebnisse,
die  Belastungen  seiner
Ämter und die Zwänge des
Hoflebens werden ihm lästig,
die Beziehung zu Charlotte von
Stein gestaltet sich zunehmend unbefriedigend.
Als ihm der Verleger Göschen 1786 das Angebot
einer Gesamtausgabe macht, wird ihm schockartig
klar, daß von ihm in den letzten zehn Jahren nichts
Neues erschienen ist. Im Blick auf seine dichteri-
schen Fragmente Faust, Egmont, Wilhelm Meister,
und Tasso verstärkten sich die Selbstzweifel an sei-
ner Doppelexistenz als Künstler und Amtsmensch.
Nach der ernüchternden Erfahrung seiner dichteri-
schen  Stagnation  im  ersten  Weimarer  Jahrzehnt
entzieht er sich schließlich dem Hof durch eine für
seine Umgebung unerwartete Bildungsreise nach
Italien.
Den Herzog hat er vor dem letzten persönlichen Zu-
sammensein  in  Karlsbad  schriftlich  um  unbe-
fristeten Urlaub gebeten. Am 24. Juli schreibt er
ihm: Die Hoffnung den heutigen Tag noch mit Ihnen
zuzubringen hat mich nicht allein getäuscht, son-
dern auch um ein Lebe wohl gebracht. (…)
Ich dancke Ihnen daß Sie mich noch mit einem
freundlichen Worte beurlauben wollen. Ich gehe al-
lerley Mängel zu verbessern und allerley] Lücken
auszufüllen, stehe mir der gesunde Geist der Welt
bey! Behalten Sie mich lieb, empfehlen Sie mich
Ihrer Frau Gemahlinn, die ich mit herzlichen Freu-
den wohl verlassen habe, und leben selbst gesund
und froh.
Am 3. September 1786 bricht er ohne Abschied von
einer Kur in Karlsbad auf. Nur sein Sekretär und
vertrauter Diener Philipp Seidel ist eingeweiht.
Für die Zurückbleibenden mußte es wie eine Flucht
erscheinen. Goethe schreibt: Früh drei Uhr stahl
ich mich aus Karlsbad weg, man hätte mich sonst
nicht  fortgelassen..., denn die Gesellschaft hatte
noch am 28. August auf sehr freundliche Weise mei-
nen Geburtstag gefeiert...
Aber er wird nach zwei Jahren wiederkommen und
bis an sein Lebensende in Weimar bleiben. Doch
auch nach seiner Rückkehr wird Goethe bis nahezu
an sein Lebensende die doppelte Herausforderung
annehmen: einerseits als Staatsminister zu wirken,
und gleichzeitig das wohl umfassendste dichteri-
sche Werk deutscher Sprache zu schaffen.
Hans-Hellmut Allers
115
2008
Goethes lebenslange Suche
Hans-Hellmut Allers  (Berlin)
...daß ich erkenne, was die Welt
im Innersten zusammenhält.
Einführungsvortrag zum Jahresthema
Goethes lebenslange Suche
Prof. Dr. Ludolf von Mackensen (Kassel)
...die Chymie ist noch immer
meine heimlich Geliebte...
Goethe und die Alchemie
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings (Berlin)
Kommst Du nur immer anzuklagen –
Ist auf der Erde ewig Dir nichts recht?
Faust- die alte und die neue Schöpfung
Goethes 259. Geburtstag
in Schuberts Garten
Jürgen Thormann liest Johann W. Goethe
Meine Religion, mein Glaube
Daß ich erkenne, was die Welt
im Innersten zusammenhält...
Als Goethe seinen Doktor Faust im
Studierzimmer  gleich  zu  Beginn
diesen Wunsch  aussprechen  lässt,
geht es keineswegs um die Erfor-
schung der Erdrinde, die ihn auch
sehr  beschäftigt  hat;  vielmehr  ist
mit dem Innersten hier die Esoterik
gemeint, die Suche nach der inne-
ren,  spirituellen  Erkenntniswahr-
heit,  auf  der  sich  Goethe  sein
gesamtes Leben lang befindet.
Sein  Protagonist  ist  ja  auch  nicht
von  ungefähr  kein  Naturwissen-
schaftler, sondern ein Pendler zwi-
schen  den  Fakultäten;  hat  mit
heißem  Bemühn  studiert  Philoso-
phie und sogar Theologie, auch ein
wenig Jura und Medizin, hat offen-
bar  sogar  als Arzt  praktiziert  wie
sein historisches Vorbild, der Alche-
mist, Astrologe, Magier und Wun-
derheiler Doktor Johann Faust. Und
nun erleben wir gerade, wie er sich
erklärtermaßen der Magie ergeben
hat  und kabbalistische Zeichen in
einem Folianten von Nostradamus
eigener Hand studiert, um den Erd-
geist anzurufen.
Nun  gut,  dichterische  Phantasie
könnte man meinen, doch weit ge-
fehlt.  Als  der  21-jährige  Goethe
1770  in  Straßburg  diese  Verse  zu
Papier bringt, hat er gerade mehrere
Monate hinter sich, die er im elter-
lichen Hause, genesend  von einer
lebensbedrohlichen Krankheit, mit
dem  Studium  der  Alchemie  und
Kabbalistik sowie der Kirchen- und
Ketzergeschichte verbracht hat.
Die  intensive  Beschäftigung  mit
dem Vorhandensein einer unsicht-
baren  geistigen  Welt  und  deren
mannigfache Einwirkung auf unser
tägliches Leben  ist  keine Marotte
des jungen Studiosus. In allen Le-
bensabschnitten  wird  sich  Goethe
mit übersinnlichen und mysthischen
Phänomenen beschäftigen, mit den
Themen Prophezeiungen und Wie-
dergeburt;  er  liest  Jacob  Böhme,
Swedenburg und Spinoza und be-
kennt sich als zutiefst gottgläubig;
nur mit der Kirche hat er´s nicht so,
manifestiert sich für ihn doch der
allgegenwärtige  Schöpfer  in  der
Natur und ihren sämtlichen Hervor-
bringungen.
Sein ausgeprägter Hang zu spiritu-
ellen Wahrheiten, zu einer  jenseiti-
gen  Geisterwelt,  zu  Aberglauben
und Astrologie durchzieht sein ge-
samtes dichterisches Werk.
Seine Autobiografie Dichtung und
Wahrheit leitet er ein mit einem Be-
kennntnis zur Astrologie, ausklin-
gend  mit  einer  Darstellung  des
Dämonischen.  Zufall? Nach Goe-
thes Überzeugung gibt es keine Zu-
fälle, sondern nur Fügungen.    B.S.
116
Prof. Dr. Volker Hesse (Berlin)
...doch im Innern scheint ein Geist
gewaltig zu ringen...
Goethes Ergründung der
Naturwissenschaften
Dr. Otto Krätz (Starnberg)
Wenn weise Männer nicht irrten,
müßten die Narren verzweifeln…
Chemische und physikalische Experimente
bei Goethe
Beate Schubert (Berlin)
Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt...
Esoterik in Goethes Leben und Werk
Prof. Dr. Theo Buck (Aachen)
Stirb und Werde!
Goethes Entelechie
Auszug  aus  dem  Einführungs-
vortrag von Hans-Hellmut Allers:
Goethes Grundauffassung, seine per-
sönlichen Vorstellungen bezüglich der
bedeutendsten  und  wichtigsten  Le-
bensthemen  des  Menschen,  sein  le-
benslanges  Suchen  nach  Antworten
auf die großen Fragen, die sich Men-
schen stellen, sind nicht allein durch
Darstellen und Interpretieren biogra-
phischer Daten und Abläufe aufzuspü-
ren.  Obwohl  Goethe  an  der
Philosophie seiner Zeit trotz intensiver
Auseinandersetzung  wenig  Freude
hat, ist er doch ein wirklicher Philo-
soph, ein Freund der Weisheit im an-
tiken Sinn.
Die Philosophie der Antike verbindet
das Erkennen naturwissenschaftlicher,
mathematischer  oder  geisteswissen-
schaftlicher  Zusammenhänge  mit
allem, was menschliche Neugier und
menschliches Denken auf allen Gebie-
ten hervorbrachte. Goethe ist jedoch
kein Freund philosophischer Systeme,
sie erscheinen ihm künstlich oder kon-
struiert. Ihn treibt die Liebe zur Natur,
zu  einer  immer  eingehenderen  Be-
schäftigung mit naturwissenschaftli-
chen Fragen. In den Zahmen Xenien
heißt es: mein Kind, ich habe es klug
gemacht, ich habe nie über das Den-
ken gedacht.
Für Goethe ist die Erfahrung der Weg
zur Erkenntnis, nicht das Nachdenken
über  das  Denken.  Zu  den
Naturwissenschaften kommt Goethe
als Autodidakt.  Er  betreibt  Wissen-
schaft so, wie er Wissenschaft von An-
beginn  auffasst:  Erfahren  durch
Betrachten und Begreifen. Für Goethe
zählt, was sich aus sinnlich Erfahrba-
rem  ableiten  lässt.  Natürlich  spielt
auch  das  Experiment  bei  ihm  eine
Rolle, aber eben nicht ausschließlich.
Als  Bergbauminister  kriecht  er  in
Stollen und Bergwerke, um Gesteine
und Mineralien zu betrachten und zu
begreifen.  Er  untersucht  die Phäno-
mene des Magnetismus und der Elek-
trizität.  Er  notiert  Barometerstände
und versucht, ein Netz zur Wetterbe-
obachtung und Wettervorhersage im
Herzogtum aufzubauen und er betreibt
anatomische Studien.
Goethes  Haltung  gegenüber  der
Newtonschen  Theorie  der  Lichtbre-
chung kann man getrost als feindselig
beschreiben. Er verteufelt alles, was
mit Zerlegen und  Zerstückeln zu tun
hat.  Für  die  Farben  findet  er  die
schöne poetische Formulierung: Far-
ben sind Taten und Leiden des Lichts.
117
Nun sag! Wie hast du's mit der Religion? fragt Gret-
chen ihren Heinrich, den Doktor Faust, und dieser,
der in seiner Studierstube in der Osternacht einige
Szenen zuvor bekannt hat: Die Botschaft hör ich
wohl, allein mir fehlt der Glaube, weicht aus und
bequemt sich schließlich zu der Antwort: Gefühl ist
alles.  Name  ist  Schall  und
Rauch, Umnebelnd Himmelsglut.
Wie aber hielt es Goethe selbst
mit Religion  und Christentum?
Die  Meinungen  sind  gespalten
und widersprechen einander.
Goethe war weder ein Religions-
verächter  noch  ein  religiöser
Mensch im konfessionellen Sinn.
In einem Brief an Sulpiz Boisse-
rée vom 22. März 1831 schreibt
er, er habe keine Konfession ge-
funden,  zu  der  ich  mich  völlig  hätte  bekennen
mögen. Stattdessen übte er schon früh Kritik an den
positiven Formen geoffenbarter Religion und der
Kirche und hielt sich schon in der Jugend an die
Vorstellung einer natürlichen Religion, nach der ein
höheres ordnendes Wesen nur in der Natur verbor-
gen spürbar sei.
Sein Leben lang suchte Goethe nach der wahren
Religion und fand sie zunächst und am ehesten in
der Natur. Alle Schöpfung ist Werk der Natur. Von
Jupiters  Throne  /  Zuckt  der  allmächtige  Strahl,
nährt und erschüttert die Welt.
(Vier Jahreszeiten)
Religion erschöpfte sich für Goethe nicht in mytho-
logischen Bildern und in austauschbaren Mytholo-
gemen, sondern galt ihm als eine besondere Sicht
auf die Welt, den Menschen und die Natur.
Schon früh hat sich der Dichter dazu bekannt: Gott
in der Natur, die Natur in Gott zu sehen. Bei der
Betrachtung von Schillers Schädel widmete er sei-
nem früh verstorbenen Freund einen Nachruf, an
dessen Schluss es heißt: Was kann der Mensch im
Leben mehr gewinnen, / Als daß
sich Gott-Natur ihm offenbare? /
Wie sie das Feste lässt zu Geist
gerinnen, / Wie sie das Geister-
zeugte fest bewahre.
Der Natur, der Goethe eine gera-
dezu religiöse Verehrung entge-
genbrachte, weil er sie mit Gott
gleichsetzte, ordnete er Willen,
Vernunft,  Weisheit,  Güte  und
Liebe zu. Er war überzeugt von
dem  Wirken  einer  höchsten
Macht in ihr und von dem schöpferischen Prinzip
der Polarität als einer dynamischen Kraft alles Wer-
dens, dem Naturgesetz von Anziehung und Absto-
ßung bei fortwährender Steigerung des Einfachen
auf die jeweils vollendete Form. Goethe war voll
Ehrfurcht vor dem Lebendigen in all seinen wahr-
nehmbaren Aspekten wie auch vor dem letztlich un-
erforschlichen Wirken des Göttlichen, in dem Welt
und Leben aufgehoben sind.
Religion ist für Faust wie für Goethe eine Sache des
Gefühls. Auch Faust blieb, nachdem er die Uner-
füllbarkeit seines Wunsches, daß ich erkenne, was
die Welt im Innersten zusammenhält, erkannt hat,
am Ende nur die Ehrfurcht vor dem unerforschli-
chen und unbegreiflichen Wesen der Welt, die Ehr-
furcht  vor  dem  unfassbaren  Gott,  für  den  Faust
keinen Namen hat und den in Begriffe zu fassen, er
ablehnt.
Da  die  Religion  für  Goethe  in  erster  Linie  eine
Sache des Gefühls ist, bleibt sein Glaube auch wei-
terhin überwiegend ein  gefühlsmäßiges Erfassen
und Erfaßtsein der Seele, weshalb er jede rationale
Bestimmung und Deutung der religiösen Gegen-
stände und Erlebnisse ablehnt.
Im Laufe seines Lebens entwickelte Goethe panso-
phistische, mystische und auch pantheistische Vor-
stellungen – wonach Gott identisch sei mit allem,
was  ist.  Das  freilich  sind  Vorstellungen,  die  im
scharfen Gegensatz stehen zum christlichen und jü-
dischen Glauben. Goethe sieht sich daher wieder-
holt  dem  Vorwurf  des  Atheismus  ausgesetzt,
obwohl er doch nur die Gegensätze zu vereinen ver-
suchte.
Für Goethe hat die Natur in die Existenz eines jeden
lebendigen  Wesens so  viel  Heilungskraft  gelegt,
daß es sich, wenn es an dem einen oder dem ande-
ren Ende zerrissen wird, selbst wieder zusammen-
flicken  kann;  und  was  sind  die  tausendfältigen
Religionen  anders als tausendfache  Äußerungen
dieser Heilungskraft, die ihnen innewohnt?
Die Frage, die Goethe gegenüber allem Religiösen
bewegt, ist das Problem, ob der Mensch in seiner
Identität  durch  religiöse Ansprüche  vergewaltigt
werde oder ob er dabei er selbst bleiben dürfe. Ge-
Ursula Homann (Arnsberg)
Wie hältst Du´s mit der Religion?
Goethes Glaube und Gottesvorstellung
118
rade im Hinblick auf sein Ringen mit dem Chris-
tentum kreiste sein Denken immer wieder um die
Frage, ob und inwieweit das Christentum der Tra-
dition vom einzelnen Menschen angeeignet werden
könne, ohne die eigene Natur zu bedrohen.
Obwohl das Christentum
für  Goethe  eine  in  der
Regel mit Respekt regis-
trierte  Religion  ist  und
die  Luther-Bibel  sein
Denken,  seine  Bilder-
und  Gleichniswelt,  ja
sogar seine Sprache zeit-
lebens  tiefer geprägt und
ihn mehr gebildet hat als
irgendein anderes Werk,
so  war das Christentum
für ihn später doch nur eine von mehreren Möglich-
keiten,  der  eigenen  Existenz  ein  Fundament  zu
geben.
Goethes Denken besaß in  ihrer Vielschichtigkeit
und  in  ihrem  Geistesreichtum  eine  ozeanische
Weite, die sicher größer war als die vieler anderer
Geistesgrößen. Er hat nicht nur eine einzige Reli-
gion vor Augen gehabt, sondern die Vielfalt aller
Religionen,  die  auf  Gott  und  zugleich  auf  die
Menschheit – auf das Divinum und das Humanum
–  ausgerichtet  sind.  Sein  Humanismus  wurzelt
ebenso in der griechisch-römischen Klassik wie im
Judentum  und  im  Christentum.  Ja,  selbst  fern-
östliche Motive sind dem Verfasser des West-östli-
chen  Divans nicht  fremd.  Da  gibt  es  weder
Einlinigkeit noch sind eindeutig Brüche und Abbrü-
che auszumachen.
Am 6. Januar 1813 schreibt Goethe in einem Be-
kenntnis zur Fülle des Seins und zur Vieldimensio-
nalität des religiösen Ich: Ich für mich kann bei den
mannigfachen Richtungen meines Wesens nicht an
einer  Denkweise  genug  haben;  als  Dichter  und
Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als
Naturforscher und eins so entschieden als das an-
dere. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlich-
keit als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon
gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind
ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zu-
sammen es nur erfassen mögen.
Goethe strebte danach, die religiöse Enge, in der er
aufgewachsen war und die ihn immer umgab, durch
eine umfassende lebensverbundene und Hoffnung
kündende  Weite  zu  sprengen.  Das  Gefühl  von
Größe und Freiheit war ihm wichtig. Daraus ergibt
sich auch, daß er sich ungern festlegte, noch weni-
ger, daß er sich festlegen ließ. Ob man ihn Pan-
theist, Atheist oder Christ nennen wollte, galt ihm
gleich viel, weil niemand recht wisse, was das alles
eigentlich heißen sollte.
Die lebenslange Beschäftigung mit der christlichen
Religion, den Religionen der Welt und mit kontro-
versen  theologischen  Interpretationen  zeigt  sich
nicht nur in seinem Werk, sie bestimmt auch Goe-
thes  Leben insgesamt.  Seine  Sprachmächtigkeit,
seine Kunst und Ästhetik sind ohne die Auseinan-
dersetzung mit dem Thema Religion nicht zu ver-
stehen. Das erklärt auch, bei all seiner Ablehnung
des orthodoxen Protestantismus, Goethes ausdrück-
liche Bewunderung der sprachgeschichtlichen Leis-
tung Luthers.
Für Goethe, der mit den Entwicklungen der protes-
tantischen Theologie schon früh wohl vertraut war,
hatte der protestantische Gottesdienst jedoch »zu
wenig Fülle und Consequenz, als daß er die Ge-
meinde zusammen halten könnte« und: zu wenig
Sacrament.
Im  Tagebuch  vom  7.  September  1807  notierte
Goethe: Der Protestantismus hält sich an die mora-
lische Ausbildung des Individuums, also ist Tugend
sein erstes und letztes, das auch in das irdische bür-
gerliche Leben eingreift. Gott tritt in den Hinter-
grund  zurück,  der  Himmel  ist  leer  und  von
Unsterblichkeit ist bloß problematisch die Rede.
Dennoch hat er die geistesgeschichtliche Bedeutung
des Protestantismus erkannt und ihn überkonfessio-
nell gewürdigt: als Anre-
gung,  als  Widerstand
gegen  Autoritäten,  als
Befreiungsversuch  und
als Aufklärung. Vor allem
als Befreiung der Geister
hat er ihn und Luther sehr
geschätzt.  Religiöses
Denken  im  weitesten
Sinne  grundiert  mithin
Goethes Leben und Werk
und bestimmt seine Welt-
anschauung und Sprache.
Doch verfolgen wir erst einmal die Stufenfolge sei-
ner religiösen Erfahrung, von der frühen Protestan-
tismuskritik über pantheistische Glaubensinhalte
bis  hin  zum  späteren  Humanitätsideal  und  zur
Altersmystik.
119
Goethes Kindheit und Jugend waren streng luthe-
risch geprägt. Im Haus des Kaiserlichen Rates Jo-
hann  Caspar  Goethe  waren  der  Kirchgang,  der
Gebrauch des Gesangbuches und der Bibel selbst-
verständlich. Hinzu kamen die naive Frömmigkeit
der  Mutter  und  der  regelmäßige  Religionsunter-
richt, den Goethe durch private Hebräischstunden
vertiefte. Außerdem regten ihn die biblischen Ge-
schichten, die er hörte und las, schon früh zu eige-
nen dichterischen Versuchen an.
Goethes  Kindheit  und  Jugendzeit  fielen  in  eine
Epoche des Umbruchs, in der religiöse Vorbilder,
Legenden und Heiligenviten ihre schützende Wirk-
kraft zu verlieren begannen und dem Individuum
mehr und mehr die Aufgabe des Mündigwerdens
übertragen wurde. Dennoch behielt die Religion,
obwohl man sie jetzt historisierend oder psycholo-
gisch  zu  deuten  begann,  auch  an  der  Epochen-
schwelle und bei aller Kritik am Dogmatismus ihre
fundamentale Bedeutung noch lange Zeit bei.
Erste Erschütterung seines an den Katechismus ge-
bundenen  naiven  Kinderglaubens  erfuhr  Goethe
durch das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755.
Stellte dieses doch die damals allgemeine Überzeu-
gung in Frage, daß der Mensch sein Schicksal ganz
in der Hand habe. Der Glaube an die unerforschli-
che Güte Gottes wurde ebenso erschüttert wie die
optimistische Ansicht von dieser Welt als der besten
aller möglichen.
Wo waren noch Gerechtigkeit und Menschenliebe
Gottes,  wenn  er  es  zuließ,  daß  unterschiedslos
Schuldige und Unschuldige, Säuglinge und Greise,
Männer und Frauen, ohne gewarnt worden zu sein
und ohne sich wehren
zu können, im Nu da-
hingerafft  werden?
Damit  begann  auch
bei Goethe ein erstes
Nachdenken über den
Sinn des Lebens.
Goethe übte schon früh Kritik an der protestanti-
schen Orthodoxie und an der für ihn enttäuschenden
Form des Luthertums, insbesondere an dem vom
Protestantismus  geforderten  Sündenbewusstsein.
Der kirchliche Protestantismus, wie er ihn in seiner
Jugend kennengelernt hatte, war ihm nur eine Art
trockener Moral.
Goethe schildert weiter, wie er – gegen den protes-
tantischen Konservatismus vor allem des Vaters –
mit  eigenen  Erfahrungen  seine  Weltanschauung
formte.
Goethes spätere Weltfrömmigkeit kündet sich über-
dies in dem Naturopfer des Knaben an, von dem
Goethe in seinen Erinnerungen ausführlich berich-
tet,  wobei  er  allerdings
erfahren musste, wie ge-
fährlich  es  überhaupt
sei, sich Gott auf derglei-
chen  Wegen  nähern  zu
wollen. Denn  die  Räu-
cherkerzen  hatten  bei
einer dieser Opferhand-
lungen in einem Zimmer
des  Elternhauses  be-
trächtlichen Schaden an-
gerichtet.
Goethe  nahm  in  jungen  Jahren  beim  Rektor
Albrecht Hebräischstunden, die ihn wiederum an-
regten, sich mit dem Alten Testament intensiver zu
beschäftigen.  Das  Resultat  war,  wie  Goethe
schreibt, daß von den biblischen Völkern und Ge-
schichten eine lebhaftere Vorstellung in seiner Ein-
bildungskraft hervorging. Aber  nicht  nur  das,  er
begann auch, manche der alten Geschichten nach-
zudichten. Viele seiner leider nicht erhaltenen Ju-
gendwerke  haben  biblische  Themen:  Belsazar,
Isabel, Ruth, Selima.
Goethe  verfaßte  geistliche  Oden  und  ahmte  das
Jüngste Gericht von Elias Schlegel nach. Auch eine
Ode Zur Feier der Höllenfahrt Christi erhielt von
meinen Eltern und Freunden viel Beifall, und sie
hatte das Glück, mir selbst noch einige Jahre zu ge-
fallen. Das lange sechszehnstrophige Gedicht von
1765, das gegen Goethes Willen in der Frankfurter
Wochenschrift Die Sichtbaren gedruckt wurde, ver-
harrt in Thematik und künstlerischer Ausgestaltung
noch ganz im Bann der Tradition.
Im Oktober 1765 ging Goethe zum Studium nach
Leipzig. Dort ergriff ihn Skepsis in einer Stadt, die
sich gegenüber dem engen und provinziellen Frank-
furt als Zentrum der deutschen Aufklärung und des
Rokoko durch weltläufige Eleganz auszeichnete.
Mit Freunden führte er Gespräche über Fragen der
Ästhetik, der Gesellschaft, der Psychologie und der
Religion. Besonders die pietistischen Thesen, die
der angehende Theologe Ernst Theodor Langer in
manchen nächtlichen Zusammenkünften vortrug,
bei denen eifrig über Bibel und Christentum disku-
tiert wurde, wirkten über viele Jahre noch in Goethe
nach.
120
Eines Nachts bricht Goethe mit einem Blutsturz zu-
sammen. Langer, der mit Goethe auf dem gleichen
Flur wohnt, nimmt sich seiner an. Er kehrt 1768
nach Frankfurt zurück als ein an Körper und Seele
Leidender.
Goethe war gleichsam als ein Schiff-
brüchiger in  das  Elternhaus  zu-
rückgekommen  und  befand  sich
weiterhin auf der Suche nach um-
fassenden  Antworten  auf  die
Frage nach dem Sinn des Daseins
und  intensivierte  seinen  Kontakt
mit der Pietistin Susanna Katharina
von Klettenberg, die in ihm ein nach
einem  unbekannten  Heile  strebendes  Wesen ent-
deckte.
Bei Frau von Klettenberg las
er  auch mystische,  che-
misch-alchimistische  Bü-
cher der  Neuplatonischen
Schule, um die Geheimnisse
der  Natur  im  Zusammen-
hang kennen zu lernen. Von
großem  Einfluß  war  Gott-
fried  Arnolds Kirchen-und
Ketzer-Geschichte,  deren
geschichtsspekulative Leh-
ren Goethes weitere Religi-
onsentwicklung  nachhaltig  bestimmten  und
vielfach  in  seinem  Werk  aufzuspüren  sind,  vom
Werther bis zur Farbenlehre.
Die pietistische Phase fand in Goethes  späterem
Leben allerdings keine Fortsetzung, im Gegenteil.
Goethe fühlte sich auf die Dauer zunehmend abge-
stoßen  von  Heuchelei,  Schwärmertum  und  der
Weltabkehr der Stillen im Lande, wie sie halb im
Scherz, halb im Ernst genannt wurden, jener from-
men Seelen, welche ohne sich zu irgend einer Ge-
sellschaft  zu  bekennen,  eine  unsichtbare  Kirche
bildeten.
Bewußt bildete Goethe sich nun mehr und mehr
seine eigene Religion, welcher der neue Platonis-
mus zu Grunde lag. Das Hermetische, Mystische,
Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so
erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aus-
sah.
(Dichtung und Wahrheit, 8. Buch, S. 350).
Mehr und mehr fühlte er sich vom Neuplatonismus
Plotins angezogen, der lehrte, daß sich die Seele des
Menschen durch Ekstase und mystische Vision mit
dem Ursprung, mit dem Allwesen wiedervereinigen
könne.
Nach Überwindung seiner Krankheit ging Goethe
nach Straßburg, wo er sein Jurastudium beendete.
Dort  lernte  er  den  pietistischen
Schriftsteller  und  Arzt  Johann
Heinrich  Jung-Stilling  kennen,
den Autor Jakob Michael Rein-
hold Lenz, den Theologen Franz
Christian Lersé und Zinzendorfs
Nachfolger in Marienborn, Au-
gust Gottlieb Spangenberg. Be-
sonders  folgenreich  war  die
Begegnung  mit  Johann  Gottfried
Herder, den er später als Generalsuperintendenten
nach Weimar holen sollte und von dem er eine Fülle
religiöser und theologischer Anregungen empfing.
Herder  hielt  Goethe  zur  Beschäftigung  mit  dem
Koran an und vermittelte ihm eine historisch-kriti-
sche Betrachtung der Bibel, wobei diese nicht im
Sinne  göttlicher  Offenbarung,  wie  sie  Lavater
pflegte, verstanden wurde, sondern als historisch-
religiöses Traditionswerk, das nicht in Glaubens-
dingen,  wohl  aber  in  historischen  Aspekten  der
Kritik offen steht.
Vor allem wirkte die Begegnung mit Johann Caspar
Lavater, der zwar kein Pie-
tist, aber ein bizarrer Christ
war,  auf  den  immer  kriti-
scher werdenden Straßbur-
ger  Studenten  Goethe  als
Provokation.  Mit  ihm  be-
ginnt  er  einen  zehn  Jahre
währenden  Briefwechsel,
der sich in erster Linie um
religiöse Fragen dreht.
Goethe fühlt sich von Lavaters ausschließlichen In-
toleranz abgestoßen und verkraftet nicht, daß die-
ser,  obwohl menschlich  das  toleranteste,
schonendste Wesen, sich als Lehrer einer ausschlie-
ßenden  Religion darstellt.  Demgegenüber  macht
Goethe seine Ansprüche auf Vielfalt und Toleranz
deutlich.
Mein Pflaster schlägt bei dir nicht an, deins nicht
bei mir. In unsers Vater Apotheke, schreibt Goethe
in einem Brief vom 4. Oktober 1782 an Lavater,
sind  viele  Rezepte.  Und: Was  sind  die  tau-
sendfältigen  Religionen anders als tausendfache
Äußerungen dieser Heilungskraft, die ihnen inne-
wohnt?
121
Am 8. Januar 1777 richtet Goethe an Lavater fol-
gende Zeilen: Dein Durst nach Christus hat mich
gejammert. Du bist übler dran als wir Heiden, uns
erscheinen doch in der Noth unsre Götter.
Schließlich äußert Goethe gegenüber Lavater den
Satz, er, Goethe, sei zwar kein Widerchrist, kein Un-
christ, aber  doch  ein dezidierter Nichtchrist. Der
Protest des jungen, nach geistiger Unabhängigkeit
strebenden Genius gegen alle orthodoxe und pietis-
tische Einengung wird gerade durch die missionari-
schen  Tendenzen  Lavaters,  aber  auch  Jacobis
ausgelöst.
Du nennst das Evangelium die göttlichste Wahr-
heit? Mich würde eine vernehmliche Stimme aus
dem  Himmel  nicht  überzeugen,  daß  das  Wasser
brennt  und  das  Feuer  löscht  und  ein  Weib  ohne
Mann  gebärt  und  ein  Toter  aufersteht;  vielmehr
halte ich dies für Lästerungen gegen den großen
Gott und seine Offenbarung in der Natur. In diesem
Glauben ist es mir ebenso heftig ernst wie Dir in
dem Deinem.
(Goethe an Lavater am 9. 8. 1782)
.
Doch bekennt Goethe in Dichtung und Wahrheit:
Dieses Hin- und Widerschreiben, so heftig es auch
war, störte das gute Verhältnis nicht. Lavater hatte
eine unglaubliche Geduld, Beharrlichkeit, Ausdauer.
Die kraftgenialische Selbstbezüglichkeit des begin-
nenden Sturm und Drang ließ Goethe – nicht zuletzt
durch Herder – noch weiter von der Orthodoxie und
den pietistischen Ideen abrücken. Einen neuen Zu-
gang zur Religion fand er ab 1773 aber auch durch
den Pantheismus Baruch Spinozas, der Gott in der
gesamten Natur manifestiert sah.
In Dichtung und Wahrheit rühmt
Goethe  Spinoza  mit  den Wor-
ten: Die  alles  ausgleichende
Ruhe  Spinozas  kontrastierte
mit meinem alles aufregenden
Streben.. und ..machte mich zu
seinem  leidenschaftlichen
Schüler, zu seinem entschiedens-
ten Verehrer.
Unter  dem  Einfluß  Spinozas  kehrt  er  wieder  zu
einer  seinem  Naturgefühl  entsprechenden,  dem
Pantheismus verwandten Naturfrömmigkeit zurück,
die  sich  am  einfachsten  und  umfassendsten  als
Diesseits- oder Weltfrömmigkeit umschreiben lässt.
Das bedeutet: Verehrung des ungreifbaren Höheren
als Ordnungsmacht in der Schönheit der Welt, Ein-
ordnung in die Gesetze des Daseins oder Schicksals
und eine tätig-nützliche mitmenschliche Lebensge-
staltung im schöpferischen wie sittlichen Sinn bei
weitgehendem Dahingestelltseinlassen der letzten
Fragen und Umgehung religiöser Spekulationen um
Jenseits, Unsterblichkeit und Seelenheil.
Die Befreiung von den Zwängen seiner Kindheit
und die Abkehr auch von neueren theologischen
Systemen findet ihren starken Ausdruck in den frü-
hen Dramen, Götz und Stella. In Götz von Berli-
chingen vertritt der Dichter eine religionskritische
Haltung, eine Art Befreiungstheologie. Himmlische
Luft! Freiheit! Freiheit! läßt er Götz vor seinem Tod
ausrufen, ganz im Sinne seines Ausspruchs: Was
vom Christentum gilt, gilt von den Stoikern, freien
Menschen  ziemt  es  nicht, Christ  oder Stoiker zu
sein.
Den  Weg  seiner  frühen  religiösen  Entwicklung
bringt Goethe in Dichtung und Wahrheit in eine his-
torisch-systematische Abfolge. Aber lassen wir ihn
selbst zu Worte kommen: Man hat im Verlaufe die-
ses biographischen Vortrags umständlich gesehn,
wie  das  Kind,  der  Knabe,  der  Jüngling
sich  auf  verschiedenen  Wegen dem
Übersinnlichen zu nähern gesucht,
erst mit Neigung nach einer na-
türlichen  Religion  hingeblickt,
dann mit Liebe sich an eine po-
sitive  fest  geschlossen,  ferner
durch Zusammenziehung in sich
selbst  seine  eigenen  Kräfte  ver-
sucht und sich endlich dem allge-
meinen Glauben freudig hingegeben.
Als er in den Zwischenräumen dieser Regionen hin
und wieder wanderte, suchte, sich umsah, begeg-
nete ihm manches, was zu keiner von allen gehören
mochte, und er glaubte mehr und mehr einzusehen,
daß es besser sei, den Gedanken von dem Ungeheu-
ren, Unfasslichen abzuwenden. Er glaubte in der
Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten
und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur
in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter
keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort ge-
fasst werden könnte.
Mit seiner Übersiedlung nach Weimar hatte Goe-
thes unbeschwerter, von dichterischer Produktion
bestimmter Frankfurter Lebensabschnitt geendet.
Die in Weimar mit dem Theaterspiel verbundene
höfische Welt bedeutete die Abkehr von der religiö-
sen Gefühlswelt seiner Jugend und die Hinwendung
zu einem unruhigen Leben gesellschaftlicher Ver-
122
pflichtungen. In dieser, der mittleren Periode seines
Lebens, erreichte Goethe die größte Entfernung von
der christlichen Religion.
Trotz seiner amtlichen Pflichten steht er in den ers-
ten Weimarer Jahren noch unter der Erfahrung der
befreienden  Natur.  Allmählich  aber  findet  eine
historische Rückbindung durch die Antike statt. Ihre
Diesseitigkeit, ihre Einbeziehung des Göttlichen in
Natur und Lebenswelt korrespondierte mit Goethes
eigenen Überzeugungen.
Antikes begann er nun, sich als zeitlos Vorbildliches
anzueignen und von den Griechen zu träumen, als
dem Volk, dem eine Vollkommenheit, die wir wün-
schen und nie erreichen, natürlich war. Die antike
Götterwelt wird nun Motiv zahlreicher Gedichte.
Goethes Wendung zur Antike ist persönlicher Aus-
druck des welthistorischen Konflikts zwischen dem
Polytheismus und dem Monotheismus, zwischen
Heidentum und Christentum. In der Antike sah er
eine humane und zugleich religiöse Form des Hei-
dentums, zu der er sich selbst mehrfach bekannte.
In Italien wird seine Religionsauffassung sowohl
durch die Begegnung mit dem Katholizismus als
auch durch weitere Einsichten in die antike Mytho-
logie vertieft. Denn sein Besuch in Italien schenkte
ihm sowohl die überwältigende Präsenz der Antike
als auch die Begegnung mit dem Alltags-Genius ita-
lienischen  Volkslebens.  Auf  seiner  Italienreise
fühlte er sich mitunter zu sehr von Katholiken um-
geben und meinte, daß ein unförmiges, ja barockes
Heidentum auf  ihm  laste.  Dann  wieder  pries  er
Geschmack und Würde päpstlicher Zeremonien in
Sankt Peter und verfolgte mit Ergriffenheit die Ge-
sänge der Karfreitagsliturgie. Hinterher meinte er:
Ich hätte in dieser Stunde ein Kind oder Gläubiger
sein mögen.
Doch neigte er dem katholischen Glauben keines-
wegs voll und ganz zu, vielmehr gebrauchte er ihn
als Mittel, um den ihm fremden Menschen nahe zu
kommen, also  zur Erweiterung  seines Welt- und
Menschenbildes.
Goethe war wohl überzeugt, daß Gott sich auch und
vor allem in der Kunst verberge und offenbare, aber
ausgesprochene  christliche  Kunst  als  Ausdruck
christlichen Glaubens war ihm unerträglich, und wo
ihm der Katholizismus in barocker Überladung und
kindlichem Aberglauben begegnete, verachtete er
ihn als menschliche Geschmacklosigkeit von sei-
nem rein ästhetischen Standpunkt aus.
Nach Lutherart ärgerte er sich über das Babel Rom,
das, wie er 42 Jahre nach seinem Italienaufenthalt
schrieb, mit Christus nichts zu tun habe, den man,
käme er zurück, auch zum zweiten Male kreuzigen
würde.
Nur die Renaissance fand mit Raffael und den Bau-
ten Palladios noch Gnade vor seinen strengen Bli-
cken  und  seinem  Empfinden,  während  die
Peterskirche und Michelangelo ihm nur widerwil-
lige Bewunderung abzwangen. In Italien steigerte
sich seine Ablehnung von Außerweltlichkeit, Eng-
herzigkeit  und Sinnenfeindlichkeit des  Christen-
tums bis hin zum Vorwurf von Täuschung, Irrtum
und lebensfeindlichem Aberglauben. Auf der ande-
ren Seite haben Goethes Einfühlung in Sakrament
und Symbol, sein tief verwurzelter Respekt vor dem
Unerforschlichen und den Schranken der mensch-
lichen Vernunft gerade katholische Philosophen und
Theologen sehr beeindruckt.
Die Freundschaft mit Schiller, dem Goethe am 9.
September 1788 zum ersten Mal im Hause von Frau
von Lengefeld in Rudolstadt begegnet war, hat ihn
in  weltanschaulichen  und  religiösen  Fragen  für
Ideen geöffnet. Unter seinem Einfluß wird Goethes
Religion philosophisch und weltanschaulich. Der
Begriff Freiheit, der dem Naturglauben entgegen-
steht, wird  nun Gegenstand  seines  Nachdenkens
und seiner Dichtung.
123
Goethe war kein Kirchenchrist oder Konfessiona-
list. Von allzu frömmelnden Zeitgenossen abgesto-
ßen, hat er sich dennoch nicht der zu seiner Zeit
schon weit verbreiteten agnostischen oder atheisti-
schen Version neuzeitlicher Aufklärung zugewandt.
Für Goethe war die Bibel das verbindende Urdoku-
ment der Menschheit. Im Hinblick auf ihre Entste-
hungs-,  Wirkungs-  und  Auslegungsgeschichte
erklärte er: Die Bibel, das sind 3000 Jahre Mensch-
heitsgeschichte.
Zeitlebens hat er sich mit der Bibel auseinander ge-
setzt, nur gelegentlich hat er religiöse Fragen expli-
zit formuliert, meist bilden sie den Subtext seiner
Werke und Schriften. Goethe hat das Nachdenken
über Religion in einzigartiger Weise in sein Werk
und in seine Sprache integriert. Farbenlehre, Dich-
tung und Wahrheit, West-östlicher Divan sind die
großen Werke zwischen 1810 und 1820. Sie alle
spiegeln Goethes religiöse Einstellung und zeigen
die Ausweitung seiner religiösen Überzeugungen
ins Allgemeine, in philosophischer, biographischer
und kulturgeschichtlicher Hinsicht.
Auch für seine Farbenlehre greift Goethe auf das
Modell von Polarität und Steigerung zurück, das er
als Grundstruktur des Lebens und Denkens begreift.
Gerade die Farbenlehre hat ausgeprägte theologi-
sche Elemente und stellt eine kryptotheologische
Dogmatik dar (Albrecht Schöne). Die Verbindung
von Gott und Licht ist ein altes Motiv, das Goethe
aufgreift und in den verschiedenen Kontexten ein-
setzt. Das Licht ist eine der ursprünglichen, von
Gott erschaffenen Kräfte und Tugenden, welches
ein Gleichnis in der Materie darzustellen sich be-
strebt. Auch  im West-östlichen  Divan wird  die
Verbindung  von  Gott  und  Licht  mehrfach  an-
gesprochen.
»Metamorphose«, ein weiterer Zentralbegriff der
naturwissenschaftlichen,  voran  der  morphologi-
schen  Schriften  Goethes,  enthält  ebenfalls  eine
religiöse Dimension: die Verwandlung, die Trans-
formation von einem Zustand in einen anderen, von
einer tieferen zu einer höheren Stufe.
Ferner  ist  der
Faust, an dem der
Dichter wohl sech-
zig  Jahre  seines
Lebens  gearbeitet
hat,  übervoll  von
Zitaten  und  An-
spielungen aus der
Bibel. Schon der Prolog beginnt alttestamentlich.
Die Wette um Fausts Seele beruht auf Anregungen
aus  dem Buch  Hiob,  ebenso  der  Lobgesang  der
Engel. Der Autor sieht eine gewisse Ähnlichkeit
zwischen Faust und Moses, beide durften das ge-
lobte Land nicht betreten.
Im Werther ist gleichfalls eine Fülle alttestament-
licher Bilder und Reminiszenzen verwoben, ebenso
im Götz von Berlichingen, in Clavigo, Stella, im
Prometheus-Fragment, Egmont, selbst in der Iphi-
genieDie Götter rächen der Väter Missetat nicht
an dem Sohn, ein jeglicher, gut oder böse, nimmt
sich seinen Lohn mit seiner Tat hinweg. – , in Die
Wahlverwandtschaften, Hermann  und  Dorothea
und in vielen der Goethe’schen Gedichte.
Die Wanderjahre von 1821 räumen der christlichen
Religion eine besondere Stellung unter den Religio-
nen ein. Die wahre Religion besteht in der Ehrfurcht
vor sich selbst. Das ist die höchste Stufe, zu der ein
Mensch geführt werden kann. Vor allem Goethes
Alterswerk Wilhelm  Meisters  Wanderjahre zeigt
deutlich, daß Goethe bis in sein Alter hinein dem
Alten Testament die immer gleiche Liebe und Ehr-
furcht erwiesen hat.
Biblische Bilder und Sprachverwendungen durch-
ziehen aber nicht nur sein gesamtes Werk, sondern
auch seine Briefe, besonders die an Zelter und Ja-
cobi, sowie seine Gespräche. Goethe ging sogar so
weit zu sagen, beim Glauben (...) komme alles da-
rauf an, daß man glaube; was man glaube, sei völ-
lig gleichgültig. Der Glaube sei ein großes Gefühl
von Sicherheit und Zukunft, und diese Sicherheit
entspringe aus dem Zutrauen auf ein übergroßes,
übermächtiges und unerforschliches Wesen.
Der Glaube ist nicht der Anfang, sondern das Ende
allen Wissens, befand Goethe, doch war er alles an-
dere als ein  Rationalist,  in  dessen Denkgebäude
Gott allenfalls als gedanklicher Schlußstein, als In-
haber der allerhöchsten Vernunft einen Platz gehabt
124
hätte. Gott war für ihn dagegen lebendige Urkraft,
vor dessen unerforschlicher Majestät er eine rin-
gende,  auch  nach  Worten  ringende  ehrfürchtige
Sehnsucht fühlte.
Das  Wort Gott findet  sich  bei
Goethe  verhältnismäßig  selten.
Lieber gebrauchte er Umschrei-
bungen wie das Unendliche, das
Ungeheure, das ewig Wirkende,
der Weltgeist«, die Weltseele, das
unbekannte  höhere  Wesen,  die
waltenden  Mächte,  das  Ewig-
Eine in schier grenzenloser Man-
nigfaltigkeit.
Goethe wußte auch, daß Menschen sich Gott nach
ihren  eigenen  Vorstellungen  formen  und  meinte
daher: Wie einer ist, so ist sein Gott / Darum ward
Gott so oft zum Spott und gegenüber Schiller be-
tonte Goethe am 31. 7. 1799, daß sich jeder seine
eigene Art von Gott macht und daß man niemand
den seinigen weder nehmen kann noch soll. (...) Ich
glaube einen Gott, ist ein schönes löbliches Wort,
aber Gott anerkennen, wie und wo er sich offenbart,
das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden, hat Goethe
1829 aphoristisch resümiert. Das Göttliche zu ent-
hüllen, wo es sich auch verberge, war sein Anlie-
gen. Zugleich war er bemüht, das, was er wirklich
glaubte, zu verhüllen oder in ein poetisches Bild zu
fassen.
Der Hauptimpuls geht auch diesmal von dem eben-
falls vom Neuplatonismus inspirierten Philosophen
Spinoza aus. Gott dürfe, so Goethe, nicht ins Jen-
seits und Abseits verbannt werden, er gehöre ins
Diesseits. Zudem ist Gott für Goethe kein Klein-
geist,  sondern  der  Weltgeist,  der  alle  Grenzen
sprengt, er ist das Ein und Alles des Menschen, eine
Kraft, die ihn vorantreibt. Goethe sieht, wie schon
mehrfach angedeutet, mithin Gott nur in der Welt.
Ein höchstes Wesen anzunehmen,
vom Göttlichen, auch von Gott zu
sprechen und auf eine sinnvolle
Ordnung des Ganzen, des Sicht-
baren und Unsichtbaren zu ver-
trauen,  war  Goethe  lieb  und
geläufig. Dazu bedurfte er nicht
des  christlichen Auferstehungs-
glaubens  und  der  kirchlichen
Riten, die ihn zeitweilig faszinierten und dann wie-
der abstießen. Für ihn blieb entscheidend, was aus
der Kraft eines Glaubens, die er respektieren, ja be-
wundern konnte, an Lebensförderlichem resultierte.
Nicht Tod und Auferstehung Jesu waren daher für
ihn lebensentscheidende Fakten, sondern nach auf-
klärerischer Tradition Jesu Leben als Vorbild eines
einmaligen  Menschen,  vor  dem  Ehrfurcht  ange-
bracht sei.
Diese verstand Goethe in dreifacher Weise: Ehr-
furcht gegenüber dem, was über uns, neben uns und
unter uns ist. So repräsentiert diese auch die drei
wirklich  »echten« Religionen: die ethnische, die
philosophische und die christliche  Religion. Die
erste ist die des Alten Testaments, die zweite die der
klassischen  Weisheit,  zu  der  nicht  nur  die  grie-
chische Philosophie, sondern auffälligerweise bei
Goethe auch Christus gehörte. Die höchste Stufe
aber sei die dritte, die christliche Religion, ein Letz-
tes,  wozu  die  Menschheit  gelangen  konnte  und
musste. Es ist  die  Nächstenliebe und die Agape,
auch das Mitleid, das Hybris und Größenwahn des
Menschen ausschließt, die aber auch Niedrigkeit
und Armut, Spott  und Verachtung,  Schmach  und
Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen
vermag. Selbst Sünde und Verbrechen vermögen
Fördernisse des Heiligen zu werden.
Bei aller Anerkennung der sittlichen und sozialen
Aufgaben  der Kirche  wendet sich  Goethe schon
früh einem, zur allgemeinen Humanität verklärten
unkirchlichen Christentum zu.
Goethe hat sich in seinen Dichtungen hin und wie-
der des Kreuzes bedient und dabei auf Schwach-
stellen  und  Angriffspunkte  im  Christentum
aufmerksam gemacht. Mir willst Du zum Gotte ma-
chen, solch ein Jammerbild am Holze! fragt er in
den Venezianischen  Epigrammen und  im Divan.
Mit dem Fundament des Christentums, der Theolo-
gie des Gottessohns und  Erlösers, dem Märchen
von Christus, konnte er sich nie befreunden und
noch weniger mit dem leidigen Marterholz. Laut
Goethe  war  dies das  Widerwärtigste  unter  der
Sonne, das kein vernünftiger Mensch auszugraben
und aufzupflanzen bemüht sein sollte. – Es werden
wohl noch zehntausend Jahre ins Land gehen, und
das Märchen vom Jesus Christus wird immer noch
dafür sorgen, daß keiner so richtig zu Verstande
kommt.
Die Apotheose des Leidens am Martergerüst, über-
haupt die christliche Verdrossenheit, die die Welt
zum von der Erbsünde kontaminierten Jammertal
entwertet,  stieß ihn  ab, um  so mehr  lobte  er am
125
Islam  eine  lebensfrohe  Diesseitigkeit,  die  selbst
noch die Jenseitsvorstellungen bestimmt.
Goethe hatte überdies zu Leid und Tod ein ambiva-
lentes, ja gestörtes Verhältnis. So erklären sich wohl
auch die Emotionen, mit denen er das Kreuz Christi
gelegentlich attackierte. Ihn störte
vor allem die Darstellung der Ma-
terinstrumente bei der Kreuzigung
und die des Todes Jesu. Er wollte
nicht den Gekreuzigten, er wollte
den  Auferstandenen  dargestellt
wissen.
Goethe stand schon früh der Theo-
logie und Kirche wesentlich frem-
der gegenüber als der christlichen
Religion  überhaupt.  Daran  hatte
seine einstige zeitweilige Hinwen-
dung  zur  christlichen  Religion
unter dem Einfluße Langers auch
nichts geändert. So schrieb er an
Langer: Für eine Seele, wie meine,
war es alten Priestern der Welt un-
möglich, sie zu rühren, besonders
bei dem unevangelischen Gewä-
sche unserer Kanzeln.
Er war überaus empfindlich gegenüber aller Heu-
chelei. Zwischen wesentlichem Kern und äußerer
Schale unterschied Goethe auch beim Christentum,
wo er gar viel Dummes in den Satzungen der Kir-
che« fand. »Aber sie will herrschen, und da muß sie
eine bornierte Masse haben, die sich duckt und ge-
neigt ist, sich beherrschen zu lassen. Die hohe reich
dotierte Geistlichkeit fürchtet nichts mehr als die
Aufklärung der unteren Massen. Sie hat ihnen auch
die Bibel lange genug vorenthalten.
Auch wenn Goethe mit der christlichen Staatskirche
nichts im Sinn und seine geistige Arbeit nie der Kir-
che gegolten hatte, so blieb er doch sein Leben lang
Mitglied der Kirche. Offiziell hat
er  mit  dem  institutionalisierten
Christentum nie gebrochen. Er ließ
seinen Sohn August und die ande-
ren, früh verstorbenen Kinder tau-
fen,  ließ  August  1802  durch
Herder konfirmieren und wohnte
selbst der Konfirmandenlehre bei.
1806  heiratete  er  kirchlich  und
hatte zehn Jahre später gegen ein
christliches Begräbnis von Chris-
tiane nichts einzuwenden.
Lassen  Sie  uns  vom  Menschen
würdig  denken,  mahnte  er 1799.
Seine  Anthropologie  erschöpfte
sich nicht darin, den Menschen als
bloßes  Vernunftwesen  zu  sehen.
Die Göttlichkeit des Menschen be-
stand für ihn in seiner Humanität.
Man  könne  zu einer eigenen  Religion  gelangen,
wenn man sein Leben nach dem Guten ausrichte,
war sein Credo.
Der Göttlichkeit des Alls entspricht, laut Goethe,
ein inneres Universum, und da auch im Menschen
Göttliches wirkt, ist es sinnvoll, daß die Völker dem
Besten dieses Universums den Namen Gott verlei-
hen. Ein Pluralismus der Toleranz zeichnet sich ab,
wo jeder das verehren und göttlich nennen darf, was
ihm wertvoll erscheint. Gott aber ist an das ethische
Verhalten  des  Menschen  gebunden,  andernfalls
wäre Gott in der Natur allein und könnte als solcher
gar nicht begriffen werden.
Wie Leibniz nahm auch Goethe in der überall le-
bendigen Natur unzählige selbständige Einzelwesen
an, die kraft ihrer Entelechie, zusammengebunden
als Glieder einer universellen Harmonie,  dem in
ihnen angelegten Lebensziel entgegenstreben; auch
im Mikrokosmos wirken die Gesetze, die im Ma-
krokosmos herrschen.
In seinen letzten Lebensjahrzehnten näherte er sich
den Ursprüngen des Christentums, des Judentums,
des Islam, des Parsismus und mit Einschränkungen
auch denen des Hinduismus. Erst die Summe der
Weltreligionen schufen für Goethe die moderne ak-
zeptable Metaphysik des Glaubens.
Gottes ist der Orient! / Gottes ist der Okzident! /
Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden sei-
ner Hände.
Als Goethe 1814 mit seinem Gedichtzyklus West-
östlicher Divan dem Orient seine Reverenz erwies,
setzte er sich dem Verdacht aus, selbst ein ›Musel-
mann‹ zu sein. Wie dem auch sei, auf jeden Fall hat
Goethe mit diesem Werk schon vor rund zweihun-
dert Jahren nichts Geringeres vorbereitet als den
Dialog mit dem Islam. Die Strategie, die er hierbei
verfolgte, beruhte auf gründlicher Beschäftigung
mit dem scheinbar Fremden. Bei Goethe endete sie
in Anerkennung, ja in der Überzeugung, daß der
Koran neben der Bibel das wichtigste religiöse Do-
kument der Menschheitsgeschichte sei. Goethe kam
126
dabei sogar zu dem Fazit: Das einzige und tiefste
Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle
übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des
Unglaubens  und  des  Glaubens.  Goethe  hat  sich
nicht nur im West-östlichen Divan mit außereuro-
päischen Religionen intensiv befaßt.
Als neue Vorbilder, sinnstiftende Figuren hat er –
neben christlichen Heiligen, neben Filippo Neri und
St. Rochus – manche mythologische und histori-
sche Gestalt und manche Sekte wieder entdeckt: Pe-
lagius, Mohammed, Faust, Ahasver, Prometheus,
Luzifer, Tantalus, Ixion und Sisyphos, Spinoza und
Machiavelli, die Arianer oder die Hypsistarier.
Denken,  Wissen,  Bildung,  Humanität  und  Men-
schenwürde vereinigen sich bei ihm zum Glauben
an eine zwar nicht ungefährdete, aber stetige Hö-
herentwicklung der Menschheit, wobei die Wande-
rung  des  Menschen  durch  die  Zeiten  in  der
Ehrfurcht vor dem kulminiert, was über uns, was
uns gleich und was unter uns ist, und im Staunen –
Zum Erstaunen bin ich da –, das zur Anerkennung
der Transzendenz herausfordert und nur mystisch
zu begreifen ist. Was Goethe bewegte, war heilige
Scheu  und  Ehrfurcht  vor  dem  Ewigen,  dem
  Geheimnis, dem Unerforschlichen, das es ruhig zu
verehren gilt.  Gegenüber  dem,  was  Geheimnis
bleibt, hilft, laut Goethe, nur Respekt und Anerken-
nung. Erst so vermag eine Philosophie der Religion
das Unendliche mit dem Endlichen zu vereinen und
dem einzelnen eine metaphysische Bedeutung zu-
rückzugeben, die es immer schon in sich trägt.
Gnostisches und magisches Denken aus Goethes
Frühzeit  kehrt  nun  in  erweiterter  Form  zurück.
Doch hierüber in angemessener Form zu reden, das
bleibe, meint Goethe, allein der Kunst, der Dich-
tung und der Poesie vorbehalten. Gedanken an Un-
sterblichkeit und möglicher  Wiedergeburt  waren
dem Dichter offensichtlich nicht ganz fremd und
unlieb.
So soll Goethe bis an sein Lebensende die Anschau-
ung von der Wiederkunft aller geteilt haben. Aller-
dings hielt er es nicht für ratsam, diese Lehre zu
verkünden,  weil  er  wohl  fürchtete,  dadurch  den
Ernst  der  sittlichen  Forderung  abzuschwächen.
Goethe sei später dieser Gefahr dadurch entgangen,
meint Barner, daß er eine Reinkarnation der Seelen
zum Zweck der Vervollkommnung annimmt.
In Goethes Weltbild fallen alle Gegensätze zur Ein-
heit zusammen: Gott und die Welt, Geist und Natur,
Idee und Materie, Individuum und Gesellschaft.
Diese  aus  Glauben  und  Schauen  entsprungene
Überzeugung, welche in allen Fällen, die wir für die
wichtigsten erkennen, anwendbar und stärkend ist,
liegt zugrunde meinem sittlichen sowohl als litera-
rischen Lebensbau, und ist als ein wohl angelegtes
und reichlich wucherndes Kapital anzusehn, ob wir
gleich in einzelnen Fällen zu fehlerhafter Anwen-
dung verleitet werden können, heißt es in Dichtung
und Wahrheit und in Faust: Wer immer strebend
sich bemüht, den können wir erlösen.
Vermächtnis
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen,
Das Ew'ge regt sich fort in allen;
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig, denn Gesetze
Bewahren die lebend'gen Schätze
Aus welchem sich das All geschmückt.
127
Als ich im Vorjahr Manfred Osten gegenüber
erwähne, wir planten ein Jahresthema mit dem
Titel Goethes Lebensthemen – und seine Suche,
nach dem, was die Welt im Innersten zusammen-
hält, schlägt er spontan vor, etwas über die natur-
wissenschaftlichen  Implikationen  im Faust  II
auszuarbeiten; diese würden häufig von vielen
gar nicht so bemerkt, dennoch gehörten sie ja zu
den eminent wichtigen Lebensthemen Goethes.
Gleich zu  Beginn  stürzt  sich  der Referent auf
eines  seiner  Lieblingsthemen,  die Beschleuni-
gungsturbulenzen,  die  jenseits  aller  tradierten
Parameter der Humanität den antiquierten Men-
schen  hinter  sich  lassen,  um  aufzubrechen  zu
einem neuen optimierten Menschentyp mit ver-
besserter Anpassungsfähigkeit an die immer ra-
santeren Anforderungen der Globalisierung.
In Gestalt sehr ernster Scherze, Goethes Defini-
tion der  Ironie, wagt Goethe –  so  Osten –  im
zweiten Teil der Faust-Tragödie bereits diesen
letzten Schritt einer Liquidierung des unzurei-
chenden Menschen als antiquiertes Fehler- und
Mängelwesen. Durch gentechnologischen Ein-
griff in den Genotyp des Menschen züchtet hier
der zum Molekularbiologen avancierte Famulus
Wagner mit Mephistos Hilfe einen neuen Phäno-
typ  mit  Namen  Homunculus.  Wagner  gelingt
hierbei vor allem die Optimierung des menschli-
chen Gehirns. Denn sein Homunculus ist aus-
drücklich konzipiert als ein Hirn, das trefflich
denken soll.
Homunculus also als ein dem globalen Dorf be-
reits weit vorauseilendes Geschöpf postmoderner
Züchtungsutopien, die Goethes Imagination ab-
geleitet hatte aus wissenschaftlichen Forschungs-
ergebnissen  seiner  Zeit.  Die  Rede  ist von  der
1828 erstmalig gelungenen Umwandlung anorga-
nischer in organische Materie. Und zwar in Ge-
stalt der Wöhlerschen Harnstoffsynthese und der
hieraus für Goethe resultierenden Neukonzeption
der Homunculus-Szene im 2. Akt des zweiten
Teils der Faust-Tragödie.
Friedrich Wöhler hatte nämlich an der Berliner
Gewerbeschule mit Hilfe cyansauren Ammoni-
ums eine kristallisierte Substanz gewonnen, die
sich als identisch mit tierischem Harnstoff erwies.
Seinem Lehrer Johann Jakob Berzelius in Stock-
holm berichtete Wöhler als stolzer Famulus über
sein biochemisches Experiment mit  dem Hin-
weis, daß er nunmehr Harnstoff machen kann,
ohne dazu Nieren (...) nötig zu haben. Eine Nach-
richt, deren lebenswissenschaftliche Tragweite
für  Goethe  offenbar  eine  ähnliche  Bedeutung
hatte, wie für die Nachgeborenen heute die Nach-
richt von der Entschlüsselung des menschlichen
Genoms.
Heute wie damals verschränkte sich der Blick auf
das soeben aufgeschlagene neue Blatt im Buch
des Lebens mit vorauseilenden Blicken der Phan-
tasie auf eine plötzlich als möglich erscheinende
– wie auch immer geartete – künstliche Generie-
rung des Menschen. Das heißt, Goethe ahnte, daß
der Mensch möglicherweise einst in die Lage ver-
setzt sein könnte, die Gesetze der Evolution so
vollständig zu verändern, daß seine Art auf dem
Spiel stehen könnte.
Goethe ist im Falle des Homunculus allerdings
nicht stehen geblieben beim Resultat gentechni-
scher  Intervention.  Im  weiteren  Verlauf  der
Faust-Tragödie gelingt Homunculus  mit  Hilfe
des Vorsokratikers Thales ein unerwartet kühner
Schritt: Er überwindet seine künstliche Existenz,
die den ungeduldigen Tendenzen seiner naturwis-
senschaftlichen Erzeuger geschuldet ist. Denn in
der Schlußszene des zweiten Aktes, in den Ägäi-
schen Meeresbuchten, entzieht sich Homunculus
bewußt jedem menschlichen Zugriff. Statt dessen
unterwirft er sich hier einem radikalen Entschleu-
nigungsprozeß durch Rückgriff auf die Evolution.
Dr. Manfred Osten (Bonn)
Ein Hirn, das trefflich denken soll...
Goethe und die Verheißungen der
Lebenswissenschaften im 21. Jahrhundert
128
Seine vom Proteus-Delphin ins Meer hinausge-
tragene Phiole zerschellt am Muschelthron der
Galatee und löst sich als Meeresleuchten im Was-
ser auf.
Und Homunculus folgt dem Rate des Thales: Da
regst du dich nach ewigen Normen, / Durch tau-
send, abertausend Formen, / Und bis zum Men-
schen hast du Zeit.
Den Allmachtsphantasien der Ungeduld verord-
net Goethe also ironisch ein evolutionshistori-
sches Moratorium von immerhin rund dreieinhalb
Milliarden Jahren: Homunculus muß phylogene-
tisch nachsitzen.
Der  für  Homunculus  verordnete  Entschleuni-
gungsprozeß läßt vermuten, daß Goethe selber
Ausschau gehalten hat nach Möglichkeiten einer
Entschleunigung als Therapie gegenüber den sich
ankündigenden globalen Mobilmachungstenden-
zen. Schon Goethe wußte: Die faustische Unge-
duld ist das größte Unheil der Moderne.
Weimar, 23. Oktober 1828: Eckermann ist zu Be-
such bei Goethe. Er versucht einen Blick in die
Zukunft: Die Entwicklung der Menschheit ist auf
Jahrtausende angelegt. Goethe unterbricht ihn
mit einer mürrischen Prognose: Ich sehe die Zeit
kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr [der
Menschheit] hat, und er abermals alles zusam-
menschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung.
Ich bin gewiß, es ist alles darauf angelegt, und es
steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde
fest, wann diese Verjüngungs-Epoche eintritt.
Ein Jahr später, im Dezember 1829, ist sie bereits
eingetreten,  diese Verjüngungsepoche der
Menschheit. Allerdings zunächst nur virtuell, als
literarische Antizipation einer Zukunft des bereits
künstlich optimierten Menschen. Denn Goethe
liest Eckermann jetzt nach Tisch die Homuncu-
lus-Szene  im  zweiten Akt  der Faust-Tragödie
(zweiter Teil) vor, um ihm dann wenige Tage spä-
ter die Erklärung für diese literarische Verjün-
gungsepoche der  Menschheit  nachzuliefern:
Homunculus sei ein Wesen, das durch eine voll-
kommene Menschwerdung noch nicht verdüstert
und beschränkt sei.
Da ist es also heraus. Dem jetzt zum Molekular-
biologen und Gentechniker des 21. Jahrhunderts
avancierten Faust-Schüler Wagner ist es im zwei-
ten Akt  des  zweiten  Teils  der Faust-Tragödie
gelungen,  einen  verbesserten Menschentyp  zu
züchten. Er hat nämlich erreicht, was er wollte:
ein Hirn, das trefflich denken soll.
129
Die Optimierung also jener menschlichen
Ratio, von der es im ersten Teil der Tragödie
noch  hieß: er  nennt's  Vernunft  und
brauchts's allein/ Viel tierischer als jedes
Tier zu sein.
Auch die eigentliche Quelle dieses Defekts
der Ratio hat Goethe nicht verheimlicht. Es
ist die faustische Ungeduld. Denn Faust ist
der Protagonist des modernsten Fluchs aller
Flüche: Fluch vor allem der Geduld. Eine
Ungeduld, die denn auch prompt von Me-
phisto  mit  allen  modernen  Beschleuni-
gungsinstrumenten bedient wird: Mit dem
schnellen Mantel, dem schnellen Degen, der
schnellen Liebe, dem schnellen Geld.
Die Entfesselung dieser faustischen Unge-
duld in Richtung der Mobilmachungskultur
der Moderne hat Goethe als das größte Un-
heil unserer Zeit bezeichnet, die nichts reif
werden läßt. Und dieses größte Unheil un-
serer Zeit war für Goethe das Veloziferische.
Eine geniale Wortschöpfung, die eigentliche
Formel der Moderne, in der sich die Eile
(velocitas)  verschränkt  mit  Lucifer,  dem
Teufel.
Es ist diese Tendenz zur Eile, zur Überei-
lung, die Goethe denn auch als den eigentli-
chen  Defekt  der  menschlichen  Ratio
skizziert mit den Worten: Theorien sind ge-
wöhnlich Übereilungen des ungeduldigen
Verstandes, der die Phänomene gerne los
werden möchte.
Die Hirnforschung macht zwar für die Theo-
rieneigung der Ratio nicht ausdrücklich die
Ungeduld verantwortlich. Sie betrachtet den
Grund für die Vernachlässigung der Phäno-
mene durch die Ratio vielmehr neutral als
einen Prozeß der Selektion bei der Wahrneh-
mung  der  Wirklichkeit.  Diesen  Vorgang
beschreibt der Neurowissenschaftler Wolf
Singer wie folgt: Unsere Sinnesorgane wäh-
len aus dem breiten Spektrum der im Prinzip
bemerkbaren Signale aus der Umwelt nur ei-
nige ganz wenige aus, (...) und unsere Pri-
märwahrnehmung läßt uns glauben, dies sei
alles, was da ist. Wir (...) ergänzen die Lücken
durch Konstruktionen.
Eine Konstruktions- und Theorieneigung,
die begünstigt wird durch die neurowissen-
schaftliche Erkenntnis, daß die evolutions-
historisch jungen Hirnareale offenbar nicht
mehr direkt an die Sinnesorgane gekoppelt
sind. Die in ihren Funktionen stark dezentral
organisierten Hirnrindenareale greifen statt-
dessen auf Informationen zurück, die  bereits
als  gleichsam abstrakte Teilergebnisse in
einzelnen Arealen der Hirnrinde zur Verfü-
gung stehen.
Auch Nietzsche hatte bereits Zweifel an den
kognitiven  Fähigkeiten  des  Menschen.
Seine Vermutung lautet: Die Gewohnheiten
unserer Sinne haben uns Lug und Trug der
Empfindung  eingesponnen:  Diese  wieder
sind die Grundlagen aller unserer Urteile
und ›Erkenntnisse‹ – es gibt durchaus kein
Homunculus-Szene in der Faust-Inszenierung Peter Steins, 2000
130
Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in
die wirkliche Welt!
Weit gefehlt! Goethes Homunculus mit seinem
optimierten Gehirn, das trefflich denken kann, hat
sie längst gefunden, diese Schlupf- und Schleich-
wege in die wirkliche Welt. Er ist bereits klüger
als sein naturwissenschaftlicher Produzent Wag-
ner und klüger auch als Mephisto, der dem unge-
duldigen Wagner auf veloziferische Weise bei der
Generierung des Homunculus assistiert hat. Denn
Homunculus ist es, der bereits (à la Freud) bis in
die Traumareale des (bewußtlos auf der Couch)
liegenden Faust vordringt.
Immerhin hatte sich Goethe bereits mit den frü-
hen  Ansätzen  der  Hirnforschung  intensiv  be-
schäftigt. Die von Gall entwickelte Phrenologie
und Sömmerings Gehirnanatomie waren ihm ver-
traut. Warum also nicht bei nächster sich bieten-
der Gelegenheit den Versuch wagen, endlich die
zu Übereilungen in Gestalt von  Irrtum (als über-
eiltes Denken) und Gewalt (als übereiltes Han-
deln) neigende Ratio evolutionstechnologisch zu
optimieren? Etwa im Sinne der Hoffnungen der
sogenannten evolutionären Biotechnologie?
Denn die Optimierung der Basismoleküle des Le-
bens ist inzwischen keine Science-fiction mehr,
sondern Realität. Goethe hat denn auch nicht ge-
zögert, auf seine Weise die Optimierung des Ge-
hirns  zu  inszenieren.  Ihm  bot  sich  unerwartet
hierzu die Gelegenheit in Gestalt wissenschaftli-
cher Forschungsergebnisse seiner Zeit.
Manfred Osten
Mephistopheles Was gibt es denn? –
Wagner Es wird ein Mensch gemacht.
Mephistopheles Ein Mensch? Und welch verliebtes Paar-
Habt ihr ins Rauchloch eingeschlossen?
Wagner Behüte Gott! wie sonst das Zeugen Mode war, Er-
klären wir für eitel Possen.
Der zarte Punkt, aus dem das Leben sprang,
Die holde Kraft, die aus dem Innern drang
Und nahm und gab, bestimmt sich selbst zu zeichnen,
Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen,
Die ist von ihrer Würde nun entsetzt;
Wenn sich das Tier noch weiter dran ergetzt,
So muß der Mensch mit seinen großen Gaben
Doch künftig höhern, höhern Ursprung haben.
Es leuchtet! seht! – Nun läßt sich wirklich hoffen,
Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen
Durch Mischung – denn auf Mischung kommt es an –
Den Menschenstoff gemächlich komponieren,
In einen Kolben verlutieren
Und ihn gehörig kohobieren,
So ist das Werk im stillen abgetan.
Es wird! die Masse regt sich klarer!
Die Überzeugung wahrer, wahrer:
Was man an der Natur Geheimnisvolles pries,
Das wagen wir verständig zu probieren,
Und was sie sonst organisieren ließ,
Das lassen wir kristallisieren.
Mephistopheles Wer lange lebt, hat viel erfahren,
Nichts Neues kann für ihn auf dieser Welt geschehn.
Ich habe schon in meinen Wanderjahren
Kristallisiertes Menschenvolk gesehn.
Wagner Es steigt, es blitzt, es häuft sich an,
Im Augenblick ist es getan.
Ein großer Vorsatz scheint im Anfang toll;
Doch wollen wir des Zufalls künftig lachen,
Und so ein Hirn, das trefflich denken soll,
Wird künftig auch ein Denker machen.
131
Einer Einzígen angehören,
Einen einzigen verehren,
wie vereint es Herz und Sinn,
Lida, Glück der nächsten Nähe,
William, Stern der schönsten Höhe,
euch verdank ich was ich bin,
Tag und Jahre sind verschwunden,
und doch ruht auf jenen Stunden,
meines Wertes Vollgewinn.
Gegen Ende seines Lebens beschäftigt Goethe immer
stärker das Problem von Originalität und Überliefe-
rung bezüglich der Entwicklung menschlicher Cha-
raktere: Wie bin ich geworden was ich bin? Was hat
mich geformt? Welche Menschen waren in meinem
Lebens- und Wirkungskreis wichtig?
Was ist original von mir, was habe ich durch eigene
Kraft zur Entwicklung meiner Persönlichkeit bei-
getragen? Mit Goethes Worten: Was ist an dem gan-
zen Wicht original zu nennen?
In dem kleinen Gedicht statuiert Goethe gewisser-
maßen das Problem an sich selbst. Es ist genau ge-
nommen die Frage nach Erblichkeit und Umwelt,
nach  ihrer  Wirkung,  nach  Prioritäten  und  ihrer
Wechselwirkung aufeinander. Diese Frage ist bis
heute nicht endgültig beantwortet. Sind die Gene als
Bausteine für die Entwicklung und Strukturen indi-
vidueller menschlicher Entwicklung von vorherr-
schender Bedeutung? Sind diese Anlagen im Men-
schen ererbt von vorangegangenen Generationen,
von deren Tun und Lassen, ererbte Begabungen, Ta-
lente etc., die sich in uns manifestiert haben?
Bei der Formulierung des Themas haben wir zu-
nächst geschwankt zwischen den Begriffen Vorbild
und Lehrmeister, beinhaltet doch letzterer deutlich
mehr als Vorbild.
Der Lehrmeister hat seinem Schüler
etwas voraus, das er ihm nahebringt
oder das jener von ihm lernen will.
Das  kann  eine  handwerkliche
Fertigkeit sein  oder  Einsichten  in
komplizierte  philosophische  Zu-
sammenhänge, aber auch künstleri-
sche oder religiöse Überzeugungen.
Auf jeden Fall aber hat das, was der
Lehrmeister vermittelt, eine anhal-
tende Wirkung auf die Zielperson,
die sie prägt, weiterbringt, zu eige-
nem  Tun  veranlaßt  und  befähigt,
das  Ganze  auf  einem  möglichst
hohen Niveau.
Ein Freund setzt dagegen mehr vo-
raus: Etwa eine weitgehende Über-
einstimmung  in  der  Beurteilung
grundsätzlicher Lebensfragen, eine
starke persönliche Beziehung, gegenseitiges Einste-
hen füreinander und vor allem Zuverlässigkeit in
allen die Freunde  betreffenden Angelegenheiten.
Über den Begriff der Freundschaft hat sich Goethe
bemerkenswert häufig geäußert.
In den Maximen und Reflexionen heißt es: Freund-
schaft kann sich bloß praktisch entwickeln, prak-
tisch Dauer gewinnen. Die wahre, die tätige, die
produktive  Freundschaft  besteht  darin,  daß  die
Freunde gleichen Schritt im Leben halten, daß sie
ihre Zwecke billigen und daß sie unverrückt zusam-
men fortgehen, wie auch sonst die Differenzen ihrer
Denk- und Lebensweise sein mögen.
Unter Weggefährten wollen wir Ver-
bindungen zwischen Menschen be-
schreiben,  die  eine  kürzere  oder
längere Wegstrecke des Lebens mit-
einander zurücklegen. Diese Verbin-
dung  kann  für  die  tägliche Arbeit
oder die alltäglichen Lebensabläufe
durchaus  sehr  bedeutsam  sein.
Freundschaftliche  Gefühle  oder
Lehrer-Schüler-Verhältnisse jedoch
fehlen.
Hier soll nun der Versuch unternom-
men  werden,  die  Einflüsse  von
Goethes Umwelt, die seiner Lehr-
meister, Weggefährten und Freunde
auf seine persönliche Entwicklung
in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei
stehen  naturgemäß  Menschen  im
Fokus  unserer  Aufmerksamkeit,
denen Goethe persönlich begegnete und die deutli-
chen  Einfluß  auf  sein  Denken  und  Tun  nehmen
konnten.
Hans-Hellmut Allers
2009
Goethes Freunde, Weggefährten
und Lehrmeister
Hans-Hellmut Allers (Berlin)
...euch verdank ich, was ich bin...
Einführungsvortrag
132
Der ewig  suchende Autor häuft  im  Laufe  seines
Lebens ein enzyklopädisches Wissen an, das sich
über alle Lebensbereiche künstlerischer Gestaltung
und naturwissenschaftlicher   Forschung erstreckt.
Deshalb ist Goethe auch um den Kontakt zu allen
bedeutenden Menschen seiner Zeit bemüht. Manche
davon  werden  jahrelange  Weggefährten,  einige
seine Lehrmeister und wenige davon seine engsten
Freunde.  Wie  haben  sie  ihn  und  sein  Schaffen
beeinflußt?
Mit  Goethe  begegnen  wir  den  Lehrern  Johann
Christoph  Gottsched,  Christian
Fürchtegott  Gellert  und  Adam
Friedrich  Oeser,  dem  frühen
Mentor   Johann  Gottfried
Herder,  den  Jugendfreunden
Johann  Heinrich  Merck  und
Friedrich  Heinrich  Jacobi,
dem herzoglichen Freund und
Mäzen Carl August von Sach-
sen-Weimar, den
schriftstelleri-
schen  Weg-
gefährten  Christoph  Martin
Wieland und Friedrich Schiller,
den  Forschern Alexander  und
Wilhelm  von  Humboldt,  den
Naturwissenschaftlern  Justus
Christian  Loder,  Johann  Wolf-
gang  Döbereiner  und  Samuel
Thomas  von  Soemmering  u.a.,
schließlich dem intimen Dialog-
partner  der  letzten  Lebens-
jahrzehnte, Carl Friedrich Zel-
ter.
Das Jahr 2009 fällt formal ein
wenig heraus aus der sonsti-
gen Berichterstattung, da wir
uns  erstmalig  entschlossen,
aus den Vorträgen über Goethes
Lehrer,  Weggefährten  und
Freunde ein  über  200  Seiten
umfassendes Buch herzustellen,
das leider nach kurzer Zeit bereits vergriffen war.
Sobald uns wieder genügend Mittel für einen Druck
in begrenzter Auflage zur Verfügung stehen oder wir
einen geneigten Sponsor finden, wird es eine Neu-
auflage geben.
Einige der Vorträge sollen aber auf den nächsten
Seiten – allerdings in sehr komprimierter Form –
wiedergegeben werden, da sie doch so manches Un-
bekannte über Goethe enthalten.
Aus Platzgründen mußten wir uns im Folgenden auf
diejenigen unter seinen Zeitgenossen  beschränken,
die ihn  entweder als Lehrmeister früh  beeinflußt
haben oder auf solche Weggefährten und Freunde,
mit denen er über Jahrzehnte verbunden war.
Auf sein Verhältnis zu Carl August und Carl Fried-
rich Zelter gehen wir an anderer Stelle ausführ-
licher ein.
Dr. Ulrike Leuschner (Darmstadt)
...dieser eigene Mann, der auf mein Leben
den größten Einfluss gehabt...
Die schwierige Freundschaft zwischen
Goethe und Merck
Dr. Manfred Osten (Bonn)
...wir liebten uns, ohn uns zu verstehn...
Zur Modernität des
Goethe-Jacobi-Verhältnisses
Dr. Volker Ebersbach (Leipzig)
...lasst mich nur auf meinem Sattel gelten...
Goethes Freundschaft mit Carl-August
und mit Carl Friedrich Zelter
133
Johann Heinrich
Merck
Friedrich Heinrich
Jacobi
Carl Friedrich
Zelter
Alles, was uns begegnet, läßt Spuren zurück...
Alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei.
Wilhelms Meisters Lehrjahre
Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen
diesen Ausspruch des griechischen Komödiendich-
ters Meander stellt Goethe – nicht von ungefähr – als
Motto vor den 1. Teil seiner Autobiografie Dichtung
und Wahrheit – wobei  man das geschunden nach
heutigem Sprachverständnis vielleicht eher überset-
zen könnte in ein etwas moderneres: wer nicht bis an
seine Leistungsgrenzen herausgefordert wird,  der
wird eine wichtige Lebenslektion nicht lernen.
Heranreifungs- und Bildungsprozesse gehören für
Goethe zu den großen Themen, die ihn sein Leben
lang beschäftigt haben. Nicht zuletzt verdanken wir
ihm den ersten deutschen Bildungsroman der dama-
ligen  Zeit, Wilhelm  Meisters  Lehrjahre,  dessen
Thema die Entwicklung, das Erwachsenwerden eines
jungen Menschen ist.
Schon früh kommt er in Kontakt mit Li-
teratur.  Das  beginnt  mit  den  Gute-
nachtgeschichten der Mutter und mit
der  Bibellektüre  in  der  lutherisch-
frommen Familie. Gelesen wird viel
im Hause Goethe, denn der Vater be-
sitzt eine Bibliothek von rund 2000
Bänden. In Ermangelung von Bilderbü-
chern oder Fibeln, wie es sie heute gibt, be-
trachtet man gemeinsam mit dem Nachwuchs die
illustrierten Werke für die Großen.
In Dichtung und Wahrheit heißt es dazu: Man hatte
zu der Zeit noch keine Bibliotheken für Kinder ver-
anstaltet. Die Alten selbst hatten noch kindliche Ge-
sinnungen und fanden es bequem, ihre eigene Bil-
dung der Nachkommenschaft mitzuteilen. Außer dem
»Orbus pictus« des Amos Comenius kam uns kein
Buch dieser Art in die Hände, aber die große Folio-
bibel, mit Kupfern von Merian ward häufig von uns
durchblättert.
Als alleiniger Erbe eines ansehnlichen Vermögens ist
der Vater nicht darauf angewiesen, seinen Lebensun-
terhalt zu verdienen, hat sich daher nahezu von allen
öffentlichen Geschäften zurückgezogen, befriedigt
durch den erworbenen Titel und Rang eines kaiserli-
chen Rats.
1754 stirbt die Großmutter und der Vater führt einen
langgehegten Plan aus: das alte verwinkelte Haus am
Hirschgraben auszubauen und in ein geräumiges ba-
rockes Bürgerhaus zu verwandeln. Während der Um-
bauphase kann Johann Kaspar vorerst seine Absicht,
den Sohn selbst zu unterrichten, zu seinem Leidwe-
sen nicht ausführen. Gegen öffentliche Schulen hegt
er  ein  tief  verwurzeltes  Mißtrauen,  doch  er  be-
schließt, ihn wenigstens vorübergehend für einige
Wochen auf eine sogenannte öffentliche Elementar-
schule zu schicken.
Wie wir aus Dichtung und Wahrheit wissen, hat sich
Goethe in dieser Schule ziemlich gelangweilt, denn
auch hier unterrichtet man nach dem bereits erwähn-
ten ABC-Buch, das er längst rückwärts beten kann.
In nur drei Monaten lernt er nun Rechnen und Schön-
schreiben; bereits mit sieben Jahren besitzt er eine
feste ausgeprägte Handschrift. Ansonsten wissen wir
über diesen Schulaufenthalt nur, daß Goethe sich mit
seinen Mitschülern diverse Male  heftig geprügelt hat.
Sobald  der Umbau des Hauses abgeschlossen ist,
nimmt ihn der Vater aus der Schellbauer'schen An-
stalt. Fortführen wird er die Schreibübungen unter
dessen gestrenger Aufsicht daheim. Labores juveniles
(Jugendarbeiten) nennt Goethe später sein Übungs-
heft, in dem uns handschriftliche Schularbeiten aus
dem achten bis dreizehnten Lebensjahr erhalten sind.
Gemeinsam mit der Schwester wird er nun vom Vater
sowie von insgesamt acht Hauslehrern unterrichtet.
Seit 1756 lehrt Johann Heinrich Thym den Knaben
zunächst weiter Schönschreiben und Rechnen, später
auch  Erdkunde  und  Geschichte. Außerdem erhält
Wolfgang vier Jahre lang Unterricht in Latein und
Griechisch durch den Rektor Jacob Gottlieb Scher-
bius im Gymnasium in den Räumen des Barfüßer-
klosters.
Ferner erlernt er Französisch, Italienisch, Englisch
und Hebräisch. Die lebendigen Sprachen werden von
muttersprachlichen  Lehrern  vermittelt.  Auf  dem
Stundenplan stehen außerdem neben den naturwis-
senschaftlichen  Fächern,  Religion  und  Zeichnen.
Überdies lernt er Klavier- und Cellospielen, Reiten,
Fechten und Tanzen.
Beate Schubert (Berlin)
...glaubte ich, ungefähr so viel zu wissen
wie der Lehrer selbst...
Goethes Lehrmeister in Frankfurt und Leipzig
134
Das Jahr 1758 bringt eine Krankheit, die für fast alle
Gleichaltrigen ein Todesurteil darstellt: die Pocken.
Doch er übersteht sie und beginnt im gleichen Jahr
den Unterricht in französischer Sprache bei Made-
moiselle Gachet. Bald ist das aber gar nicht mehr not-
wendig, denn im Zuge des Siebenjährigen Krieges
wird Frankfurt durch die Franzosen besetzt.
In Goethes Elternhaus wird bekanntlich der franzö-
sische Graf Thoranc einquartiert. Nunmehr gibt man
französisches Theater in Frankfurt und Goethe erhält
durch seinen Großvater ein Freibillet. So oft es geht,
besucht er die Vorstellungen, wo er auch erste Erfah-
rungen mit der französischen Dramenliteratur macht;
nicht selten schleicht er sich in die Loge, um den
Proben beizuwohnen.
Hier nun sieht der Zehnjährige die Tragödien von
Molière  bis  Racine und  erfasst auch ohne fortge-
schrittene Sprachkenntnis ihren Sinngehalt. Für die
Entwicklung des späteren Dichters ist es von großer
Bedeutung, daß er mit den Regeln der klassischen
französischen  Bühnenkunst  bereits  vertraut  wird,
bevor er wenige Jahre später mit Shakespeare einen
zukunftsweisenden  Gegenentwurf  hierzu  kennen-
lernt.
Bezeichnend ist, daß Goethe die bisher genannten
Sprachen nicht so sehr über die Grammatik lernt,
sondern über die Literatur, das Sprechen und Sprach-
gefüge. Nach den Bekundungen zahlreicher Zeitge-
nossen kann er sich Zeit seines Lebens in all diesen
Sprachen nicht nur hervorragend und fließend ver-
ständigen, sondern er leistet auch als Übersetzer Her-
vorragendes:  Von  Lord  Byrons Manfred über
Rameaus Neffe von Diderot bis Benvenuto Cellini
sind aus seiner Feder der deutschen Sprache beinahe
unüberholbare Übertragungen zugute gekommen.
1765 beschließt der Vater, seinen nunmehr 16-jähri-
gen Sohn zum Jurastudium nach Leipzig zu schicken.
Eigentlich möchte Wolfgang viel lieber in Göttingen
die sogenannten schönen Wissenschaften, das heißt
Rhetorik und Poetik sowie klassische Altertumswis-
senschaft studieren. Doch der Vater läßt sich auf kei-
nerlei  Diskussionen  ein.
Schließlich hat er 35 Jahre
zuvor ebenfalls in Leipzig
Jura studiert. Er stattet ihn
aus  mit  einem  Empfeh-
lungsbrief,  adressiert  an
den Hofrat Böhme, der als
Professor  der  Geschichte
und des Staatsrechts einen
guten Ruf genießt.
Dieser stellt daraufhin den
Vorlesungsplan des angehenden Juristen zusammen:
Philosophie, Rechtsgeschichte, Institutionen. Mit ei-
nigem Widerstreben gibt er soweit den schönwissen-
schaftlichen Gelüsten Goethes nach, indem er auch
Gellerts Literaturgeschichte und dessen praktische
Übungen im deutschen Stil besuchen darf.
Der junge Goethe wechselt nicht nur seine Umge-
bung, er wechselt auch die Epoche. Hier blüht bereits
das Rokoko, man flirtet und flaniert, es ist die Zeit
der Roncaillen und Schäfergedichte. Wolfgang, von
der  Mutter  mit soliden Tuchanzügen ausgestattet,
versetzt seine gesamte Garderobe und verwandelt
sich zum Stutzer mit Degen und Jabot.
Quasi über Nacht adaptiert er den an der französi-
schen Adelskultur orientierten galanten Lebensstil
von Klein Paris, um von seinen Kommilitonen und
vor allem der eleganten Leipziger Damenwelt  ernst-
genommen zu werden. Es fällt ihm – wie er in Dich-
tung und Wahrheit bekennt – nicht leicht, sich auf die
Umgangsformen der großen Welt umzustellen, sein
in  der  Leipziger  Umgebung  komisch  wirkendes
Frankfurter Deutsch abzulegen und in Kleidung und
Manieren à la mode zu sein.
Die Kollegien der Rechts-
wissenschaften langweilen
ihn  schon  nach  wenigen
Besuchen. Unter der Lei-
tung des Vaters hatte Goe-
the  den  Inhalt  der
juristischen Anfangsvorle-
sungen bereits zum großen
Teil antizipiert; eine natür-
liche Folge sind daher als-
bald  Überdruß  und
Langeweile, die ihn recht schnell vor dem ganzen,
von vornherein nicht geliebten Studium zurückschre-
cken lassen.
Im zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit heißt es
hierzu: Meine Kollegia besuchte ich anfangs emsig
und treulich; die Philosophie wollte mich jedoch kei-
neswegs aufklären. In der Logik kam es mir wunder-
lich vor, daß ich diejenigen Geistesoperationen, die
ich von Jugend auf mit der größten Bequemlichkeit
verrichtete, so auseinanderzerren, vereinzelen und
gleichsam zerstören sollte, um den rechten Gebrauch
derselben einzusehen. Von dem Dinge, von der Welt,
von Gott glaubte ich ungefähr so viel zu wissen als
der Lehrer selbst, und es schien mir an mehr als einer
135
Stelle gewaltig zu hapern. (...) Mit den juristischen
Kollegien ward es bald ebenso schlimm: denn ich
wußte gerade schon soviel, als uns der Lehrer zu
überliefern für gut fand. Mein erster hartnäckiger
Fleiß im Nachschreiben wurde nach und nach ge-
lähmt, indem ich es höchst langweilig fand, dasjenige
nochmals aufzuzeichnen, was ich bei meinem Vater,
teils fragend, teils antwortend, oft genug wiederholt
hatte, um es für immer im Gedächtnis zu behalten.
Mehr verspricht er sich zunächst von den
Vorlesungen des Philosophen und Lite-
raturwissenschaftlers  Johann  Chris-
toph  Gottsched.  In  dessen  ein
Jahrzehnt zuvor erschienenem litera-
turtheoretischen Hauptwerk, der Cri-
tischen  Dichtkunst propagiert
Gottsched eine rationalistische Dich-
tungsauffassung; gemäß dieser hat die
Poesie Regeln zu folgen, die sich mit den
Mitteln der Vernunft begründen lassen.
Als nun Goethe nach Leipzig kommt, ist des Profes-
sors Ruhm allerdings bereits verblasst, und der junge
Student von ihm enttäuscht. Mit sehr viel mehr Inte-
resse besucht Goethe daraufhin die Poetik-Vorlesun-
gen  von  Christian  Fürchtegott  Gellert,  dem
empfindsamen Widerpart des rationalistisch verknö-
cherten Gottsched. Gellert ist einer der damals be-
kanntesten und meist gelesensten deutschen Dichter
und gilt als Vertreter und Philosoph der Aufklärung.
1752 hatte man ihn in Leipzig auf einen Lehrstuhl
für Poesie berufen; Poesie als Lehrfach – so etwas
gab es vorher gar nicht. Als Dichter war er damals
insbesondere bekannt durch seine Fabeln und Erzäh-
lungen und verschiedene Schäferstücke, wie sie da-
mals beliebt waren,
Goethe schreibt jedenfalls im 6. Buch von Dichtung
und Wahrheit: Die Verehrung und Liebe, welche Gel-
lert vor allem von allen jungen Leuten genoß, war
außerordentlich. (...) Nicht groß von Gestalt, zierlich,
aber nicht hager, sanfte, eher traurige Augen, eine
sehr schöne Stirn, eine nicht übertriebene Habichts-
nase, ein feiner Mund, ein gefälliges Oval des Ge-
sichts:  alles  machte  seine  Gegenwart
angenehm und wünschenswert.
Von Gellerts Vorlesungen erhofft
er sich Aufklärung über den Zau-
ber der Poesie, sucht er doch das
Geheimnis  zu  ergründen,  wo-
durch die  Kunstfertigkeit  der
Rede  ein  Gefäß  des  Schönsten
wird, was der menschliche Geist
erzeugt. Doch auch Gellert beginnt
sich langsam zu überleben.
In seinem poetischen Praktikum läßt  Gellert gar an
Goethes  eigenen  poetischen  Versuchen  kaum  ein
gutes Haar; insbesondere seine Prosa findet vor Gel-
lerts Augen wenig Gnade; er, der dem 17-jährigen zu
dieser Zeit ja noch als absolute Autorität im Bereich
der Dichtkunst gilt, sieht Goethes dichterische Ent-
würfe genau durch, versieht fast jede Zeile mit recht
philisterhaften Randbemerkungen und korrigiert mit
roter Tinte. Leider sind diese Blätter im Laufe der
Jahre aus Goethes Papieren verschwunden.
Über das traurige Schicksal seiner anderen frühen
Manuskripte  berichtet  Goethe: Nach  manchem
Kampfe warf ich eine so große Verachtung auf meine
begonnenen und geendigten Arbeiten, daß ich eines
Tags Poesie und Prosa, Pläne, Skizzen und Entwürfe
sämtlich zugleich auf dem Küchenherd verbrannte,
und durch den das ganze Haus erfüllenden Rauch-
qualm unsre gute alte Wirtin in nicht geringe Furcht
und Angst versetzte. Dies ist sein erstes Autodafé ei-
gener Werk- und Briefentwürfe, dem im Laufe seines
Lebens noch weitere folgen werden.
Höheren Erkenntnisgewinn über die Regeln der Poe-
tik und das Geheimnis der Sprache verspricht er sich
ferner von den Vorlesungen des Philologen Johann
August  Ernesti,  betitelt: Aufschlüsse  über  die
Grundsätze der schönen Rede. Dieser eher tro-
ckene Professor für alte Literatur, dessen Rhetorik
jedoch allenthalben gerühmt wird, vermag zwar
den übersprudelnden Geist Lessings durch  den
Ernst  seines  wissenschaftlichen Verfahrens  elo-
quent darzustellen, doch er sieht seine Aufgabe vor
allem darin, seinen Studenten beizubringen, wie
man Texte analysiert und Lyrik auf ihre Aussage hin
zergliedert – ästhetische Erörterungen sind seine
Sache weniger.
Dies systematische Befassen mit der Lehre vom Ver-
stehen, Deuten und Auslegen von Kunstwerken, be-
sonders  von  literarischen  Texten,  aber  auch  der
mündlichen Rede wird Goethes späteres Schaffen
entscheidend prägen.
Bekanntlich besitzt er ein angeborenen Talent, um-
gehend alles, was ihm an Neuem, Unbekanntem be-
gegnet,  intuitiv  zu  erfassen  und  sogleich  in
anschauliche Bilder und Begriffe umsetzen zu kön-
nen. Durch das, was er in Ernestis Vorlesungen lernt,
136
Johann Christoph
Gottsched
Christian Fürchtegott
Gellert
wird ihm nun das analytische Rüstzeug mitgegeben,
seine Gedanken zu allem und jedem so verständlich
und konzise zu formulieren, daß sie ein jeder verste-
hen kann; sich zu beschränken auf das Wesentliche,
eine Kunst, die nur wenige beherrschen.
Dies  wird  ihm  später  zugutekommen  als  Berater
eines herzoglichen Regenten, als Minister und Leiter
öffentlicher Institutionen wie dem Weimarer Theater
oder den universitären Einrichtungen in Jena. Jahre
seines Lebens wird er, neben dem Dichten, notabene
damit verbringen, Sachverhalte aller Art zu beurtei-
len, Schriftsätze zu korrigieren und wissenschaftliche
Thesen zu formulieren oder (man denke an Newton),
sie zu widerlegen. Als Dichter besitzt er ohnehin ein
ihm ebenfalls offenbar angeborenes traumwandle-
risch sicheres Gespür für Aufbau, Dramaturgie, für
angemessenes Versmaß und den Einsatz von Pointen
und Spannung.
Ostern 1766 lernt er nun beim Mittagessen den jun-
gen Pädagogen Behrisch kennen, der als Hofmeister
im gräflichen Lindenau'schen Hof tätig ist. Bald ent-
wickelt sich eine sehr enge Freundschaftsbeziehung
zu  dem  elf  Jahre  Älteren  und  Behrisch  wird  sein
konstruktiver Kritiker und Ur-Freund, bei dem er
immer wieder Rat sucht in Liebesdingen, denn auch
die wollen bekanntlich gelernt sein. Beim Mittags-
tisch im Weinhaus Schönkopf verliebt sich Goethe in
die Tochter des Hauses, Anna Katharina, doch davon
soll jetzt hier nicht die Rede sein.
Mehr und mehr drängt es Goethe ab dem Sommer
1767 aus dem Hörsaal heraus. Eine der wichtigsten
Leipziger  Begegnungen  ist  diejenige  mit  Adam
Friedrich Oeser, dem Maler und Leiter der Malerey-
und Architectur-Academie, bei dem er nicht nur sei-
nen Frankfurter Zeichenunterricht fortsetzt.
Das 8. Buch von Dichtung und Wahrheit beginnt:
Ein anderer Mann, obgleich in jedem Betracht von
Behrisch  unendlich  verschieden,  konnte  doch  in
einem gewissen Sinn mit ihm verglichen werden: Ich
meine Oeser, welcher auch unter diejenigen Men-
schen gehörte, die ihr Leben in einer bequemen Ge-
schäftigkeit  hinträumen.  Seine  Freunde  selbst
bekannten im stillen, daß er, bei einem sehr schönen
Naturell, seine jungen Jahre nicht in genügsamer
Tätigkeit verwendet, deswegen er auch nie dahin
gelangt sei, die Kunst mit vollkommener Technik
auszuüben. Doch (...) es fehlte ihm die vielen Jahre,
die ich ihn kannte, niemals an Erfindung noch Ar-
beitsamkeit«. Nach Goethes Worten ist Oeser ein
Feind des Schnörkel- und Muschelwesens und des
ganzen barocken Geschmacks.
Dafür macht er ihn mit den Schriften seines Schü-
lers und Freundes Johann Joachim Winckelmann
bekannt. Oeser ist also, wenn schon nicht als Urhe-
ber, so doch als Impulsgeber des klassizistischen
Gedankens in Deutschland anzusehen, der die edle
Einfalt, stille Größe als das in der klassischen An-
tike sich manifestierende Ideal der Kunst als erster
erkannt hat und in eigener Reflexion weiterentwi-
ckelt.
Hier kommt Goethe zum ersten Mal mit einer an
der Antike orientierten klassizistischen Kunsttheorie
in Berührung, die seine Vorstellungen von Ästhetik
entscheidend prägen wird .Was allerdings die eige-
nen praktischen Erfahrungen im Zeichnen, Kupfer-
stechen  und  Radieren  angeht,  so  verhehlt  sich
  Goethe nicht, daß seine Fortschritte auf diesem Ge-
biet recht bescheiden sind.
Die beiden Jahre 1766 bis 1768, in
denen  Goethe  Oesers  Zeichen-
schüler  ist,  werden  seine  ge-
samte Kunstanschauung bis zu
den  Eindrücken  des  direkten
Erlebens antiker Kunst auf der
Italienischen  Reise 1786  bis
1788  prägen..  Bis  zu   Oesers
Tod,  der  1799  infolge  eines
Schlaganfalls eintrat, hält Goethe
seinem Lehrer sowohl mensch-
lich als auch in Ansehen seiner
Verdienste als Impulsgeber, die Treue.
Die Leipziger Jahre Goethes enden bekanntlich mit
einer schweren psychischen und gesundheitlichen
Krise. Die Liebe zu Käthchen ist in die Brüche ge-
gangen,  sie  verlobt  sich  mit  einem  gewissen  Dr.
Kanne.
Die Trennung von ihr und der fast zeitgleiche Fort-
gang des Freundes Behrisch setzen ihm ungemein zu.
Goethes damals recht ausschweifender Lebensstil be-
wirkt schließlich, daß er 1768 am Ende seiner Kräfte
ist. Sein labiler Gesundheitszustand verschlechtert
sich im Frühjahr zusehends; im Juli erleidet er einen
Blutsturz und eine Lungenaffektion.
Ende August 1768, an seinem neunzehnten Geburts-
tag  verlässt  der  durch  die  Pflege  der  Leipziger
Freunde gesundheitlich halbwegs wiederhergestellte
Goethe  Leipzig  ohne  Studienabschluss  und  kehrt
nach Frankfurt zurück.
137
Friedrich Oeser
Der von Michael  Zaremba gewählte Titel wirft
gleich die erste Frage auf: Herder ist nur fünf  Jahre
älter als Goethe; wie ist es möglich, daß er dennoch
zum väterlichen Freund und Berater Goethes wer-
den konnte?
Bekanntlich verdankt Goethe Herder zahlreiche ent-
scheidende Impulse für die Entwicklung seiner ei-
genen Dichtung und seines ästhetischen Urteils. So
weist Herder den Studenten auf seine Lieblingsau-
toren Shakespeare, Hamann und Swift hin. Aber
auch der altnordischen und altkeltischen Dichtung
im Stile Ossians sowie der Volkspoesie gilt seine
Aufmerksamkeit. Goethes Neigung zum Sammeln
wird angeregt.
Ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung erhält Herder,
der einmal von den Stimmen der Völker gesprochen
hat, von Goethe ein Dutzend tradierter Balladen aus
dem Elsaß, welche sogleich in seine Sammlung von
Volksliedern aufgenommen werden.
In einem Brief vom 21. März 1772 erinnert sich
Herder spöttisch-liebevoll an den Studenten: Goe-
the ist wirklich ein guter Mensch, nur äußerst leicht
und spatzenmäßig, worüber er meine ewigen Vor-
würfe gehabt hat. Er war der einzige, der mich in
Straßburg in meiner Gefangenschaft besuchte [im
abgedunkelten Krankenzimmer nach einer schmerz-
haften Augenoperation] und den ich gern sah, auch
glaube ich ihm, ohne Lobrednerei, einige gute Ein-
drücke gegeben zu haben, die einmal wirksam wer-
den können. Jetzt aber bin ich seit langer Zeit außer
Briefwechsel mit ihm, ob ich ihm gleich auf eine mir
zugeschickte wirklich schöne Produktion seit lan-
gem zu antworten habe.
Mit der »schönen Produktion« ist das Schauspiel
Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der
eisernen Hand gemeint, von dessen Urfassung Goe-
the in seiner Autobiographie sagt, Herder habe sie
unfreundlich und hart behandelt. Tatsächlich kriti-
siert der ostpreußische Freund die erste Fassung als
ein schieres Kaleidoskop von Szenen. Goethe strafft
und vereinfacht daraufhin das Bühnenstück; doch
der nicht nachlassende beißende Spott Herders führt
dazu, daß Goethe ihm gegenüber sein gerade in der
ersten Entstehungsphase befindliches Lieblingspro-
jekt Faust verschweigt.
Zwar  kann  Herders  abweisendes  Wesen
mit der schmerzhaften Augenbehandlung
entschuldigt werden, aber er bleibt auch
später der verletzende Kritikaster, als
den Goethe ihn in Straßburg kennen-
gelernt hat.
Im  Juli  1775  treffen  sie  erneut  in
Darmstadt  zusammen,  wo  Herder  in
einem  Brief  an  seine  Frau  Karoline
scheibt: Der  ist  überhaupt  mit  seinen
Schriften nur Komödiant, in seinem Leben wil-
der  Mensch  und  guter  Junge. An  Zimmermann
schreibt  er: Goethe  schwimmt  auf  den  goldenen
Wellen des Jahrhunderts zur Ewigkeit. Welch ein
paradiesisch Stück, seine ›Stella‹! Das Beste was er
schrieb.
Ein halbes Jahr später ist Goethe in Weimar einge-
troffen und wird innerhalb kürzester Zeit zum Inti-
mus  des  Herzogs.  Dem  seit  einigen  Jahren  als
Prinzenerzieher  in  Weimar  lebenden  Christoph
Martin Wieland schildert Goethe den von ihm be-
wunderten klaren Geist Herders; Wieland bemerkt
darauf, die Stelle des Generalsuperintendenten sei
doch vakant; gute Köpfe könne man immer brau-
chen in Weimar.
Wenig später, im Dezember 1775 teilt Goethe Her-
der, der sich in Bückeburg in ungesicherter berufli-
cher  Situation  befindet,  schriftlich  mit,  daß  der
Herzog  einen  Nachfolger  für das  geistliche Amt
suche. Herder entschließt sich, dem Ruf zu folgen
und trifft Anfang Oktober 1776 in Weimar ein. Un-
mittelbar hinter der Stadtkirche, die später den Bei-
namen Herderkirche tragen  sollte,  bezieht  er
zusammen mit seiner Familie das barocke Pfarr-
haus, in dem er bis zu seinem Tod lebt und
wirkt.
Nach dem Einzug mit seiner Familie in
Weimar mußte Herder jedoch feststel-
len, daß der Herzog und Goethe für Kir-
che  und  Schulwesen  wenig  Interesse
zeigen und für seine hartnäckig betriebe-
nen Schulreformpläne kein Geld vorhan-
den ist. Herders gesellschaftlicher Verkehr
beschränkt sich zumeist auf Regierungsange-
stellte wie Karl Ludwig von Knebel, Christian
Gottlob Voigt und Friedrich von Einsiedel.
Ein näherer Kontakt zu Goethe ergibt sich erst zu
Beginn der 1780-er Jahre, als Herder seinem Freund
– der damals morphologische Studien betrieb – aus
Dr. phil.  Michael Zaremba (Berlin)
...das bedeutenste Ereignis (...)
war die Bekanntschaft mit Herder.
Johann Gottfried Herder – Goethes Mentor
138
dem Manuskript zu den Ideen zur Philosophie der
Geschichte der Menschheit vorliest. Besonders der
erste Teil der Ideen liefert das Modell für Goethes
genetische Naturbetrachtung. In einem Brief vom
Juni 1786 bezeichnet Herder ihn denn auch als den
freiesten, gründlichsten, reinsten Geist (...) ein wah-
res exemplar humanae naturae (...), dessen Umgang
mein Trost ist u. dessen Gespräche jedesmal meine
Seele erweitern.
Doch es gibt auch grundsätzliche Differenzen: Ent-
gegen Goethes Erwartung, daß seine Entdeckung
des  Zwischenkieferknochens  als  entwicklungs-
geschichtliches Verbindungsstück von Herder be-
grüßt würde, lehnt der Theologe in den Ideen die
Theorie der Entwicklung vom Affen zum Menschen
entschieden als inhuman ab, denn nach seiner Auf-
fassung  ist  die Schöpfung  seit der  Vorzeit  abge-
schlossen.  Insbesondere  während  der  Arbeit  am
dritten Teil der Ideen empfindet Herder schmerzlich
die Abwesenheit Goethes, der Anfang September
1786 heimlich – auch für Herder überraschend – zur
Italienreise aufgebrochen ist. Auf Goethes Bitten
hin aus Rom fungiert Herder als Weimarer Vertrau-
ensmann für die erste Werkausgabe, die in Goethes
Abwesenheit erscheinen soll.
Quasi als Freundschaftsdienst redigiert Herder den
Götz, macht Verbesserungsvorschläge zur Prosodie
der Iphigenie auf Tauris und schickt die aus Italien
übersandten Manuskripte, Kupferplatten und Pro-
bebogen an den Verleger Georg Joachim Göschen.
Allerdings fällt die erste Werkausgabe der Goethe-
schen Schriften nicht zur Zufriedenheit Herders aus,
wie er in einem Brief vom 11. Juni 1787 andeutet.
Herders ausgeprägte Hypochondrie und sein mür-
risches Verhalten machen den Umgang mit ihm ins-
besondere seit den 1790-er Jahren immer schwieri-
ger.  Ständige  Schlaflosigkeit,  ein  heftiges
Rückenleiden sowie Gichtschmerzen im Bein, die
ihn hinken lassen, sorgen für einen verdrießlichen
Grundton.
Im Frühjahr 1793 nehmen Goethe und der Herzog
an der Belagerung von Mainz teil. Herder begrüßt
diese militärische Initiative, welche die französi-
schen Truppen vom Reichsgebiet vertreiben soll.
Sein Alltag besteht indes, wenig kriegerisch, aus
Aktenlektüre und amtlichem Schriftverkehr an sei-
nem schwarz gestrichenen Arbeitspult aus Kiefern-
holz in dem Haus hinter der Stadtkirche.
Im Juli 1794 fordert Schiller Herder auf, an seiner
soeben gegründeten Zeitschrift Die Horen mitzuar-
beiten; er liefert daraufhin zahlreiche Ge-
dichte  und Studien,  unter anderem die
Schriften Das  eigene  Schicksal, Das
Fest der Grazien sowie Iduna, oder
der Apfel der Verjüngung – sämtlich
Texte voll gediegener Weisheit.
Doch  die  Beziehung  zu  Schiller
bleibt  flüchtig.  Trennend  wirkt  vor
allem dessen Bekenntnis zu einem de-
zidierten Ästhetizismus sowie zu Kants
Philosophie. Bereits nach wenigen Mona-
ten kommt es zur ernsten Verstimmung  mit
Schiller über den Widerspruch Herders, der ihm sei-
nen Kantischen Glauben, wie es scheint, nicht ver-
zeihen  kann. Auch  die  beginnende  Freundschaft
Goethes mit Schiller beobachtet der Geistliche arg-
wöhnisch.
Insgesamt  ist  Herder  aufgrund  der  politischen,
literarischen und persönlichen Querelen das Leben
in Weimar gänzlich verleidet. In den späten Lebens-
jahren ist er einsamer als je zuvor. Seine Gattin Ca-
roline hält indes unbeirrt zu Johann Gottfried, als
dieser zum notorischen Hypochonder und Queru-
lanten mutiert.  Ohne sie, die ihn umsorgt, als Lek-
torin, Sekretärin und Geschäftsführerin dient und in
jeder Lage zu ihm steht. hätte sich sein Leben weit-
aus unerträglicher gestaltet.
Auch neigt er zu Boshaftigkeiten und Sticheleien
gegen Personen, die ihm nahe stehen. Diese miß-
liche  Verhaltensweise,  unter  welcher  bereits  der
junge Goethe litt, ist Ergebnis einer prekären cha-
rakterlichen Mischung aus Selbstüberhebung und
einem cholerischen Temperament, dessen Wurzeln
sicherlich  zum  Teil  in  den  nahezu  permanenten
Schmerzen seiner Tränenfistelerkrankung und
anderen Leiden liegen.
Im  November  1803  erleidet  er  einen
leichten Schlaganfall. Seitdem verläßt
Herder sein Haus nicht mehr. Trotz der
akuten  Schwächung  seines  Körpers
kann er noch einige Wochen literarisch
arbeiten:  Während  der  Aufzeichnung
eines Gedichts  entgleitet ihm für immer
die Schreibfeder.
Resümierend bleibt festzustellen: Herder konnte
durchaus Herzensgüte zeigen, er erkannte Goethes
überlegene Talente an, blieb jedoch skeptisch ge-
genüber einem Kunstverständnis, das die Moral ver-
nachlässigte, denn politisch-sittliche Reflexionen
gehörten für ihn integral zu einem Kunstwerk.
139
Als  der  junge  Goethe  seine  ersten  literarischen
Erfolge vorweisen konnte, war der 16 Jahre ältere
Wieland bereits ein etablierter Schriftsteller. Wäh-
rend  seines  Studiums  in  Leipzig  hatte  Goethe
Wielands Shakespeare-Übersetzung kennengelernt.
Er las auch die Geschichte des Agathon, den ersten
deutschen Entwicklungsroman, mit dem der mo-
derne psychologische Roman in Deutschland be-
ginnt. Der Agathon beeinflußte Goethes Wilhelm
Meister-Roman. Er kannte auch die Verserzählun-
gen Wielands, besonders von Musarion war er be-
geistert. Noch im Alter erinnerte er sich des Ortes
und der Stelle, wo er durch Oesers Vermittlung die
ersten Aushängebogen zu Gesicht bekommen hatte.
Goethe schrieb an den Verleger Philipp Erasmus
Reich: Nach  ihm [Oeser] und  Shakespearen,  ist
Wieland noch der einzige, den ich für meinen echten
Lehrer erkennen kann,  andre hatten  mir gezeigt,
daß ich fehlte, diese zeigten mir, wie ichs besser ma-
chen sollte.
1773 hatte Wieland das Libretto zu seinem Sing-
spiel Alceste verfaßt.  Es  war  das  erste  deutsche
Singspiel, nach dem Vorbild der Tragödie Alkestis
von Euripides. Die Musik stammte von dem Wei-
marer Hofkapellmeister Anton Schweitzer. Dieses
Singspiel  wurde  am  28.  Mai  1773  im Weimarer
Schloß uraufgeführt. Dazu hatte Wieland in seiner
Zeitschrift Der Teutsche Merkur die Briefe an einen
Freund über das deutsche Singspiel veröffentlicht.
Darin warf er Euripides mangelnde Klarheit und
geringe idealisierende Gestaltung des Herkules in
seiner Alkestis vor.
Der junge Goethe, auf dem Gipfel seiner Genie-
periode,  argwöhnte  hier  eine  Entweihung  des
griechischen  Vorbildes.  So  ging  er  in  sein  Ar-
beitszimmer, in den dritten Stock seines Elternhau-
ses  am  Großen  Hirschgraben  in  Frankfurt,  und
verfaßte eine Farce mit dem Titel Götter,
Helden und Wieland. Er schrieb sie an
einem  schönen  Sonntagnachmittag
bei einer Flasche guten Burgunders
in  einer  Sitzung  herunter.  Darin
attackierte  er  den  Verfasser  der
Alceste als Salonpoeten und emp-
findsamen Nörgler, weil Wieland
es gewagt hatte, den griechischen
Tragiker Euripides zu kritisieren.
Doch geschickt und souverän un-
terlief Wieland den Angriff. In seiner
Zeitschrift Der Teutsche Merkur emp-
fahl er diese kleine Schrift allen Liebha-
bern  der  pasquinischen  Manier zur
Lektüre. Sie sei ein Meisterstück von Persiflage
und  sophistischem  Witze.  Goethe,  dadurch  be-
schämt, merkte, mit wem er es zu tun hatte und be-
reute diesen Ausfall.
1773 erschien Goethes Schauspiel Götz von Berli-
chingen mit der eisernen Hand. Nach einer negati-
ven Beurteilung durch Christian Heinrich Schmid
im September 1773 folgte im Juni 1774 eine ver-
ständnisvolle und sogar lobende Besprechung durch
Wieland in seiner  Zeitschrift Der Teutsche Merkur.
Darin heißt es: Junge mutige Genien sind wie junge
mutige  Füllen;  das strotzt  von  Leben und  Kraft,
tummelt  sich  wie  unsinnig  herum,  schnaubt  und
wiehert, wälzt sich und bäumt sich, schnappt und
beißt, springt an den Leuten hinauf, schlägt vorn
und hinten aus, und will sich weder fangen noch rei-
ten lassen. Desto besser! (...) Man muß die Herren
ein wenig toben lassen; und wer etwan von unge-
fähr von ihnen gebissen oder mit dem Huf in die
Rippen geschlagen wird, tröste sich damit,
daß aus diesen nämlichen wilden Jüng-
lingen  noch  große  Männer  werden
können.
Wieland bemerkt, Götz von Ber-
lichingen sei ein Schauspiel, das
man nicht aufführen kann, bis uns
irgend  eine  wohltätige  Fee  ein
eigen[es] Theater  und  eigene
Schauspieler  dazu  herzaubert  –
immerhin  sei  es  ein  schönes
Ungeheuer. Möchten wir viele sol-
che   Ungeheuer  haben!  Der  Fort-
schritt zu wahren Meisterstücken würde
dann  sehr  leicht  sein. (...) Wollte  Gott,
Götzens Verfasser gäb’ uns ein ganzes Jahrhundert
in einer tragikomischen Farce, die im Geiste seines
Götzens geschrieben wäre. Möchte  sie doch 365
Akte haben!
In seiner Rezension hatte Wieland Goethes Genie
erkannt und vorausschauend geschrieben: Und so
wie ich mich kenne, bin ich gewiß, daß wir am Ende
noch  sehr  gute  Freunde  werden  müssen. Im
Dezember  1774  verfaßte  Goethe  einen  Versöh-
nungsbrief an Wieland.
Dr. Egon Freitag (Weimar)
Wielands Seele ist von Natur aus ein Schatz,
ein wahres Kleinod...
Zum Verhältnis von Goethe und Wieland
140
Am 27. Oktober 1775 schrieb Wieland an Johann
Kaspar Lavater: Auf Göthen warten wir hier sehn-
lich seit 8-10 Tagen von Tag zu Tag, von Stunde zu
Stunde. Am 7. November 1775, morgens fünf Uhr,
traf Goethe in Weimar ein. Drei Tage später berich-
tet Wieland: Wie ganz der Mensch beim ersten An-
blick nach meinem Herzen war! Wie verliebt ich in
ihn wurde, da ich beim Geh[eimen] Rat v. Kalb (wo
er wohnt) am nämlichen Tage an der Seite des herr-
lichen Jünglings zu Tische saß. Seit dem heutigen
Morgen ist meine Seele so voll von Göthen wie ein
Tautropfe  von  der  Morgensonne.  Der  Göttliche
Mensch wird, denk' ich länger bei uns bleiben als
werde, so wird es Seine Gegenwart würken. Eine
sehr gute Prophezeiung!
Nach der persönlichen  Bekanntschaft der beiden
Dichter  kam  es  rasch  zur Aussöhnung.  Wieland
hatte Goethe die Farce  Götter, Helden und Wieland
verziehen und war von dem jungen Genie begei-
stert. Er hatte ihn sogar mit einem Gedicht begrüßt:
An Psyche. Darin heißt es:
Auf einmal stand in unsrer Mitten
Ein Zaubrer! – Aber denke nicht,´
Er kam mit unglückschwangerm Gesicht
Auf einem Drachen angeritten!
Ein schöner Hexenmeister es war,
Mit einem schwarzen Augenpaar,
Zaubernden Augen voll Götterblicken,
Gleich mächtig, zu töten und zu entzücken.
So trat er unter uns, herrlich und hehr,
Ein echter Geisterkönig, daher;
Und niemand fragte: Wer ist denn Der?
Wir fühlten beim ersten Blick, ’s war er!
Wir fühlten’s mit allen unsern Sinnen
Durch alle unsre Adern rinnen.
So hat sich nie in Gottes Welt
Ein Menschensohn uns dargestellt.(...)]
Goethe ging bald in Wielands Haus ein und aus. Er
spielte mit seinen Kindern und fand in seiner Fami-
lie göttlich reine Stunden. An Johanna Fahlmer be-
richtet er: Wieland ist gar lieb, wir stecken immer
zusammen, und gar zu gerne bin ich unter seinen
Kindern.
Neidlos überließ Wieland dem jüngeren Dichter-
kollegen die Priorität in Weimar. Schon vier Monate
nach  dessen Ankunft  berichtete  er  am  11.  März
1776  an  Merck: Unser  Göthe  hat  sich  der  Welt
durch seine ›Stella‹ wieder herrlich geoffenbaret.
Wie triumphiert mein Herz über jeden neuen Sieg,
den er erhält, jede neue Provinz, die er erobert! Wis-
sen Sie ein ander Beispiel, daß jemals ein Dichter  
den andern so enthusiastisch geliebt hat?
Und in einem anderen Brief schreibt Wieland: Für
mich ist kein Leben mehr ohne diesen wunderbaren
Knaben, den ich als meinen eingebornen einzigen
Sohn liebe, und, wie einem echten Vater zukommt,
meine  innige Freude  daran  habe,  daß  er mir  so
schön übern Kopf wächst, und alles das ist, was ich
nicht habe werden können.
Ein andermal berichtet Wieland an Merck, daß ihn
Goethe in seinem Garten gezeichnet hat: Alles, was
halbweg Menschenaugen hat, sagt, es sehe mir un-
gemein gleich. Mir kömmts auch so vor. Noch kein
Maler von Profess[ion] hat mich nur leidlich getrof-
fen. Der Hauptumstand ist, daß es Göthe, und con
amore gemacht hat.
Im gleichen Brief verteidigt Wieland den jungen
Stümer und Dränger gegen böse Gerüchte:  Wegen
Göthen bitt’ ich Sie ewig ruhig zu sein. Ihr werdet
sehen, daß er sogar in diesem Hefen der Zeit, worin
wir leben, große Dinge tun u[nd] eine glänzende
Rolle spielen wird.
Goethe  arbeitete  an  Wielands  Zeitschrift Der
Teutsche Merkur mit und veröffentlichte dort zahl-
reiche Gedichte, z.B. Hans Sachsens poetische Sen-
dung sowie  verschiedene  Aufsätze  aus  der
Italienischen Reise. Er half ihm auch bei der Ge-
winnung von Autoren, doch im August 1778 spot-
tete Goethe über Beiträge, die
als  Fortsetzung  in  größeren
zeitlichen Abständen veröf-
fentlicht  wurden.  Da  heißt
es: In dem Sau Merkur ist’s
doch,  als  ob  man  was  in
eine  Kloake  würfe,  es  ist
recht der Vergessenheit ge-
widmet und so schnitzel-
weis genießt kein Mensch
was.«
Aber  durch  Wielands
konziliantes  Verhalten
wurden Meinungsverschieden-
141
heiten rasch beigelegt und der vertrauliche Umgang
bald wieder hergestellt. Sie duzten sich auch,was
zwischen Goethe und Schiller nicht der Fall war.
1780  erschien  Wielands Oberon.  Goethe  erhielt
diese Verserzählung, als er gerade beabsichtigte, zur
Gerichtsstube zu fahren. Er begann zu lesen und
konnte  nicht  aufhören.  Sein
Diener  trat  ein  und  meldete
den  Wagen,  doch  Goethe
hörte nicht drauf. Ihro Exzel-
lenz, die Uhr hat 10 geschla-
gen. Mag  sie  doch  11
geschlagen  haben,  ich kann
heute nicht fahren, und wenn
einer mich sprechen will, so
sagt, ich habe nicht Zeit.
Darauf entfernte er sich in ein
Nebenzimmer  und  las  den
Oberon völlig durch. Danach
erhielt  sein  Bedienter  den
Auftrag, Wieland eine runde Schachtel zu überbrin-
gen. Der Diener zieht seine weißen Handschuhe an,
tritt bei dem Dichter ein, übergibt ihm die Schachtel
und sagt mit dem freundlichsten Lächeln: Seine Ex-
zellenz läßt sich dem Herrn  Hofrat allerschönstens
empfehlen, und er schickt dem Herrn Hofrat einen
Lorbeerkranz für den ›Oberon‹.
Wieland öffnet die Schachtel, auf welcher geschrie-
ben steht: Darf nicht gedrückt werden, mit Vorsicht
zu öffnen. Er ist entzückt über den Duft der Dich-
terkrone und sagt zum Bedienten: Seiner Exzellenz
meinen besten Dank, ich werde heute noch selber
so frei sein, zu erscheinen. Wieland zeigt freudig
den Kranz seiner Gemahlin und schreibt diesen Tag
wieder an Merck einen Brief voll des Lobes über
Goethe. Dieser gelangt zu der Einschätzung: Sein
›Oberon‹ wird, so lang Poesie Poesie, Gold Gold und
Kristall Kristall bleiben wird, als ein Meisterstück
poetischer Kunst geliebt und bewundert werden.
Goethe holte sich auch gern den Rat des Älteren. So
hatte  Wieland zuerst  die  schlotternde  Prosa der
Iphigenie bemängelt, wodurch er ihm die Unvoll-
kommenheit des Werks aufzeigte.
1797 erwarb Wieland das Landgut Oßmannstedt.
Ein  Jahr  später  kaufte  sich Goethe  ebenfalls  ein
Landgut in Oberroßla bei Apolda. So wurden sie
Feldnachbarn.  Wieland  berichtet: Verwichenen
Sonntag hatte ich das Vergnügen, meinen Feldnach-
bar Goethe bei mir zu sehen und ein Halbdutzend
sehr angenehme Stunden mit ihm  zuzubringen. Er
schickte mir tags zuvor seine ›Propyläen‹ und bat
sich zugleich auf den folgenden Mittag bei mir zu
Gaste. Er war sehr heiter, und die besagten ›Propy-
läen‹ ließen es uns nicht an interessanten Stoff zum
Dialog fehlen.
In einem Brief an den Wiener Staatsmann Joseph
Friedrich  von  Retzer  erkundigt  sich  Wieland  im
Juni 1808: Haben Sie unter den Novitäten der letz-
ten Buchhändlermesse auch eine der allerwürdig-
sten,  die  neue  sehr  vermehrte,  veränderte  und
beinahe ganz umgeschaffene Ausgabe des Goethi-
schen Doktor Faust schon gesehen? Sie macht unter
dem Titel: Faust, eine Tragödie von Goethe, einen
Band der bei Cotta herauskommenden sämtlichen
Werke dieses Dichters aus; ist aber auch a parte
[zum  Teil] in  einem  kleineren  Taschenformat  zu
haben. Auch das, was wir jetzt von dieser barock-
genialischen  Tragödie,  wie  noch  keine  war,  und
keine jemals sein wird, erhalten haben, ist nur der
erste Teil derselben, und der delphische Apollo mag
wissen, wie viele Teile noch folgen sollen.
Ich bin begierig zu wissen, welche Sensation die-
ses exentrische Geniewerk zu Wien macht, und be-
sonders  wie  Ihnen  die  Walpurgisnacht  auf  dem
Blocksberge gefallen wird, worin unser Musaget mit
dem berühmten Höllen-Breughel an diabolischer
Schöpfungskraft, und mit Aristophanes an pöbelhaf-
ter Unfläterei um den Preis zu ringen scheint. Was
wird sich der neue Prometheus für lustige Kontor-
sionen geben, um uns weis zu machen: daß dieser
Faust das Nonplusultra des menschlichen Geistes,
und das Göttlichst-Menschlichste und Teuflischste
aller Dichterwerke sei?
Man  muß  gestehen,  daß  wir  in  unsern  Tagen
Dinge  erleben,  wovon  vor  25  Jahren  noch  kein
Mensch sich nur die Möglichkeit hätte träumen las-
sen.  Bei  allem  dem  befürchte  ich,  unser  Freund
Goethe hat sich selbst durch dieses Wagestück mehr
geschadet, als ihm sein ärgster Feind jemals scha-
den könnte, und sein Verleger wird der einzige sein,
der sich wohl dabei befinden wird.
142
Der vertrauliche, zwanglose und herzliche Umgang
zwischen Goethe und Wieland wird in zahlreichen
Berichten bestätigt. So hat zum Beispiel der Philo-
loge Bernhard Rudolf Abeken im August 1809 eine
Abendgesellschaft bei Professor Griesbach in Jena
miterlebt: Zum Abend waren Goethe und Knebel ge-
laden. Die Unterhaltung beim Tee war angenehm.
Goethe führte meistens das Wort. Aber beim Essen
ging erst meine Lust an. Die Wirtin gab mir den
Platz zwischen Wieland und seiner Tochter. Goethen
gerade gegenüber. Da wollt’ ich nun, Du hättest ge-
sehen und gehört, wie heiter, ja wie ausgelassen lus-
tig  Goethe  war.  Er,  Wieland  und  Knebel  sind
Freunde aus alter Zeit, auf Du und Du; so war das
Gespräch vertraulich und zwanglos.
Unter andern kam es auch auf einige Weimari-
sche Schauspielerinnen, an deren einer die jüngeren
Frauenzimmer allerlei auszusetzen hatte, besonders
in  Hinsicht  auf  das  Äußere,  die  Gestalt.  Goethe
nahm die Partie, und wußte so komisch darzutun,
wie, wenn man an dem Körper hier ein Weniges
wegnähme, dort ansetzte usw. – eine gar stattliche
Gestalt zutage  kommen würde, daß der alte Wie-
land nicht aus dem Lachen kam, wiederholt Goe-
then um Quartier bat, endlich niederkauerte, und
die  Serviette  über  den  Kopf  zog  und  gegen  den
Mund drückte, sei es, um den Erguß des Lachens zu
hemmen, sei es, um den Übrigen seine  Grimassen
zu verbergen. Wieland meinte nachher, in zwanzig
Jahren habe er Goethen nicht so gesehen.
Anschaulich schildert Goethe den Schreibprozess
seines  Freundes: Denn  daß  er  alles  mit  eigener
Hand und sehr schön schrieb, zugleich mit Freiheit
und Besonnenheit, daß er das Geschriebene immer
vor Augen hatte, sorgfältig  prüfte,
veränderte, besserte, unverdrossen
bildete  und  umbildete,  ja  nicht
müde  ward,  Werke  von  Umfang
wiederholt abzuschreiben, dieses
gab  seinen  Produktionen  das
Zarte, Zierliche, Faßliche, das Natürlichelegante,
welches nicht durch Bemühung, sondern durch hei-
tere genialische Aufmerksamkeit auf ein schon fer-
tiges Werk hervorgebracht werden kann.
Dieses unverdrossene Ausbessern der Romane und
Verserzählungen entsprach Wielands Streben nach
künstlerischer Vollendung, um den Stoff am wir-
kungsvollsten und in höchster Perfektion zum Aus-
druck zu bringen. Den Roman Agathodämon soll er
siebenmal  abgeschrieben  haben.  Goethe  bewun-
derte diese stilistische Meisterschaft, die Virtuosität
des Freundes und erklärte: Wielanden verdankt das
ganze obere Deutschland seinen Stil. Es hat viel von
ihm gelernt, und die Fähigkeit, sich gehörig auszu-
drücken, ist nicht das geringste.
Am 20. Januar 1813 starb Wieland in Weimar. Auf-
gebahrt  wurde  er im  Bertuchhaus und fünf Tage
später im Park zu Oßmannstedt beigesetzt, an der
Seite seiner Gemahlin und von Sophie Brentano.
Am 18. Februar 1813 hielt Goethe im Festsaal des
Wittumspalais  eine  Logenrede: Zu brüderlichem
Andenken Wielands. Darin sagte er: Woher kam die
große Wirkung, welche er auf die Deutschen aus-
übte? Sie war eine Folge der Tüchtigkeit und der
Offenheit seines Wesens. Mensch und Schriftsteller
hatten sich in ihm ganz durchdrungen, er dichtete
als ein Lebender und lebte dichtend.
An anderer Stelle gelangte Goethe zu der Einschät-
zung: Dieser  vorzügliche  Mann  darf  als  Reprä-
sentant  seiner  Zeit  angesehen  werden;  er  hat
außerordentlich gewirkt, indem gerade das, was ihn
anmutete, wie er sich’s zueignete und es wieder mit-
teilte, auch seinen Zeitgenossen angenehm und ge-
nießbar begegnete.
Kurz  nach  Wielands  Tod  sprach  Goethe  mit
Johannes Daniel Falk und meinte: Wielands Seele
ist von Natur ein Schatz, ein wahres Kleinod. Dazu
kommt, daß sein langes Leben diese geistig schönen
Anlagen nicht verringert, sondern vergrößert hat.
143
Die Situation, daß zwei gleichzeitig lebende große
Dichter sich freundschaftlich verbinden, kommt in
der Geschichte äußerst selten vor. Große Künstler
pflegen einander eher zu meiden, da ein Zusam-
mengehen meist unlösbare Konflikte im Gefolge
hätte. Daß es zwischen Schiller und Goethe zu einer
echten Begegnung kam,  daß  beide nicht lebens-
länglich bloße Nachbarn blieben, sondern Freunde
wurden, ein ›Paar‹, wie es ihre berühmten Doppel-
standbilder versinnbildlichen, ist etwas Singuläres.
Dafür gab es allerdings auch ganz besondere Vo-
raussetzungen. War  es  eine Vorahnung, eine Vi-
sion?  Fest  steht,  daß  Schillers  Sehnsucht  nach
einem Freund übergewöhnlichen Ausmaßes, einem
Mann antiken Formats, sich im Jahr 1794 verwirk-
lichen sollte, als der seine Zeitgenossen als Dichter
und  Mensch  weit  überragende  Goethe  an  seine
Seite trat. Schiller jedenfalls empfand es so, daß das
Glück ihm durch Goethes Freundschaft seine über
Jahrtausende  zurückschweifende  Sehnsucht  er-
füllte.
Das bekundet ein an Goethe gerichteter Brief: Mein
geliebter, mein verehrter Freund. Wie rührt es mich,
wenn ich denke, was wir sonst nur in der weiten
Ferne  eines  begünstigten  Altertums  suchen  und
kaum  finden,  mir  in  Ihnen  so  nahe  ist. Damit
erfüllte das Schicksal Schiller nach langem vergeb-
lichem Hoffen den Traum eines Freundschaftsbun-
des, den er als das wohlthätigste Ereigniß seines
ganzen Lebens empfand.
Trifft es auf Schiller zu, daß ihn die Art seiner mi-
litärischen, von weiblichem Umgang völlig entfern-
ten, Erziehung auf der Hohen Karlsschule früh zum
Kult männlicher Freundschaft hinlenkte, was auch
die Lehrer, die die Karlsschüler in die Geschichte
und Literatur des griechisch-römischen Altertums
einführten, beförderten, so gilt das hier Gesagte
mutatis mutandis gleichfalls für
den jungen Goethe.
Seine  früh  erworbene,  reiche
humanistische  Bildung  war
ebenso stark wie die Schillers
von den Idealen der griechisch-
römischen Antike geprägt und
auch für ihn waren ungewöhn-
lich intensive Freundschaftsge-
fühle charakteristisch.
Auf Goethes Enthusiasmus für
Sokrates folgte seine Begeiste-
rung  für  die  homoerotischen
Preisgesänge des höchstrangi-
gen griechischen Lyrikers Pindar, an denen ihm das
Wesen  ieder   meisterschafft aufging.  Natürlich
wußte er später auch die hohe Kunst der an Männer
gerichteten Liebessonette Shakespeares zu schät-
zen, so wie ihn als Mittsechziger der Diwan des
größten persischen, spätmittelalterlichen Lyrikers
Mohammed Schems ed-din Hafis verzauberte, des-
sen Ghaselen vielfach durch schöne Knaben ausge-
löst waren.
Ähnliche  Beispiele  ließen  sich  aus  der  Goethe
wohlvertrauten  italienischen,  französischen  und
englischen Literatur anführen, falls es weiterer Be-
weise bedürfte, daß es Goethe keineswegs verbor-
gen war, welche große Rolle in der Weltliteratur die
Liebe zwischen Männern spielt. Sie zu akzeptieren,
war für Goethe wie für Schiller eine stillschwei-
gende Voraussetzung.
Von den auf Homoerotik bezüglichen Sachverhal-
ten, die hier im Kontext der Freundschaft
Schillers  und  Goethes  zur  Sprache  ge-
bracht  werden  hat  die  Literaturwissen-
schaft bisher wenig Notiz genommen.
Inzwischen ist es über ein halbes Jahrhun-
dert her, daß Thomas Mann an Schillers
Gedicht Das  Glück als  literarische  Ca-
mouflage für Schillers Liebe zu Goethe
erinnert hat. Sich auf Thomas Mann be-
rufend,  wagte  Ilse  Graham  zwei  Jahr-
zehnte später von der erotisch bewegten
Wechselbeziehung« zwischen den beiden
»Geistesantipoden« als einem »diffizilen
und reizvollen Widerspiel zwischen Geist
und Natur zu sprechen.
Allerdings wirkte sich das auf die Auslegung von
Gedichten noch lange nicht aus. Meine wiederhol-
ten Versuche, einzelne Dichtungen Goethes als Lie-
besbotschaft für Schiller oder ein Schiller-Gedicht
als getarntes Liebesgedicht für Goethe zu deuten,
stießen zunächst auf Unglauben. Die Vorstellung,
daß Schiller und Goethe einander Liebesgedichte
zugeschickt haben könnten, schien noch weiterhin
fast unvorstellbar. Erst allmählich änderte sich das
mit dem Erscheinen einiger vorurteilsloser Publi-
kationen über Fiktionalisierung homoerotischer Er-
fahrung.
Prof. Dr. Katharina Mommsen (Palo Alto)
Kein Rettungsmittel als die Liebe
Goethes und Schillers Bündnis
im Spiegel ihrer Dichtungen
144
Daß  man  sich  der  literarischen  Camouflage  be-
diente, erhöhte gewiß den Reiz, der für beide Dich-
ter  in  diesen  Hervorbringungen  lag.  Es  galt  die
Engherzigkeit der Philister zu überlisten. Goethe
wußte schon, warum er während des glücklichen
Jahrzehnts mit Schiller dem Freunde niemals das
vertraute ›Du‹ anbot,  was bei  Lesern des Brief-
wechsels, der so viel menschliche Nähe zeigt, Ver-
wunderung auszulösen pflegt. Doch vor der Welt
galt es, Distanz zu wahren und den Schein einer ho-
moerotischen Zuneigung zu vermeiden. Die ihm
Nahestehenden kannten Goethes Verschwiegenheit
und vorsichtige Zurückhaltung; sie wußten, daß er
»in bezug auf sich geheim« und Diskretion »eine
seiner ausgebildetsten  Tugenden« war.  Dement-
sprechend gab es den von vorneherein ostensiblen
Briefwechsel, der sich seinem ganzen Gehalt nach
zur späteren Veröffentlichung qualifizierte.
Doch gab es außerdem einen ›geheimen Dialog‹, in
dem  Goethe  und  Schiller in Versen  miteinander
kommunizierten.  In  Gedichten  konnte  man  sich
maskieren und Versteck spielend seinen Empfin-
dungen freieren Lauf lassen. Von dieser heimlichen
Zwiesprache  zweier  einander  liebenden  Dichter
soll in den folgenden Kapiteln die Rede sein. Viel-
leicht fällt dadurch auch etwas neues Licht auf den
allzu theoretisch-abstrakten Begriff der »Deutschen
Klassik«, wenn man gewahr wird, wie sehr diese
Beziehung  vom  ›Eros‹  –  im  Sinne  von  Platons
Phaidros – geprägt war.
Allerdings muß man sich, um dieser  Liebe zwi-
schen Goethe und Schiller gerecht zu werden, zu
der Einsicht verstehen, daß Liebe und Begehren,
Erotik und Sexualität zweierlei sein können und
daß die abendländische Geschichte eine ›platoni-
sche Liebe‹ kennt, deren Gegenstand Mann oder
Frau  sein  kann.  Das geliebte Wesen ist  das Me-
dium, durch das der Liebende, ohne daß es zu einer
körperlichen Vereinigung kommen muß, eine Stei-
gerung des eigenen Wesens erfährt. Auch ist zu be-
denken,  daß  für  Künstler,  die  in  ihren  Werken
Gestalten beiderlei Geschlechts schaffen müssen,
die  Liebe zum eigenen wie die zum andern Ge-
schlecht sozusagen eine Schaffensvoraussetzung
ist.
Zum  Auftakt  des  lyrischen  Liebes-Dialogs  mit
Schiller sei noch ein kurzer Blick auf die psycho-
logisch aufschlußreiche Vorgeschichte geworfen.
Nachdem Schiller wiederholt eine echte Annähe-
rung an Goethe erhofft und gesucht hatte, spiegelt
sich ausgesprochene Haß-Liebe zu dem unnahba-
ren,  vergeblich  Umworbenen  in  dem  berühmten
Briefbekenntnis gegenüber Körner vom 2. Februar
1789: Oefters um Goethe zu sein, würde mich un-
glücklich machen: er hat auch gegen seine nächs-
ten Freunde kein Moment der Ergießung, er ist an
nichts zu fassen; ich glaube in der That, er ist ein
Egoist in ungewöhnlichen Grade. Er besitzt das Ta-
lent, die Menschen zu fesseln, und durch kleine so-
wohl  als  große  Attentionen  sich  verbindlich  zu
machen; aber sich selbst weiß er immer frei zu be-
halten. Er macht seine Existenz wohlthätig kund,
aber nur wie ein Gott, ohne sich selbst zu geben (...)
Ein solches Wesen sollten die Menschen nicht um
sich herum aufkommen lassen. Mir ist er dadurch
verhaßt,  ob  ich  gleich  seinen  Geist von  ganzem
Herzen liebe und groß von ihm denke. Ich betrachte
ihn wie eine stolze Prude, der man ein Kind machen
muß, um sie vor der Welt zu demüthigen, und an
meinem guten Willen liegt es nicht, wenn ich nicht
einmal mit der ganzen Kraft, die ich in mir aufbieten
kann, einen Streich auf ihn führe, und in einer Stelle,
die ich bei ihm für die tödtlichste halte. Eine ganz
sonderbare Mischung von Haß und Liebe ist es, die
er in mir erweckt hat, eine Empfindung, die derje-
nigen nicht ganz unähnlich ist, die Brutus und Cas-
sius gegen Caesar gehabt haben müssen; ich könnte
seinen Geist umbringen und ihn wieder von Herzen
lieben. Goethe hat auch viel Einfluß darauf, daß ich
mein Gedicht gern recht vollendet wünsche. An sei-
nem  Urtheile  liegt  mir  überaus  viel.  Die  Götter
Griechenlands hat er sehr günstig beurtheilt: nur zu
lang hat er sie gefunden, worin er auch nicht un-
recht haben mag. Sein Kopf ist reif, und sein Urtheil
über mich wenigstens eher gegen mich als für mich
parteiisch. Weil mir nun überhaupt nur daran liegt,
Wahres von  mir zu hören,  so  ist dies  gerade der
Mensch unter allen die ich kenne, der mir diesen
Dienst thun kann. Ich will ihn auch mit Lauschern
umgeben, denn ich selbst werde ihn nie über mich
befragen (…)
Von Goethe wiederum erfährt man aus dem rück-
blickend  verfaßten  autobiographischen  Bericht
Glückliches Ereigniß über die Mißverhältnisse, wel-
che ihn jahrelang von Schiller entfernt hielten, als
ihn bei der Rückkehr aus Italien dessen Räuber an-
widerten und er bei deren großem Publikumserfolg
sein eigenes Bemühen völlig verloren sah und er
sich so betroffen davon fühlte, daß er die Ausübung
der  Dichtkunst damals  gerne völlig  aufgegeben
hätte. Im Bewußtsein, daß eine ungeheure Kluft zwi-
schen ihren Denkweisen klaffte, vermied Goethe den
sich in Weimar aufhaltenden,  in seiner Nachbar-
schaft wohnenden Schiller. Drastischer kann man es
145
kaum  ausdrücken,  als  Goethe  es  aus  der  Rück-
schau tat: An keine Vereinigung war zu denken. (…
) Niemand  konnte  läugnen,  daß  zwischen  zwei
Geistesantipoden mehr als Ein Erddiameter die
Scheidung mache.
Nach einer solchen Vorgeschichte wirkt das Bünd-
nis beider Geistesantipoden, dessen Auftakt Goe-
the so treffend als Glückliches Ereigniß bezeichnet,
umso irrationaler und inkalkulabler. Zwar führt er
selber einige rationale Gründe an: Schillers Bestre-
ben, ihn zur Mitarbeit an den Horen zu gewinnen,
weswegen er ihn mehr anzuziehen als abzustoßen
suchte. Dazu kam Schillers größere Lebensklugheit
und Lebensart, denen es gelang, diplomatisch Goe-
thes  alten  »Groll«  zu  überbrücken.  Goethes
Bericht zufolge verdankte sich die Wendung, daß
aus der Jenaer Begegnung von Juli 1794 ein glück-
liche[s] Beginnen wurde, vor allem der Verlockung
des Gesprächs und dem lapidar vermerkten Haupt-
umstand: Schillers Anziehungskraft war groß.
Ebenso  spontan  wie  unter  den  damaligen  Um-
ständen  für  Goethe  unerwartet  entwickelte  sich
gegenüber dem bis dahin als Widersacher empfun-
denen Schiller große Liebe und Zutrauen. Sie muß-
ten  sich  damals  auf  beiden  Seiten  sogleich
entwickeln  und  bewähren.  Schiller  befand  sich
1794 auf dem Höhepunkt einer Schaffenskrise, da
er seit Jahren sein Dichten aufgegeben hatte. Er
hegte Zweifel an seinem poetischen Talent über-
haupt und wandte – unter dem machtvollen Einfluß
von Kant – all seine Kraft auf philosophische und
historische   Arbeiten.  Goethe  betrachtete  es  als
seine nächste Aufgabe, dem Freund zu helfen, den
Weg von der Philosophie zurück zur Dichtkunst zu
finden, in der er  dessen einzig wahre Bestimmung
erkannte.
Doch noch in anderer Hinsicht war Goethe in seiner
Freundespflicht  gefordert.  Schiller  begann  seine
Zeitschrift Die Horen; seine wirtschaftliche Zukunft
hing davon ab, daß er attraktive Mitarbeiter fand.
Goethe sprang als Retter ein. Um Die Horen und
Schillers Musen-Almanache zu füllen, wandte er viel
Zeit und Kräfte auf. Emsig lieferte er Beiträge, die
größtenteils als Nebenarbeiten zu betrachten sind
und die damals sein Ansehen als Dichter beeinträch-
tigten. Um Stoff für Die Horen zu schaffen, ließ er
sich sogar auf Übersetzungstätigkeit ein. Die eigenen
dringlichsten Vorhaben, die Schöpfung eines neuen
großen, seiner würdigen Werkes, gerieten darüber in
den Hintergrund. Wie in Rom, so mußte Goethe auch
jetzt  die  wichtigste  dichterische Arbeit nebenher
thue[n].
Wollte Goethe jedoch der Hauptbedrängnis Schillers
abhelfen, so bedurfte es eines Opfers noch ganz an-
deren Ausmaßes. Schiller war auf fortwährende An-
regung und Diskussion seines Schaffens angewiesen.
Goethe versagte sich nicht. Er wirkte seit den ersten
Tagen ihrer Begegnung aktivierend auf den Freund
ein, förderte dessen Schaffen, wo er konnte, schenkte
ihm eigene Stoffe. Durch diese Leistungen tätiger
Liebe gelang es ihm, den Freund wieder zum Dich-
ten zurückzuführen. Sollte nun Schillers Rekonva-
leszenz  als  Dichter  nicht  gefährdet  werden,  so
bedurfte er auch weiterhin ständig der Lenkung und
Anregung durch Goethe. Hier nun ergab sich für die-
sen eine Gewissensnot. Sein ganzes Streben war da-
rauf gerichtet, nach Italien zurückzukehren und sich
in Rom niederzulassen.
Goethe befand sich auch seinerseits in den ersten
Jahren  seiner  Freundschaft  mit  Schiller  in  einer
Schaffenskrise. Sie wurde noch durch eine Eigen-
schaft des Freundes befördert, die ihn andererseits
höchst schätzenswert für Goethe machte. Als bedeu-
tender  Dichter  war  Schiller  der  ergiebigste  Ge-
sprächspartner,  den  Goethe  je  gefunden  hatte.
Goethe genoß diese Gespräche, ließ sich aber durch
sie auch dazu verlocken, mit Schiller über seine ei-
genen  Schaffensvorhaben  zu  sprechen.  Unglück-
licherweise  aber  gelangen  ihm  Dichtungen  nur,
wenn er sie vor andern geheim hielt, mit niemandem
besprach. Nur  in absoluter Stille und  Einsamkeit
konnten sie gedeihen. So wirkte sich der Gedanken-
austausch mit Schiller paralysierend auf die Ausfüh-
rung von Goethes eigenen dichterischen Plänen aus.
Wiederholte Anläufe zu großen Dichtungen gerieten
ins Stocken.
Goethes  dichterische  Produktivität  ging  zurück,
während  Schiller  seine  Schaffenskraft  wiederge-
wann. Verzichtete Goethe nun auf den Plan, wieder
nach  Rom  zu  gehen,  verblieb  er  in  Weimar,  um
Schillers Schaffen zu fördern, so sah er damit sein
eigenes Schaffen endgültig gefährdet. Hoffnungen,
an die er sich viele Jahre geklammert hatte, wurden
zunichte. Ein solches Opfer erschien Goethe zu groß,
um sich ohne weiteres dazu durchringen zu können.
War er nun einerseits entschlossen, nach Italien zu
gehen, so war er andererseits von Tag zu Tag mehr
davon überzeugt, wie dringend Schiller seiner Hilfe
bedurfte. Schiller beeinflußte ihn zum Bleiben. Be-
schwörend schrieb er ihm damals, sei er von Goethe
getrennt, so fehlt mir das Element, worin ich leben
soll. Endlich kam es zur Krise. Im Sommer 1797 trat
146
Goethe seine Reise nach Italien wirklich an. Letzte
Maßnahmen, die Verbrennung seiner gesamten Kor-
respondenz, das Aufstellen eines Testaments, zeigen
an, daß er die endgültige Auswanderung ins Auge
faßte. Indessen habe ich alles so geordnet und bin so
los und ledig als ich jemals war, schrieb er am 7. Juli
1797 seinem Freunde Heinrich Meyer, mit dem er
nach Italien reisen wollte.
Schon war Goethe in der Schweiz mit Meyer zusam-
mengetroffen, nur noch der Gotthard
trennte sie von Italien, da überkam ihn
plötzlich die Einsicht, er müsse nach
Weimar, d.h. zu Schiller, zurückkeh-
ren. Er erkannte, daß er sich nicht von
dem Freunde trennen durfte, der ihn
brauchte,  dem  seine  Krankheit  nur
noch eine sehr begrenzte Lebensdauer
zur Erfüllung seiner Aufgaben ließ.
Damals entschloß Goethe sich zu dem
Opfer, das zu bringen er sich lange
gesträubt  hatte:  dem  Schaffen  des
Freundes zuliebe auf die Förderung
des eigenen Schaffens zu verzichten.
Mit  dem  Entschluß,  sich  nicht  von
Schiller  zu  trennen,  nahm  Goethe
auch  die  vorauszusehende  weitere
Behinderung in Kauf. Klagen über die eigene Un-
produktivität  wiederholen  sich  zahllose  Male  in
Goethes  Briefen  während  der  ganzen  Zeit  seiner
Freundschaft mit Schiller. Die verhältnismäßig we-
nigen  eigenen,  wirklich  gelungenen  Dichtungen
jener  Jahre  beweisen,  daß Goethes schöpferische
Kraft durchaus nicht erloschen war. Nur konnte sie
damals  nicht  so  zum  Zuge  kommen,  wie  es  bei
einem Goethe hätte natürlich sein müssen. Schiller
spürte seinerseits, daß Goethe sich in einer Phase
nachlassender  Schöpferkraft  befand.  Und  seine
Freundschaft erwies sich darin, daß er Goethe auf
sich selbst, zu seiner poetischen Kreativität, zurück-
verwies.
Überhaupt darf das Genießen der von beiden wäh-
rend der Freundschaftsepoche geschaffenen Werke
nicht unerwähnt bleiben, weil es zur Erfüllung ihrer
geistigen Gemeinschaft gehörte. Erst
nach Schillers Tod stellte sich die alte
Schöpferkraft wieder ein, jetzt setzte
Goethe die Reihe seiner großen Dich-
tungen fort, von den Wahlverwandt-
schaften über  den West-östlichen
Divan bis hin zu Faust II.
Es existieren nur wenige Äußerungen
Goethes, die verraten, welche Bedeu-
tung er dem Verzicht auf Rom bei-
maß. So bekennt er in einem Brief an
Staatsrat  Schultz  vom  10.  Januar
1829, die Freundschaft zu Schillern,
die  Teilnahme  an  seinem  Dichten,
Trachten und Unternehmen hätten ihn
die Reise abbrechen lassen. Riemer
wußte, es war Goethes wahrhaft an-
tiker Sinn für  Freundschaft gewesen, der ihn  auf
Rom habe Verzicht leisten lassen. Tatsächlich war es
die freundschaftliche Aufopferung im Stile Winckel-
manns, die Goethes Weg zu diesem Verzicht vorge-
zeichnet hatte.
Dieses Freundschaftsethos, dessen Zentrum die Auf-
opferung  für  den  Freund  bildete,  verherrlichte
  Goethe auch in Wilhelm Meisters Lehrjahre, an des-
sen letzten Büchern er gerade schrieb, als er Schiller
kennenlernte.
Mit Sätzen wie: Ohne Aufopferung läßt sich keine
Freundschaft denken hatte Goethe sich dem Freund
innerlich verpflichtet. An das Diktum, daß alles auf
die  Übereinstimmung  von  Denken  und  Tun  an-
kommt,  dieser  bündigsten Zusammenfassung  der
Turm-Ethik, fühlte Goethe sich selbst am meisten
gebunden.
In Dichtung und Wahrheit erklärte Goethe: Uneigen-
nützig  zu  sein  in  allem,  am  uneigennützigsten  in
Liebe und Freundschaft, war meine höchste Lust,
meine  Maxime,  meine  Ausübung. Man  hat  diese
Worte nie völlig ernstgenommen. Wird man jedoch
gewahr, wie Goethe sich für Schiller im Verborgenen
geopfert hat, so erweist sich ihre volle erlebte Wahr-
heit. Die dort erwähnte Uneigennützigkeit (…) in
Freundschaft – Goethe hat sie wirklich in höchstem
Grade ausgeübt. Dies war das Neue – und zugleich
etwas  Einmaliges.  In  der Geistesgeschichte  weiß
man von keinem Freundschaftsopfer gleicher Art.
Von Schiller stammt das intime Bekenntnis, daß es,
dem Vortrefflichen gegenüber keine Freyheit giebt
als die  Liebe. In den  ein Jahr nach Schillers Tod
geschriebenen  Wahlverwandtschaften  antwortete
Goethe darauf insgeheim, ohne daß irgendjemand
Schiller als den Urheber vermuten konnte, mit der
Eintragung in Ottilies Tagebuch: Gegen große Vor-
züge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die
Liebe.
Aus der Einleitung von Katharina Mommsens Buch
Kein Rettungsmittel als die Liebe, Wallstein Verlag, 2009.
147
Einen besonderen Wissensbereich stellen für Goe-
the die in seiner Zeit aufblühenden Naturwissen-
schaften dar. Sein Streben nach Naturerkenntnis,
nach dem was die Welt im Innersten zusammenhält
hat ihn vom Kindesalter an sein ganzes Leben be-
gleitet. Erkenntnis ist für ihn ein erstrebenswertes
Ziel,  ja  das  höchste  Lebensziel.  So  heißt  es: Im
ersten Beinhaus war’s wo ich beschaute (...) Was
kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als daß
sich Gott-Natur ihm offenbare?
In einem ähnlichem Sinne äußert er sich zu Ecker-
mann am Ende seines Lebens: Es geht doch nichts
über die Freude, die uns das Studium der Natur
gewährt. Ihre Geheimnisse sind von einer uner-
gründlichen Tiefe, aber es ist uns Menschen er-
laubt  und  gegeben,  immer  weitere  Blicke
hineinzuthun...
An anderer Stelle stellt Goethe einen Bezug zwi-
schen der Naturwissenschaft, dem Menschen und
Gott her: Ohne meine Bemühungen in den Natur-
wissenschaften hätte ich die Menschen nie kennen-
gelernt, wie sie sind; der Mensch muß fähig sein,
sich zur höchsten Vernunft erheben zu können, um
an die Gottheit zu rühren, die sich in Urphänome-
nen, physischen wie sittlichen offenbaret.
Seine ersten naturwissenschaftlichen Grundlagen
erhält Goethe während seiner Erziehung in Frank-
furt durch Privatlehrer. Nach seiner Erkrankung in
Leipzig und der Rückkehr nach Frankfurt 1768 be-
schäftigt er sich während der Rekonvaleszenz mit
Alchemie und Chemie, wobei die Freundin seiner
Mutter, die Pietistin Katharina von Klettenberg ihn
anregt  und seine Lehrmeisterin  ist.  In  Straßburg
besucht er neben seinen juristischen auch naturwis-
senschaftliche Vorlesungen, so zum Beispiel Lek-
tionen  über  Arzneimittelkunde,  Chemie  und
Medizin.
Mineralogie und Geologie
Goethes Interessen sind der gesamten Natur zuge-
wandt – von den unterirdischen Schätzen der Erde
bis zu den Spiralnebeln des Kosmos.
Mit Geologie  und  Mineralogie be-
schäftigt er sich  intensiver, seitdem
er 1777 in die Bergwerkkommis-
sion des Herzogtum Sachsen-Wei-
mar  aufgenommen  wird  und  so
zusammen mit seinem Kammerkol-
legen  Carl  Wilhelm  Voigt  für  den
Ilmenauer Bergbau verantwortlich ist.
So verfaßt er zahlreiche geologische und mineralo-
gische Schriften, darunter: Bildung des Erdkörpers;
Zur Geologie besonders der böhmischen; Geologi-
sche Probleme und Versuch ihrer Auflösung; Der
Kammerberg bei Eger I und II; Mineralogie von
Thüringen  und  angrenzender  Länder; Über  den
Granit; Über  Bildung  von  Edelsteinen; Eiszeit;
Über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in
verschiedenen  Erdstrichen  von  Alexander  von
Humboldt; Beschreibung der Karlsbader Müller-
schen Steinsammlung.
Kenntnisse der Geologie vermittelt
ihm Friedrich Heinrich von Tebra,
seit 1801 Oberberghauptmann in
Freiberg/Sachsen,  der  ein  Duz-
freund Goethes wird sowie der Il-
menauer  Bergfachmann  Johann
Carl  Wilhelm  Voigt,  der  1789
Bergrat in  Ilmenau ist.
Kontakt hat er auch zu dem Minera-
logen Abraham Gottlob Werner von
der Bergakademie Freiberg/Sach-
sen. Dieser hat eine heute noch zu
besichtigende umfangreiche Mi-
neraliensammlung aufgebaut und
ist ein Hauptvertreter des Neptunis-
mus. Goethe übernimmt dessen An-
schauungen und  widmet Werner  nach
dessen Ableben das Gedicht Werners Tod mit einer
eigenen Positionierung:
Kaum wendet der edle Werner den Rücken,
Zerstört man das poseidonische Reich,
Wenn alle sich vor Hephaistos bücken,
Ich kann es nicht sogleich.
Die  Auseinandersetzung  zwischen  Vulkanismus
und Neptunismus spiegelt sich in Faust II (2. Akt)
in  den  differierenden  Aussagen  des  Vulkanisten
Anaxagoras  und  des  Neptunisten  Thales  wider.
Anaxagoras: Hast Du, o Thales je in einer Nacht
solch  einen  Berg  aus  Schlamm  hervorgebracht?
und Durch Feuerdunst ist dieser Fels zu Handen.
Thales: Im Feuchten ist Lebendiges entstanden.
Prof. Dr. Volker Hesse (Berlin)
Döbereiner beträgt sich sehr lobenswürdig...
Goethe, die „Jenenser“ und weitere Lehrer
der Naturwissenschaften (Dia-Vortrag)
148
Als die Hinweise auf die Richtigkeit der Annahme
einer vulkanischen Erdgestaltung größer werden,
kann und will Goethe dies nicht vollständig akzep-
tieren..
Hinsichtlich der Geologie und Mineralogie begrün-
det Goethe sein leidenschaftliches Interesse bereits
1780 gegenüber Johann Heinrich Merck mit den
Worten: Ich habe mich diesen Wissenschaften, da
mich mein Amt dazu berechtigt mit einer völligen
Leidenschaft ergeben. Eine Begründung für  sein
spontanes  Interesse  an  der  Mineralogie  gibt  er
Eckermann: So  hat auch die Mineralogie nur in
einer doppelten Hinsicht Interesse für mich gehabt:
Zunächst nämlich ihres großen praktischen Nutzens
wegen, und dann, um darin ein Dokument über die
Bildung der Urwelt zu finden...
Wissenschaftlicher Berater und Leh-
rer in Fragen der Mineralogie war
für Goethe in Jena Johann Georg
Lenz. Bis 1780 Aufseher des Na-
tursteinkabinetts wird er 1794 Di-
rektor  der  Mineralogischen
Sammlung. Goethe steht mit ihm
seit 1784 in engem Austausch und
unterstützt Lenz 1798 bei der Gründung
der Mineralogischen Gesellschaft, deren Ehrenmit-
glied Goethe wird; 1804 übernimmt er sogar die
Präsidentschaft der Gesellschaft.
Auch auf seinen Reisen ist Goethe stets bemüht,
seine  geologischen  und  mineralogischen  Kennt-
nisse zu erweitern und zu vertiefen. Er suchte den
Kontakt zu Fachexperten wie Horace Benedict de
Saussure  und  Joseph  Sebastian  Gruner,  zu  Graf
Caspar Maria von Sternberg und dem Karlsbader
Stein- und Wappenschneider Joseph Müller.
Chemie
Die  Chemie  ist  immer  noch  meine  heimliche
Geliebte, schreibt Goethe 1770 aus Straßburg an
Katharina von Klettenberg (später hat er sie in den
Bekenntnissen einer schönen Seele in Wilhelm Mei-
sters Lehrjahren literarisch geehrt.)
Goethe  liest  in  seiner  dem  Studienaufenthalt  in
Leipzig folgenden Frankfurter Rekonvaleszenzzeit
in den Jahren 1768-1770 alchimistische Schriften
von Paracelsus, Basilius Valentinus, Georg Welling,
J.  B.  van  Helmont  und  beschäftigt  sich  mit  der
Aurea Catena Homeri. Er kauft sich einen eigenen
»Windofen« und führt chemische Versuche im El-
ternhaus durch.
In  Straßburg  nimmt  er  im  Wintersemester
1770/1771  an  dem  chemisch  experimentellen
Unterricht des Apothekers und Rektors der Uni-
versität, Jacob Reinhold Spielmann, teil und er-
weitert hier seine chemischen Kenntnisse.
Goethes geologische und Bergbauinte-
ressen sind eng mit der Mineralogie
verknüpft, für deren Verständnis
Kenntnisse der Chemie erforder-
lich sind.
Der Weimaer Hofapotheker Wil-
helm  Heinrich  Sebastian  Buch-
holz,  ein  anerkannter  Chemiker,
der u. a. die antiseptische Wirkung von Kohlendi-
oxid erkennt, berät Goethe bei chemischen Fragen
und hilft ihm beim Experimentieren. Nach gemein-
samer Vorarbeit mit Goethe läßt er z. B. 1784 und
1785 mit Erfolg Heißluftballone aufsteigen, was da-
mals eine Sensation ist. Goethe schätzt Buchholz
sehr: Was die Chemie betrifft, so dürfen wir uns der-
selben vorzüglich rühmen. Herr Bergrat Buchholz
hat von den frühesten Zeiten her, mit der Wissen-
schaft gleichen Schritt gehalten und die interessan-
testen  Erfahrungen
teils  selbst  gemacht,
teils zuerst mitgeteilt
und ausgebreitet. Aus
seiner  Schule  ist  ein
Göttling  hervorge-
gangen...
Der erste Professor für Chemie der Jenenser Uni-
versität Johann Friedrich August Göttling, der nach
seiner Tätigkeit an der Weimarer Hofapotheke 1779
die erste pharmazeutische Zeitschrift in Deutsch-
land gründet, den Almanach oder Taschenbuch für
Scheidekünstler und Apotheker. Von Herzog Carl
August erhält er die finanzielle Unterstützung, um
an der Universität Göttingen Chemie und naturwis-
senschaftliche Fächer zu studieren.
Goethe läßt Göttling ein chemisches Labor im Je-
naer Schloß einrichten. Er wird 1789 der erste Pro-
fessor  für  Chemie  auf  einem  selbständigen
Lehrstuhl in Deutschland. Er analysiert für Goethe
verschiedene Mineralien und wird von ihm zu che-
mischen und optischen Versuchen und Analysen he-
rangezogen. Der Chemiker  informiert ihn über die
Ablösung  der  alten Phlogistontheorie durch  die
149
moderne Oxydationstheorie  Lavoisiers, einer Re-
volution im chemischen Verständnis. Bei chemi-
schen  Verbindungen  unterscheidet  er  zwischen
Verbindungs- und Wahlverwandschaften. Letzteren
Begriff  nimmt  Goethe  später  zum  Titel  seines
gleichnamigen Romans.  Hier  angewandt auf  die
zwischenmenschlichen Beziehungen von Charlotte,
Eduard, dem Hauptmann und Ottlie: Eine neue stär-
kere  Verbindung  ersetzt  eine  schwächere.  Auch
Göttlings bekanntes und viel genutztes vollständi-
ges chemisches ProbirCabinet findet in den Wahl-
verwandschaften Erwähnung.
In der Nachfolge des 1809 verstorbe-
nen Göttling wird Johann Wolfgang
Döbereiner als Dozent und nach-
folgend als Professor für Chemie
nach Jena berufen, Goethes wich-
tigster Lehrer der Chemie. Goethe
und Döbereiner verbindet eine 20
jährige  positive  Zusammenarbeit
und ein freundschaftliches Zusammen-
wirken. Döbereiner wird mit der Zusammenfassung
von je 3 Elementen zu Triaden, z. B. Lithium, Ka-
lium, Natrium einer der Vorläufer des chemischen
Periodensystems der Elemente. Ferner wird er durch
zahlreiche Veröffentlichungen bekannt, besonders
durch die Entdeckung, daß Platin eine Katalysator-
wirkung hat. Die Grundlage eines von ihm entwi-
ckelten Feuerzeugs beruht auf der Erkenntnis, daß
ein  Wasserstoff-Luft-Gemisch  sofort  entflammt,
wenn man es gegen einen Platinschwamm strömen
lässt. Goethe nutzt Döbereiners Feuerzeug persön-
lich und schreibt an ihn 1826: Es ist eine höchst an-
genehme Empfindung, wenn wir eine bedeutende
Naturkraft  also  bald  zu  irgend  einem  nützlichen
  Gebrauch eingeleitet sehen, und so bin ich in dem
Falle, mich Ew. Wohlgeboren immer dankbar zu er-
innern, da Ihr so glücklich erfundenes Feuerzeug
mir täglich zur Hand steht und immerfort auf eine
wundersame Weise nützlich wird.
Der Briefwechsel Goethes mit Döbereiner umfasst
123 Briefe. Döbereiner verfaßt zahlreiche Bücher,
genannt seien die Anfangsgründe der Chemie und
Stöchiometrie und den Grundriß der allgemeinen
Chemie. Zwei Werke, mit denen sich auch Goethe
beschäftigt. Er beauftragt Döbereiner mit zahlrei-
chen  Analysen  von  Mineralien  sowie  Mineral-
wässern  und  führt  mit  dessen  Unterstützung
Farbextraktionsversuche an Pflanzen durch, die er
für seine Farbenlehre benötigt.
Der Staatsminister schätzt Döbereiner fachlich und
menschlich:  An  den  Physiker  Thomas  Johann
Seebeck  schreibt  er  1812: Unser  Professor  der
Chemie, Döbereiner in  Jena,  macht seine Sache
sehr gut, er ist jung, tätig, hat viele technische Ein-
sicht und Fertigkeit, so daß er sich auch schon als
Oberaufseher unserer Bierpfannen und Brandwein-
blasen sehr wacker gezeigt hat. Riemer teilt Goethe
im Mai 1816 mit: Daß ich Döbereiner und somit
der Chemie  in Jena für ewig eine Burg erbauen
kann, giebt mir eine behagliche Tätigkeit.
Botanik
In botanischen Fragen erhält Goethe in Jena vor
allen Dingen Unterstützung und Beratung von Au-
gust Johann Georg Karl Batsch. Goethe lernt Batsch
bereits 1785/86 kennen und setzt sich für dessen
Berufung 1787 zum Professor für Naturgeschichte
an  der  Universität  Jena ein.  Mit
ihm diskutiert er seine Vorstel-
lungen zur Metamorphose der
Pflanzen. 1793 gründet Batsch
die Naturforschende Versamm-
lung,  deren  Tagungen  auch  in
seinem  Haus  stattfinden.  1794
kommt es dort nach dem Zusam-
mentreffen Goethes und Schillers auf
dieser Tagung zu dem beglückenden Ereignis, dem
Beginn  der  Freundschaft  zwischen  Schiller  und
Goethe.
Goethe beschäftigte sich auch mit der Botanik von
Jean-Jacques Rousseau und dem botanischen Sys-
tem von Carl von Linné. Im September 1785 stu-
diert Goethe dessen Philosophia botanica erstmals
und nutzt dieses Werk u.a. auch auf seiner italieni-
schen Reise sowie für seine botanische Schrift Ver-
such die Metamorphose der Pflanzen zu erklären.
Anatomie und Medizin
In der Blütezeit der Jenaer Medizinischen Fakultät
am Ende des 18. Jahrhunderts ragten die Persön-
lichkeiten von Justus Christian Loder, Johann Stark
der Ältere und Christoph Wilhelm Hufeland hervor.
Mit Anatomie und Medizin kommt Goethe schon
als Heranwachsender in Berührung. In der Biblio-
thek seines Vaters finden sich 19 verschiedene ana-
tomische Werke, darunter auch die anatomischen
Tabellen des Dr. J. A. Kulmus. Bereits im Alter von
11 Jahren besucht Goethe in Frankfurt die bekannte
Senkenbergerische Anatomie. Weitere Erfahrungen
sammelt er in Leipzig und Straßburg. Am Beginn
150
des 2. Semesters 1770 hörte er in Straßburg Anato-
mie bei den Universitätslehrern Lobstein und Ehr-
mann, letzterer ist gleichzeitig auch Chirurg.
In Dichtung und Wahrheit schreibt er: Die Anatomie
war mir auch deshalb doppelt wert, weil sie mich
des widerwärtigen Anblick ertragen lehrte, indem
sie meine Wissbegierde befriedigte. Und so besuchte
ich auch das Klinikum des älteren Doktor Ehrmann,
sowie die Lektionen der Entbindungskunst seines
Sohnes, in der doppelten Absicht alle just auch ken-
nen  zu  lernen  und  mich  von  aller   Apprehension
gegen widerwärtige Dinge zu befreien....
Eine für Jena herausragende Rolle
spielt  dabei  in  der  Zeit  von
1778-1803  der Anatom,  Chi-
rurg und Geburtshelfer Justus
Christian  Loder.  Bald  nach
seiner Übersiedlung nach Wei-
mar  lernt  Goethe  Loder  bei
anatomischen Demonstrationen
kennen, besucht 1780 seine Ana-
tomie in Jena und nimmt im Jahr da-
rauf  regelmäßig  an  seinen  Vorlesungen  im
Anatomischen Theater teil. Frau von Stein teilt er
mit: Loder erklärte mit alle Beine und Muskeln und
ich werde in wenigen Tagen vieles fassen. An Carl
August berichtet er: Mir hat Loder Osteologie und
Myologie beigebracht. Zwei Unglückliche waren
uns eben zum Glück gestorben, die wir dann auch
gründlich  abgeschabt  und  von  ihrem  sündigen
Fleisch geholfen haben.
1781 wendet Goethe seine neu erworbenen anato-
mischen Kenntnisse bei der Ausbildung von jungen
Leuten an der Weimaer Zeichenakademie an. Carl
August teilte er mit: Auf den Mittwoch fing ich an
(...), das Skelett den jungen Leuten (...) zu erklären,
und sie zur Kenntnis des menschlichen Körpers an-
zuführen. (...) Ich tue es zugleich um meiner und
ihretwillen.
1784  entdeckt  Goethe  bei  vergleichenden  anato-
mischen Untersuchungen mit Loders Unterstützung
das Os intermaxillare. An Herder schreibt er voll
Freude Ende März 1784: Ich habe weder gefunden
Gold  noch  Silber,  aber  was  mir  eine  unsägliche
Freude macht, das Os intermaxillare am Menschen
(...), denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen
fehlt nicht, ist auch da.
Nachdem Loder das Manuskript Goethes über den
Zwischenkieferknochen (später auch Os Goethei)
gelesen  hatte,  schreibt  er  ihm  nachfolgende
schmeichelnde Worte: Ich habe bei Durchlesung
desselben so viel Vergnügen empfunden, und Ihre
Praecesion in der anatomischen Beschreibung so
wol, als Ihren Blick in die Physiologie des Theils so
sehr  bewundert,  daß  ich  in  der  anatomischen
Begeisterung es im vollen Ernst bedaure, daß Sie
Minister  und  nicht  Professor  anatomiae  sind.
Bereits 1788 weist Loder in seinem Anatomischen
Handbuch auf Goethes Entdeckung hin.
Goethe führt seine anatomischen Studien auch in
Italien  fort,  wie  sein anatomisches  Skizzenbuch
ausweist. Nach seiner Rückkehr hört er im Novem-
ber 1788 bei Loder erneut Vorlesungen über die
Anatomie der Muskeln. 1794 hört er mit Alexander
und  Wilhelm  von  Humboldt  und  dem  Maler
Johann Heinrich Meyer eine Vorlesung über die
Gelenkbänder. In den folgenden Jahren besucht er
weiterhin Loders anatomische Vorlesungen.
Angeregt durch die Brüder Humboldt entsteht 1795
Goethes Schrift Erster Entwurf einer allgemeinen
Einleitung in die vergleichende Anatomie ausge-
hend von der Osteologie. Mit der von ihm ange-
wandten Methode der vergleichenden Anatomie hat
Goethe eine gute methodische Grundlage geschaf-
fen und wird deshalb auch von Ernst Haeckel als
Vorläufer der Abstammungslehre anerkannt.
Einen Mißklang in den Beziehungen zwischen Goe-
the und Loder gibt es, als dieser bei der Übersiedlung
nach Halle seine anatomische Sammlung mitnimmt
und damit die Grundlage für einen qualifizierten ana-
tomischen Studentenunterricht in Jena stark beein-
trächtigt  wird.  Goethe  und  Herzog  Carl  August
veranlassen daraufhin den Aufbau einer neuen ana-
tomischen Sammlung. Da es an Originalpräparaten
mangelt,  befürwortet  Goethe  die  Nutzung  von
Wachsmodellen zu Lehr- und Anschauungszwecken.
Seinen Jugendfreund und zeitweiligen
»Mentor«, den Darmstädter Kriegs-
zahlmeister und späteren Kriegsrat
Johann Heinrich Merck, hat Goe-
the 1772 in Darmstadt kennenge-
lernt.  Merck  gewinnt  ihn  für  die
Mitarbeit an den von ihm betreuten
Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Goe-
the sagt von Merck: ein eigener Mann,
der auf mein Leben den größten Einfluß gehabt.
Der vielseitig interessierte Merck beschäftigt sich
intensiv mit der vergleichenden Osteologie, auch
151
unter Nutzung fossiler Materialien und verfaßt 1782
einen Knochenbrief, dem 1784 und 1786 zwei wei-
tere folgen.
Mitunter stehen Goethe und Merck im Wettbewerb
um den Erwerb fossiler Funde, so z. B. um einen
Krokodilskopf, den Merck schneller ergattert. Goe-
the ärgert sich noch im Alter darüber: Mit habsüch-
tiger  Liebhaberei  bemächtigte  er  sich  mancher
vorzüglicher Exemplare. Goethe ist andererseits sehr
daran interessiert, von Merck den aktuellsten Stand
seiner Forschung zur vergleichenden Osteologie zu
erfahren, während er sich hinsichtlich seiner eigenen
Forschungsbemühungen sehr bedeckt hielt.
Merck und Goethe sehen sich persönlich zum letz-
ten Mal im Oktober 1788 in Mühlhausen, drei Jahre
vor Mercks Freitod.
Den bekannten Anatom Samuel Thomas von Soem-
mering lernt Goethe 1783 in Kassel kennen.
Soemmering informiert ihn über zahl-
reiche  wesentliche  anatomische
Werke. Goethe erbittet sich von ihm
Tierschädel, um seine vergleichen-
den Untersuchungen am Zwischen-
kiefer vornehmen zu können, u. a.
auch den Schädel des in Kassel ver-
unglückten indischen Elefanten, den er
auch erhält. Obwohl Soemmering Goe-
thes Entdeckung des Zwischenkieferknochens kri-
tisch  gegenüber  steht,  empfiehlt  er  1791  eine
Publikation der Arbeit. Später beschäftigt sich So-
emmering mit dem menschlichen Auge, Untersu-
chungen, die  Goethe,  der  sich seit  1791 mit der
Farbenlehre beschäftigt, sehr interessieren. Zum 50
-jährigen Dienstjubiläum Soemmerings sendet Goe-
the ihm 1828 ein Lederetui mit der Aufschrift: Sei-
nem  erprobten  Freunde  und  Studien-Genossen
Sömmering (!) zu dessen Jubeltage.
Den Wiener Anatom Franz Josef Gall lernt Goethe
im Juli 1805 in Halle kennen, als dieser dort einen
Vortrag hält. Gall ist der Begründer
der Phrenologie; er glaubt, von der
äußeren Schädeldecke auf geis-
tig-seelische Anlagen schließen
zu  können.  Von  Galls  Vortrag,
speziell von dessen Kenntnissen
des Gehirns, ist Goethe begeistert
und betrachtete dessen Ausführun-
gen als Gipfel vergleichender Anato-
mie.  Gall  besucht  Goethe  im  Oktober1807  in
Weimar und erreicht, daß dieser von Carl Gottlob
Weißer eine Lebendmaske abnehmen läßt. Die von
Weißer auf dieser Basis 1807/1808 gestaltete Büste
stellt den wahren Goethe dar.
Der in Langensalza geborene Christoph Wilhelm
Hufeland ist von 1783-1793 als praktischer Arzt in
Weimar tätig und in dieser Zeit auch Hausarzt Goe-
thes. Nach einer Pockenepidemie verfaßte er 1787
sein erstes Buch: Über die Ausrottung der Pocken.
Auf Anregung Goethes wird Hufeland 1791 Mit-
glied der durch Herzog Carl August inaugurierten
Freitagsgesellschaft,  eines  literarisch-geselligen
Kreises, in dem aber auch naturwissenschaftliche
Themen besprochen werden.
Hufeland beeindruckt die Runde und speziell Her-
zog Carl August bei einem Vortrag über seine Ma-
krobiotik, die  Kunst,  das  menschliche  Leben  zu
verlängern. Dies hat zur Folge, daß Hufeland 1793
zum Professor an der Universität Jena berufen wird.
Noch der alte Hufeland schwärmte von seinen Be-
gegnungen  mit  Goethe  und  rechnete es  zu  dem
größten Vergnügen meines Lebens (...), daß es mir
vergönnt  war,  diesem  großen Geiste   persönlich
nahe zu stehen.
Seinem berühmtesten Werk Makrobiotik – ein Weg-
bereiter der modernen Alterswissenschaft – stellt er
Worte aus dem Egmont voran: Süßes Leben! Schöne
freundliche Gewohnheit des Daseyns und Wirkens!
– von Dir soll ich scheiden?
Hufeland schildert in seiner Selbstbiographie die
Wirkung des jungen, 1775 nach Weimar gekomme-
nen Goethe: Dieser junge 27-jährige, feurige Herr
Doktor – denn so hieß er damals – brachte eine
wunderbare Revolution in diesem Orte hervor, der
bisher ziemlich philisterhaft gewesen war und nun
plötzlich genialisiert wurde (...). Man kann sich kei-
nen schöneren Mann vorstellen. Dabei sein lebhaf-
ter Geist und seine Kraft, die seltenste Vereinigung
geistiger und körperlicher Vollkommenheit, groß,
stark und schön.
Goethe gibt in der Zeit, da Hufeland sein Hausarzt
ist, diesem medizinisch nicht allzuviel zu tun, bleibt
aber mit ihm im Gespräch über aktuelle und medi-
zinische  Probleme:  Im Faust  II (Paralipomena,
Bruchstücke 136) lesen wir: Ein Leibarzt muß zu
allem taugen. Wir fingen bei den Sternen an und en-
digen mit Hühneraugen.
Hufeland propagierte die Stärkung und Nutzung der
körpereigenen Kräfte zur Vermeidung von Krank-
152
heiten, durch gesunde Ernährung,
frische Luft, Abhärtung und kör-
perliche  Bewegung,  Maximen,
die  wir  z.  T.  gleichlautend  bei
Goethe  finden.  Diese  Empfeh-
lungen gelten auch für den Patien-
ten Goethe. Dieser schreibt an Frau
von  Stein  (14.  04.  1785),  daß  ihm
Hufeland die Bewegung als die beste Arznei anrät.
Hufeland hält den Kontakt zu Goethe auch nach sei-
ner Übersiedlung nach Berlin aufrecht und besucht
ihn mehrmals in Weimar und Jena. Goethe würdigt
Hufeland als: einen umsichtigen und mit mannigfal-
tigem Talent der Behandlung und auch der Darstel-
lung begabter Arzt, einen in seinem Fach ernsthaft
beschäftigten, im Neuen voranschreitenden und über
das Alter nachdenkenden Menschen.
Wesentliche Aspekte seines gesundheitsbewußten
Credos der Makrobiotik fasste Hufeland in Versform
zusammen. Einige Zeilen seien angeführt.
Halt deine Seele frei von Haß,
Neid, Zorn und Streites Übermaß,
Und richte immer deinen Sinn
Auf Seelenruh und Frieden hin.
Denn Leib und Seele sind genau
In dir vereint, wie Mann und Frau,
Und müssen stets, sollst du gedeihn,
In guter Eh' beisammen sein.
Liebe, reine Herzensliebe
Führe dich der Ehe zu;
Denn sie heiligt deine Triebe,
Gibt dem Leben Dauer und Ruh.
Bewege täglich deinen Leib,
Sei's Arbeit oder Zeitvertreib;
Zu viele Ruh macht dich zum Sumpf,
Sowohl an Leib als Seele stumpf.
Goethes  umfangreiche  naturwissenschaftliche
Studien und der Austausch mit führenden naturwis-
senschaftlichen Lehrern, wobei hier schwerpunkt-
mäßig auf  die  Lehrer der Chemie  und Anatomie
eingegangen worden ist, begründeten einen natur-
wissenschaftlichen Fundus, der es ihm ermöglichte,
auch Zukunftsvisionen zu gestalten, die zu seiner
Zeit  utopisch waren, heute aber naturwissenschaft-
liche Möglichkeit und Realität sind.
Das Homunculuskapitel im Faust II beruht auf Wis-
sen in der Chemie, Biologie und Medizin. Hier ant-
wortet Wagner auf die Frage Mephistos, was er in
seinem  Labor  gerade  synthetisiert: Es  wird  ein
Mensch gemacht (...) Was man an der Natur Ge-
heimnisvolles pries, Das wagen wir verständig zu
probieren, Und was sie sonst organisieren ließ, Das
lassen  wir  kristallisieren..  Zu  einer  Zeit,  da  das
menschliche Ei der Frau noch nicht entdeckt war,
postulierte Goethe in der Farbenlehre Kapitel Alchi-
misten für den Menschen:
Hier ist ein Ei, ein Sperma,
Mann und Weib,
Vierzig Wochen,
und so entspringt zugleich der Stein der Weisen,
das Universal-Recipe und der allzeitig fertige Cassier.
Goethes Farbenlehre wurde bereits 1810 bei Cotta
in Tübingen gedruckt. Die Publikation der Entde-
ckung des menschlichen Eies erfolgte durch Carl
Ernst von Baer erst 1827! Heute ist es in der Fertili-
tätstherapie  mittels  der  Mikroinjektionstechnik
sogar  möglich,  eine  Eizelle  mit  einem  einzelnen
Spermium zu befruchten.
Die Analyse des menschlichen Genoms im Jahre
2007(!) bedeutet die Entschlüsselung eines Goethe-
schen Urphänomens. Goethes Evolutionsgedanke
der Natur kommt in der Aussage Thales (Faust II)
nach dem Zerschellen des Homunculus am Throne
der Galatae zum Ausdruck. Homunculus muß nun
auf natürliche Weise neu beginnen: Da regst du dich
nach ewigen Normen, durch tausend,abertausend
Formen. Und bist zum Menschen hast Du Zeit.
Alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten
nutzt Goethe, um sein Wissen in den Naturwissen-
schaften zu erweitern und stets auf dem aktuellen
Stand zu halten. Besondere Bedeutung haben für ihn
aber die Experten der Jenaer  Universität, mit denen
er sich kontinuierlich über aktuelle Fragestellungen
austauschen kann. Über die Genugtuung, die der 80-
jährige Goethe hinsichtlich seines Wirkens an der
Jenaer Universität empfindet, berichtet der Prinzen-
erzieher Frederic Soret nach einem Gespräch, das er
im März 1830 mit ihm führte: für Chemie, Botanik
und Mineralogie (…) habe er besondere Lehrstühle
eingerichtet.  Vor  allem  sei  für  das  naturwissen-
schaftliche  Museum  und  die  Bibliothek  von  ihm
manches Gute bewirkt worden.
Die Jenaer Universität war, wie Goethe in seinem
offenen Bekenntnis ausführt, s e i n e  Akademie,
die ihm die Entwicklung seines »wissenschaftlichen
Bestrebens« ermöglicht hat.
Volker Hesse
153
Manfed Geiers Thema, das wir hier nur anreißen
können, ist Goethes Freundschaft mit den so unter-
schiedlichen Brüdern Wilhelm und Alexander von
Humboldt,  die  für  seine  Naturforschungen  eine
wichtige Rolle gespielt haben. Seine Schilderung
setzt  ein  wenige Wochen  nach  dem glücklichen
Ereignis, wie Goethe rückblickend den Beginn sei-
ner  Freundschaft  zu  Schiller  im  Sommer  1794,
nannte.
Wilhelm von Humboldt war schon seit einigen Jah-
ren mit Goethe bekannt. Im Dezember 1789 ist man
sich zum ersten Mal begegnet und beide spüren so-
fort ihre Geistesverwandtschaft. Auch den jungen
Humboldt beschäftigt das philosophische Problem,
wie  sinnliche  Anschauungen  und  intellektuelle
Ideen miteinander vermittelt werden können. Im
März 1794 kommt auch Alexander, der als Ober-
bergmeister in Ansbach tätig ist, nach Jena zu Be-
such und bei einem gemeinsamen Abendessen trifft
er zum ersten Mal Goethe, der sich sofort für die
Arbeiten des jungen Humboldt interessiert.
Ausführlich  läßt  er  sich  über  dessen  praktische
Tätigkeit im Bergbau informieren und über seine
1793 publizierten botanischen Schriften, die Frei-
berger  Pflanzenwelt  betreffend,  ergänzt  durch
Aphorismen aus der chemischen Physiologie der
Pflanzen.
Gesichert ist, daß Goethe diese Werke besaß und
im  Sommer  1794  durchzuarbeiten  beginnt.  Er
stimmt Humboldts Ansichten im Grundsätzlichen
zu. Nur dessen physiologische Definition der »Le-
benskraft« scheint ihm weder klar genug noch aus-
reichend  zu  sein.  Goethe vermißt in  Humboldts
botanischen Werken die Frage nach der Form, die
im Zentrum seiner eigenen Forschungen zur Mor-
phologie der Pflanzen steht. Von zukünftigen Tref-
fen  erhofft  er  sich  vor  allem  eine  Klärung  des
Verhältnisses zwischen Leben und Gestalt.
Zur gleichen Zeit erhält Alexander von Humboldt
einen Brief von Schiller, den er bisher persönlich
noch nicht kennengelernt hat.
Wie Goethe und sein Bruder Wilhelm wird auch er
von Schiller zur Mitarbeit an dessen Zeitschriften-
projekt Die Horen eingeladen. Es freut ihn beson-
ders,  daß  die  botanische  Naturkunde  nicht  aus
diesem literarisch-philosophischen Projekt ausge-
schlossen sein soll, und als hätte er am glücklichen
Ereignis zwischen Schiller und Goethe am 20. Juli
1794  teilgenommen,  verweist  er  einige  Wochen
später brieflich darauf hin, daß die Pflanzenlehre
nicht den elenden Registratoren der Natur überlas-
sen bleiben dürfe, sondern den höheren und weite-
ren  Ideen  folgen  solle.  Ihn  interessieren,  wie  er
Schiller mit einem Blick auf Goethe mitteilt, beson-
ders  die  allgemeine  Harmonie  in  der  Form  der
Pflanzen und das Problem, ob es eine ursprüngliche
Pflanzenform gibt, die sich in tausenderlei Abstu-
fungen darstellt.
Am 17. Dezember findet dann das erste gemein-
same Treffen der Brüder Humboldt mit Schiller und
Goethe statt, wobei vor allem Alexander die Natur-
forschung in den Mittelpunkt des Interesses rückt.
Goethe fühlt sich dadurch wieder zu einer intensi-
ven Naturbetrachtung motiviert. Die Brüder Hum-
boldt bringen ihn dazu, seine pflanzen- und tierbe-
zogenen Studien und allgemeinen naturkundlichen
Ideen wieder aufzugreifen und weiterzuentwickeln.
Dabei findet er nun jenen neuen Begriff, um den all
seine  späteren  Forschungen  und  Überlegungen
kreisen sollen.
Er formuliert sein Prinzip des Typus. So, wie er ein
halbes Jahr zuvor dem erstaunten Schiller mit cha-
rakteristischen Strichen eine symbolische Pflanze
skizziert hat, will er nun den beiden Humboldts im
Dezember  seine  Ideen  über  eine  vergleichende
Anatomie an einem allgemeinen Tier-Typus veran-
schaulichen.
Alexander von Humboldt bleibt für
Goethe hier ein anregender Ge-
sprächspartner,  der  sein  natur-
kundliches  Forschen  und
Nachdenken immer wieder neu
in  Schwung  bringt.  Schon  bald
nach ihrem ersten Treffen in Jena
schickt er Goethe aus Bayreuth seine
mineralogischen Beobachtungen über ei-
nige Basalte am Rhein und seine früheren Studien
zur Botanik. Auch plane er, wie er Goethe mitteilt,
eine  Schrift  über  die Vegetation  im  Inneren  der
Erde, die er  Goethe  zueignen  wolle. Er will das
Leben  der lichtscheuen Pflanzen darstellen, und
Goethe wird ihm antworten, daß er dabei doch bitte
nicht die Form dieser sonderbaren Gewächse außer
acht lassen solle. Es gelte, die physiologischen Le-
bens-Forschungen des jungen Humboldt mit seiner
eigenen morphologischen Gestalt-Lehre zu vermit-
teln.
Prof. Dr. Manfred Geier (Hamburg)
Goethe und die Gebrüder Humboldt
154
Bereits in seinen physiologischen Versuchen zur
gereizten Muskel- und Nervenfaser, die Goethe auf-
merksam verfolgt und ab und zu auch praktisch be-
gleitet, nimmt Humboldt diese Anregung auf. Bei
seinen Experimenten zum galvanischen Fluidum,
die  er  1795  gemeinsam  mit  Goethe  und  seinem
Bruder Wilhelm in Jena unternimmt, versucht er
sich auch an Prinzipien eines gemeinsamen mor-
phologischen Denkens zu orientieren.
Seine vielen Experimente mit den Froschschenkeln,
die zur Erforschung der Lebenskraft dienen, lassen
ihn  auch  deren  Muskeln  sorgfältig  präparieren,
wobei ihm Goethes Programm einer vergleichen-
den  Anatomie  erstaunt  feststellen  lässt: Welche
Übereinstimmung mit dem Menschen! Welche Ähn-
lichkeit der Organisation in Formen, die so weit
von einander abzustehen scheinen.
Die Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse er-
scheinen 1808 in Humboldts Ansichten der Natur,
das ihm lebenslang sein liebstes Buch bleiben wird.
Auch an Goethe und dessen Naturansichten hat er
dabei gedacht. Goethe fühlt sich bestätigt und ge-
schmeichelt. Er schätzt Humboldts Anstrengung,
sinnliche Erfahrung und ganzheitliche Idee mitei-
nander  zu  vermitteln  und  im  sinnlich-geistigen
Doppelsinn von »Ansichten« den Lesern mitzutei-
len.
Doch wie groß wäre erst Goethes Genuß gewesen,
wenn er noch den Kosmos hätte lesen können, die-
ses großartige Bild von der Welt, an dem Alexander
von Humboldt 1834, zwei Jahre nach Goethes Tod,
zu arbeiten beginnt und das ein vollendeter Aus-
druck der Goethezeit ist.
Worauf Alexander von Humboldt als Naturforscher
zielt, vollzieht sein Bruder Wilhelm als Geistes-,
Kultur- und Sprachwissenschaftler. Auch er hat sich
Anfang 1795 in Jena durch Goethes anatomische
Typenlehre begeistern lassen. Er beginnt, Schädel
zu sammeln, skelettiert selbst einen Pfau und findet
kaum  Worte,  Goethe  dafür  zu  danken,  welche
Freude ihm das  gemeinsame Gespräch und For-
schen bereitet.
Ganz in Goethes Sinn geht es ihm vor allem darum,
praktischen Beobachtungssinn und philosophischen
Geist  zusammenspielen  zu  lassen,  um  den
allgemeinen  Typus des  Menschen  als  ein  Ideal
herauszuarbeiten, zu dem sich die einzelnen Indi-
vidualitäten heranbilden sollten.
Doch am stärksten wirken die klassischen Ideen
von 1794/95 in Humboldts eigentlichem Lebens-
werk nach, dessen Programm er am 29. Juni 1820
in der Berliner Akademie vorträgt: Über das ver-
gleichende  Sprachstudium  in  Beziehung  auf  die
verschiedenen  Epochen  der  Sprachentwicklung.
Damit zieht er ein Resümee aus einer zwanzigjäh-
rigen Sprachforschung und legt zugleich die Richt-
linien  einer  sprachwissenschaftlichen  und
philosophischen  Arbeit  fest.  Auch
dabei  folgt  er  programmatisch  den
Ideen, die im Mittelpunkt seiner Ge-
spräche mit Goethe, Schiller und sei-
nem Bruder Alexander standen.
Wilhelm  konzentriert  sich  auf  den
Sprachbau,  sei  es  einer  Einzelsprache  in
ihrer Individualität oder der menschlichen Sprache
überhaupt in der Vielfalt ihrer Gestaltungsmöglich-
keiten. Dabei versucht er diese Struktur auf jene
Weise zu erhellen, die Goethe in seinem Allgemei-
nen Entwurf für eine vergleichende Anatomie vor-
gezeichnet hat.
Zwischenmenschliches Verstehen in entwickelter
Form setzt eine gemeinsame Sprache voraus; und
das  ist  nach  Humboldt  Triebfeder  und  Medium
auch des wissenschaftlichen Fortschritts.
Als ein gemeinsames Vermächtnis der Humboldt-
Brüder können die Sätze Wilhelm von Humboldts
angesehen werden, auf die Alexander im Kosmos
ausdrücklich  verwiesen  hat: Es  die  Idee  der
Menschheit, das Bestreben, die Grenzen, welche
Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feind-
selig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben;
und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf
Religion, Nation und Farbe als einen großen, nahe
verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung eines
Zweckes, der freien Entwicklung innerer Kraft, be-
stehendes  Ganzes  zu  behandeln. Es  ist  dies  das
letzte, äußere Ziel der Geselligkeit und zugleich die
durch seine Natur selbst in ihn gelegte Richtung des
Menschen  auf  unbestimmte  Erweiterung  seines
Daseins.
155
Bettina Fröhlich, die Tochter unseres Schriftfüh-
rers,  verdeutlicht  Goethes  Platon-Rezeption.  Mit
dem griechischen Philosophen, dessen Kernthema
in den frühen Jahren die Frage bildet, wie unzwei-
felhaft gesichertes Wissen erreichbar  ist und wie
man es von bloßen Meinungen unterscheiden kann,
kann Goethe sich zunächst wenig anfreunden.
Erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt entdeckt er
Platons Anschauungen im Bereich der Naturphilo-
sophie und Kosmologie und verarbeitet sie im Faust
II. Großer Beifall für eine Referentin, die als haupt-
berufliche Dozentin der Philosophie zwar über Pla-
ton nahezu alles wußte, doch den Weg zu Goethe
nun notabene erst durch das vereinbarte Vortrags-
thema gefunden hat .
Was Günther  Häntzschels Vortrag  über  Goethe
und Homer betrifft, so geht es bei seinen kennntis-
reichen Ausführungen vielen im Publikum ähnlich
wie Goethe, der in einem Brief aus Neapel 1787
schreibt: Was den Homer betrifft, ist mir wie eine
Decke von den Augen gefallen. Den Vorsatz, doch
zu Hause wieder mal die Ilias, die Odyssee oder an-
dere in den Vorträgen besprochene Werke wieder
mal  aus  dem  Bücherschrank  zu
holen,  setzen  tatsächlich  viele
Mitglieder in die Tat um, wie ich
aus späteren Gesprächen erfahre
und  das  ermutigt  uns,  bei  den
Themen auch etwas entlegenere
Pfade  der   Goethe-Philologie  zu
beschreiten.
Goethes Hafis-Rezeption gehört zwar zu einem eher
gründlich beackerten Feld – nicht zuletzt dank un-
seres  Ehrenmitglieds  Katharina  Mommsen,  die
Jahrzehnte ihrer Forschungen auf den West-östli-
chen  Divan verwandt  hat.  Da  sie  nun  allerdings
ihren Wohnsitz in Kalifornien hat und die Aktualität
des notwendigen Brückenbauens zwischen West-
und Ost in diesem Jahr durch mehrere Vorträge in
arabischen  Ländern  aktiv  unter  Beweis  stellen
wollte, erklärt sich Manfred Osten spontan bereit,
uns die  Aktualität von Goethes Hafis-Rezeption nä-
herzubringen. So führt er aus, daß, wie wenig be-
kannt sei, der West-Östlichen Divan schon vor rund
200  Jahren  höchst  aktuelle  Dialogstrategien  und
Handlungsanweisungen für den Umgang mit dem
Islam  entwickelt habe.
Goethe rühmt Hafis, den großen persischen Dichter
und Mystiker, der es im islamischen Mittelalter be-
reits freisinnig ketzerisch gewagt habe, den Eros,
den Wein, die Liebe, den Rausch poetisch zu feiern.
Osten: Goethe  plädiert  entschieden  dafür,  die
Koexistenz der islamischen und christlichen Mono-
theismen mit ihren universalistischen Ansprüchen
zu  transformieren  in
einen real existieren-
den  »Divan«,  das
heißt,  in  eine  west-
östliche  Gesprächs-
kultur des Friedens.
2010
Goethes Vorbilder
Dr. Bettina Fröhlich (Berlin)
Was Plato von Anbeginn gewußt...
Goethes Platon-Rezeption
Prof. Dr. Günter Häntzschel (München)
Glücklich ist immer die Epoche einer Literatur,
wenn große Werke der Vergangenheit wieder
einmal auftauen...
Goethe zu Homer
Dr. Manfred Osten (Bonn)
und so gleich Dir vollkommen...
Zur Aktualität der Hafis-Rezeption bei Goethe
156
Vor  eine  wesentlich  schwierigere
Rezeptionsaufgabe stellte sein Pu-
blikum im April Hendrik Birus aus
Bremen. Arglos sind die Zuhörer in
die Hessische Landesvertretung ge-
kommen, in der Erwartung, sie wür-
den Erhellendes über die zahlreichen
– das gesamte Werk Goethes bestim-
menden – Einflüsse durch das dich-
terische  Schaffen  Shakespeares
erfahren.
Stattdessen verblüfft der Dozent das
Publikum mit der ausführlichen In-
terpretation  einer  der  bis  dato  na-
hezu  unbekannten  von  Goethe
stammenden  Übersetzung  eines
handgeschriebenen englischen Ge-
dichts von 1604, das dieser in einem
Stammbuch gefunden hatte und des-
sen  Autorenschaft  er  Shakespeare
zuschrieb.
Einer nicht näher beschriebenen Ge-
liebten namens Cynthia gewidmet,
beginnt es mit den Zeilen:
My thoughts are winged with hopes, my
hopes  with  love;  mount  love  unto  the
moon in cleared night and says: as she
doth in heaven move, in earth so vains
and waxeth my delight…
Goethes Übersetzung:
Hoffnung  beschwingt  Gedanken,  Liebe
Hoffnung  / in klarster Nacht hinauf zu
Cynthiens Liebe. / Und spricht: Wie sie
sich oben umgestaltet, / so auf der Erde
schwindet, wächst mein Glück.
Da im Anschluß
an den eigenwil-
ligen Vortrag die
Meinungen  der
Zuhörer  von
»ganz begeistert,
wenn auch nicht
so  recht  das  Thema«  bis  »schwer
verständlich,  sonderbar  reichen«,
sei  im  Folgenden  ein  wenig  aus
Goethes eigener Feder zum Thema
Shakespeare nachgereicht:
Nennen wir nun Shakespeare einen
der größten Dichter, so gestehen wir
zugleich, dass  nicht  leicht  jemand
die  Welt  so  gewahrte  wie  er,  daß
nicht leicht jemand, der sein inneres
Anschauen aussprach, den Leser in
höherm Grade mit in das Bewußt-
sein der Welt versetzt. Sie wird für
uns völlig durchsichtig; wir finden
uns auf einmal als Vertraute der Tu-
gend  und  des  Lasters,  der  Größe,
der Kleinheit, des Adels, der Verwor-
fenheit,  und  dieses  alles,  ja  noch
mehr  durch  die  einfachsten  Mittel
(…) Man  folgt  dem  schlichten
Faden, an dem er die Ereignisse ab-
spinnt.  Nach der  Bezeichnung  der
Charaktere bilden wir uns zwar ge-
wisse Gestalten, aber eigentlich sol-
len wir durch eine Folge von Worten
und Reden erfahren, was im Innern
vorgeht, und hier scheinen alle Mit-
spielenden sich verabredet zu haben,
uns  über  nichts  im  Dunkeln,  im
Zweifel zu lassen.« »Was ein Gemüt
ängstlich verschließt und versteckt,
wird hier frei und flüssig an den Tag
gefördert; wir erfahren die Wahrheit
des Lebens und wissen nicht wie.
Klar verständlich
und  für  jeden
nachvollziehbar
dagegen Alfred
Behrmanns tief-
gründiger  Fähr-
tengang im Mai,
indem  er  die
spärlichen Spuren aufzeigt, die im
Werk  des  alten  Goethe  zu  finden
sind und doch die intensive Beschäf-
tigung  mit Dante  in seinen letzten
Lebensjahren nachweisen.
Besonderes Augenmerk widmet er
den Terzinen im Faust II; auch zeigt
er  Querverbindungen  zu
Dantes Göttlicher Komödie
auf  und  verweist  nicht  zu-
letzt auf die berühmte Szene
vom Hungertod des Ugolino
und seiner Söhne, wohl eine
der grausigsten Szenen der
Weltliteratur. Dantes Phanta-
sie schwelgt hier im Mons-
trösen  und  Furchtbaren;
dennoch  hat  Goethe  diese
Episode zum Höchsten der
Dichtkunst gerechnet.
Prof. Dr. Hendrik Birus (Bremen)
William! Stern der schönsten Höhe
Goethes Shakespeare
Prof. Dr. Alfred Behrmann (Berlin)
Fegefeuer und Paradies Dantes – nachts Terzinen...
Dantes Spuren bei Goethe – ein Fährtengang
Dr. Michael Engelhard (Bonn)
allenfalls das Zarte dazu hätte ich
besser zu machen gewusst...
Der Sprachmeister Goethe als Erbe Luthers
Kanzler  Müller  1827: Übrigens
sprach Goethe von Dante mit aller
Ehrfurcht, wobei es mir merkwürdig
war, daß ihm das Wort Talent nicht
genügte,  sondern  daß  er  ihn  eine
Natur nannte, als womit er ein Um-
fassenderes, Ahndungsvolleres, tie-
fer und weiter um sich Blickendes
ausdrücken zu wollen schien.
157
Im September erfreut uns Christoph Perels, der
langjährige Leiter des Frank-
furter  Goethehauses,  mit
einem  souveränen  Referat
über die Bewunderung Goe-
thes  für  den  Naturphiloso-
phen  Rousseau  und  sein
gleichzeitig  kritisches  Ver-
hältnis zu dem älteren Dich-
ter  als Erzieher. Bereits  der
junge Goethe kennt die Nouvelle Heloise. Schlag-
worte wie »Naturwahrheit«, »Leidenschaft« oder
»Freiheit«, die man im Werther wiederfindet, auch
eine  pantheistische  Naturhaltung,  stammen  ur-
sprünglich von dort. Doch erst in seinen naturwis-
senschaftlichen  Schriften  bekennt  Goethe
Jahrzehnte später, daß ihn die bescheidene Zurück-
zur-Natur-Haltung des Älteren beeindruckt hat: Wer
wollte nicht dem im höchsten Sinne verehrten Jo-
hann Jacob Rousseau. auf seinen einsamen Wande-
rungen folgen, wo er, mit dem Menschengeschlecht
verfeindet, seine Aufmerksamkeit der Pflanzen- und
Blumenwelt zuwendet, und in echter gradsinniger
Geisteskraft sich mit den still reizenden Naturkin-
dern vertraut macht.«
Auch  der  Oktober-Vortrag  ist  quasi  wieder  ein
Selbstläufer. Theo Buck aus Aachen beschreibt in
der ihm eigenen anschaulichen Manier Goethes Ver-
hältnis zu seinen französischen Dichtervorbildern
Moliere, Voltaire und Diderot.
Schon der 12-jährige, der im Frankfurter Theater die
Aufführungen  Molieres in Originalsprache  sieht,
zeigt sich tief beeindruckt vom Esprit, der Bühnen-
wirkung und der Sprachgewandheit des französi-
schen  Dramatikers.  Wenig  später  verfasst  er  in
Leipzig sein erstes Lustspiel. Die Mitschuldigen, die
seine Bemühungen widerspiegeln, es dem großen
Vorbild im Hinblick auf schlagfertige Dialoge und
kunstvoll verschachteltes Bühnengeschehen gleich-
zutun. Goethe über Molière: Es ist nicht bloß das
vollendete  künstlerische  Verfahren,  was  mich  an
ihm entzückt,sondern vorzüglich auch das liebens-
würdige  Naturell,  das  hochgebildete  Innere  des
Dichters. Es ist in ihm eine Grazie und ein Takt für
das Schickliche und ein Ton des feinen Umgangs.
Ausführlich  geht  der  Referent  ein  auf  Goethes
Übersetzungen von Voltaires Tancred sowie sein
Drama Mahomet, das er auf Ersuchen des Herzogs
am Weimarer Theater inszeniert, obwohl er insbe-
sondere mit dem Inhalt und der Charakterisierung
des Propheten in dem Pamphlet Voltaires an vielen
Stellen nicht einverstanden ist.
Diderots  geschliffene  Sprache  schätzt  Goethe
schließlich so sehr, daß er Monate damit verbringt,
einige seiner Stücke zu übersetzen. Über ihn äußert
er: Diderot war nahe genug mit uns verwandt, wie
er denn in alledem, weshalb ihn die Franzosen ta-
deln, ein wahrer Deutscher ist.
Prof. Dr. Christoph Perels (Frankfurt)
Er hält sehr viel von Rousseau,ist jedoch
kein blinder Anbeter desselben
Goethes kritische Verehrung
für Rousseau, den Erzieher
Prof. Dr. Theo Buck (Aachen)
..seit meiner Jugend und während meines
ganzen Lebens habe ich von ihnen gelernt...
Goethes Verhältnis zu Moliere,
Voltaire und Diderot
158
Rousseau
Moliere
Voltaire
Diderot
Im  November  klärt  uns
Manfred  Osten über  Goe-
thes  Spinoza-Begeisterung
auf. Für ihn wird vor allem
Spinozas  Ethik  früh  zur
Offenbarung der Gegenwelt
zur eigenen Ungeduld. Des-
sen  große   Gedanken  zur
Identität  von  Dasein  und
Vollkommenheit, die alle Revolten des Wollens be-
schwichtigen, hat Goethe bereits im Winter 1785
/86 in seiner Studie nach Spinoza zum künftigen
Credo seines Natur- und Kunstverständnisses erho-
ben. Spinozas pantheistische Gotteslehre gipfelt in
dem Satz: Alles, was ist, ist in Gott – mit der Schluß-
folgerung, daß sogar der angeblich freie Wille des
Menschen seine letzte Ursache in Gott hat.
Goethe entdeckt in Spinozas pantheistischer Gottes-
lehre die erlösende Gegenwelt, die sich dem über
eilenden Wollen seiner Zeit verweigert. Bei Spinoza
ist das Wollen völlig beruhigt und kehrt heim zu
Gott. In der Natur geschehe alles notwendigerweise
und in Vollkommenheit, da sie aus Gott hervorgehe,
der selber niemals einen  Zweck verfolgen kann,
denn einen Zweck verfolgen hieße, einen Mangel
kompensieren zu wollen; dies würde aber – so der
Referent  –  der  Definition  der  Vollkommenheit
widersprechen.
In Dichtung und Wahrheit rühmt Goethe Spinoza
mit den Worten: Die alles ausgleichende Ruhe Spi-
nozas kontrastierte mit meinem alles aufregenden
Streben (...) und (...) machte  mich  zu  seinem
leidenschaftlichen Schüler, zu seinem entschieden-
sten Verehrer.
Im Dezember sind wir zu Gast im Winckelmann-
Institut  der  Humboldt-Universität,  wo  wir  –  auf
harten Stühlen, dafür umgeben von lauter antiken
Plastiken  –  den  Ausführungen Volker  Riedels
lauschen. Dieser sucht uns zu vermitteln, wie sehr
Goethe – zunächst als Student in Leipzig sowie vor
allem  während  der  Monate  in  Rom    –  Winckel-
manns Bücher intensiv studiert habe.
1755 gibt Winckelmann seine erste Schrift in einer
Auflage  von  nur  knapp  50  Exemplaren  heraus:
Gedanken über die Nachahmung der Griechischen
Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Dieses
epochemachende Werk  wird  schnell sehr  erfolg-
reich, sodaß er bereits 1756 eine zweite Auflage ver-
öffentlicht.
Für Winckelmann ist es die höchste Aufgabe der
Kunst, die Schönheit darzustellen. Hierfür findet er
die Formel edle Einfalt, stille Größe, welche er dem
Verspielten und Überladenen von Barock und Ro-
koko entgegenstellt.
Eine Besonderheit des Winckelmann’schen Klassi-
zismus liegt in der Bevorzugung des griechischen
Erbes gegenüber der lateinisch-römischen Antike.
Sein Bild der römischen und griechischen Antike
beeinflußt wesentlich den Geist des deutschen Klas-
sizismus; ganz besonders ist die Weimarer Klassik
um Goethe und Schiller ohne Winckelmann nicht
zu denken.
Auch in seiner zweiten Lebenshälfte vertieft sich
Goethe immer wieder in dessen Bücher und verfaßt
1805 die Schrift Winckelmann und sein Jahrhun-
dert, in der er dem eine Generation Älteren
bescheinigt: Er fühlte und kannte das Alterthum, so
wie das Würdige der Gegenwart, des Lebens und
des Charakters.
Die Alten,  besonders  die
Griechen in ihrer besten Zeit
– heißt es hier – hätten dank
einer gleichmäßigen Vereini-
gung aller menschlichen Ei-
genschaften das  glückliche
Loos gehabt,  das  Einzige,
ganz Unerwartete zu leisten.
Während wir Neuen uns fast
bey jeder Betrachtung ins Unendliche werfen, fühl-
ten die Alten, ohne weitern Umweg, sogleich ihre
einzige  Behaglichkeit  innerhalb  der  lieblichen
Gränzen der schönen Welt.
Dr. Manfred.Osten (Bonn)
Notwendige Wahlverwandschaft
Goethes Spinoza-Begeisterung
Prof. Dr. Volker Riedel (Berlin)
Eine solche antike Natur war (...) in
Winckelmann wieder erschienen...
Goethes Blick auf die
»Jahrhundert-Gestalt« Winckelmann
159
Den Auftakt bildet im Januar der Einführungsvor-
trag von Detlev Lüders, dem langjährigen Leiter
des  Frankfurter  Goethehauses,  überschrieben:
Goethes Aktualität. Er zählt noch zu den Referen-
ten  einer Philologen-Generation,  die druckreif
sprechen. Eine kurze Kostprobe seiner Ausfüh-
rungen: Wo sollen wir mit den Fragen nach Goe-
thes Aktualität beginnen? Sein Werk ist kaum zu
ermessen in seiner Weite und seiner Tiefe. Es ist
auf eine wohl beispiellose Weise vielseitig, man
ist versucht, von Einseitigkeit zu sprechen. Das-
selbe gilt für Goethes Existenz im Ganzen. Sie
umfasst, kaum begreiflich, viele Existenzen der
menschlichen Art. Der Dichter, der Zeichner, der
Kunst- und Literatur-Theoretiker, der Theaterdi-
rektor und Schauspieler, der Staatsmann und der
Naturwissenschaftler und zugleich mit alldem der
große Sammler, der Briefschreiber, der Reisende,
der Mensch, dem sein Werk eine tiefe Einsamkeit
auferlegt und der dennoch den größten Sinn hat
für eine ständige Hinwendung zur Welt und zu den
Menschen. (...) Auf fast allen Gebieten menschli-
cher Wirksamkeit, denen er sich zuwendet, kommt
Goethe zu Erkenntnissen von hoher Modernität.
Er ist seiner Zeit weit voraus, ja, aller Vermutung
nach, auch unserer Zeit. Aktualität in dem Sinne,
daß seine maßgebenden Einsichten zumindest auf
der Höhe auch noch heutiger Forschung sind, fin-
den wir überall bei ihm.
Im  Februar  legt  uns Dieter  Borchmeyer ein-
drucksvoll und wortmächtig dar, in welchem er-
staunlichen Umfang Goethe in den letzten beiden
Jahrzehnten  seines  Lebens  sich  für  alle  For-
schungsgebiete seiner Zeit interessierte, mit den
jeweiligen  führenden Vertretern mündlich und
schriftlich in engem Verkehr stand, sich auf dem
Laufenden hielt über naturwissenschaftliche neu-
este Erkennntisse der Chemie, Physik, Anatomie
und Botanik; u.a. engen Kontakt mit den Gebrü-
dern Humboldt pflegte und sich – etwa als Abon-
nement  der  französischen  Literaturzeitschrift
Zeitschrift Le Globe – nicht nur auf dem neuesten
Stand  der  literarischen  und  gesellschaftlichen
  Debatten seiner Zeit befand, sondern sich selbst
daran mit zahlreichen Aufsätzen und Rezensionen
beteiligte und entscheidend dazu beitrug, daß man
in Deutschland begann, über den Tellerrand zu
blicken und sich mit den literarischen Werken aus
anderen Kulturen zu beschäftigen. Im Grunde –
so Borchmeyer – kann Goethe als Vater der Idee
Weltliteratur angesehen werden.
2011
Goethe lebt!
Zur Aktualität eines Autors im 21. Jahrhundert
Dr. Detlev Lüders (Frankfurt am Main)
...denn das Rechte zu ergreifen,
muß man aus dem Grunde leben…
Goethes Aktualität (Einführungsvortrag)
Prof. Dr. Dieter Borchmeyer (München)
Globalisierung und Weltliteratur
Goethes Altersfuturismus
160
Dr. Manfred Osten (Bonn)
der Mensch muß erst seine Organe belehren...
Goethe als Manager unserer Krisen
Prof. Dr. Wulf Segebrecht (Bamberg)
Von Gedichten, aus der Luft gegriffen,
halte ich nichts
Goethe in Gedichten der Gegenwart
Im März erwartet uns Manfred Osten mit einem
selbstredend wieder frei gehaltenen Referat unter
der Überschrift Goethe als Manager unserer Kri-
sen.  Wie  nicht  anders  zu  erwarten:  ein  volles
Haus, ein begeistertes Auditorium angesichts sei-
ner dort vorgetragenen anschaulichen Schilderun-
gen, daß Goethe die heute übliche Geldschöpfung
ohne  Wertschöpfung und  das Schuldenmachen
ohne Deckung bereits u.a. der Kaiserpfalzszene
im Faust II bereits nahezu prophetisch geschildert
habe. Daraufhin der allgemein geäußert Wunsch,
daß  man  dies  gerne  nachlesen  würde,  etwa  in
einer Jahresgabe.
Gesagt, getan: Sie erscheint unter dem Titel Die
kühnsten Kletterer sind konfus. Im Folgenden ein
kurzer Auszug:
Die Faust-Tragödie ist nichts Geringeres als eine
frühe  metaphorische Spiegelung  der vor allem
monetär bestimmten anthropologischen Krisen
unserer Zeit. Gespiegelt sind hier freilich nicht nur
unsere Krisen; vielmehr wird durch deren Folie
noch ein anderer Text sichtbar in Gestalt lakoni-
scher Hinweise einer möglichen Therapie dieser
Krisen.
Wie aber hat Goethe diese Krisen und deren the-
rapeutischen Subtext im zweiten Teil des Faust
gespiegelt? Wir betreten im 1. Akt den Hof des
Kaisers. Es herrscht hier die Situation westlicher
Industrienationen:  grenzenloser  Egoismus  und
Ratlosigkeit,  gepaart mit den  Phänomenen des
drohenden Staatsbankrotts. Der Kaiser muß er-
kennen: Subsidien bleiben aus, ein jeder kratzt
und scharrt und sammelt und unsere Kassen blei-
ben leer. Es droht die Erosion der Existenzbe-
rechtigung  des  Staates.  Das  kaiserliche  Reich
präsentiert sich mit seinen ratlosen Funktionseli-
ten schon damals als moderner Sanierungsfall.
Wegen Überschuldung ist das Staatswesen nicht
mehr in der Lage, die Daseinsvorsorge zu leisten,
die ihm bei seinen Bürgern Legitimation und Au-
torität verschafft. (…) Auf dem Höhepunkt der
Staatskrise dient sich Faust als Consultant und
Haushaltsexperte an. Mit dem Trick ungedeckter
Schuldverschreibungen empfiehlt er rasche gren-
zenlose Geldvermehrung zur Aufrechterhaltung
des Staates und des Wohlwollens seiner Bürger
als  Subventionsempfänger.  Der  Staatsbankrott
schreitet auch hier bereits voran mit der parado-
xen Formel: Wir wollen alle Tage sparen, und
brauchen alle Tage mehr. (Die Broschüre ist ver-
griffen, aber als Digitalisat vorhanden)
Im April erwarten uns Wulf Segebrechts Ausfüh-
rungen über Goethe in Gedichten der Gegenwart,
die er mit zahlreichen Beispielen würzt. Ursprüng-
lich hatte ich erwartet, er werde mit seinen Darle-
gungen verdeutlichen, inwieweit Goethe-Sprache
und die Eigentümlichkeit und Originalität seiner
Wortbilder Niederschlag in das lyrische Werk nach-
geborener  Dichter-Generationen  gefunden  habe;
dies erweist sich als Irrtum. Zu konstatieren bleibt
aber unter dem Strich, daß es – neben den zahlrei-
chen bekannten Parodien, insbesondere des Erlkö-
nig und Wanderers Nachtlied – bei vielen Epigonen
meist nur zu sprachlichen Lyrik-Verballhornungen
gereicht hat. Dies legt der Referent überzeugend dar
und dem Auditorium bleibt die Erkenntnis, daß es
– vor allem im 20. Jahrhundert – doch nicht so viele
waren, die Goethe in punkto Lyrik das Wasser rei-
chen konnten.
161
Eine  ganz  andere  Art  von  Vortrag,  eher  eine
Vorlesung,  erwartet  uns  im  Mai  von  unserem
Mitglied Ekkehart  Krippendorff,  der  erneut
Goethes Tätigkeit als Geheimer Rat und späterer
Staatsminister sowie seine diesbezüglichen Äu-
ßerungen und Handlungen auf ihre Anwendbar-
keit  für  heutige  politische  Konstellationen
abklopft.
Dort  wo  Manfred  Osten  sein
unerschöpfliches  Reservoir  an
Zitaten  gleichsam  aus  dem
Ärmel schüttelt, holt Ekkehart
Krippendorff dafür mit Merk-
zetteln versehene Bücher aus
dem mitgebrachten Rucksack.
Diese Spontanität ist immer
wieder erfrischend und ver-
mittelt  dem  Zuhörer  den
Eindruck,  als  hätte  er  die
  zitierte Goetheäußerung, die seine Ausführung
belegt,  gerade  am  Vorabend  entdeckt.  Dieses
Goethe immer wieder neu entdecken ist ja Krip-
pendorffs Spezialität und sollte auch die Maxime
bleiben, von der wir uns weiterhin leiten lassen.
Unter dem Titel: »Goethes progressive Haltung
zu Liebe, Ehe und Familie am Beispiel seines
Dramas Stella« spannt Hans-Hellmut Allers im
September  einen  ausführlichen  biografischen
Bogen von der ersten Liebe des 14-jährigen Goe-
the zu dem 16-jährigen Gretchen bis zur 17-jäh-
rigen Ulrike von Levetzow, die der 74-Jährige
sechs Jahrzehnte später ernsthaft zur Braut be-
gehrt. Vor allem widmet er sich jedoch Goethes
Jugenddrama Stella, in dem sich der Protagonist
Fernando nicht zwischen zwei Frauen entschei-
den kann, sondern doch eigentlich immer beide
benötigt: Die mütterlich Verstehende und die ju-
gendliche Geliebte; einer der wenigen Fälle, in
der Goethe sich ausnahmsweise der herrschenden
Konvention  beugen  und  umschreiben  muß.
Ansonsten bleibt seine Liebeslyrik auch im 21.
Jahrhundert für uns Heutige so aktuell, wie sie es
zu allen Zeiten war.
Mit ihrem Vortrag Zur Aktualität von Goethes
Wahlverwandtschaften greift sich die Literatur-
wissenschaftlerin und ZEIT-Journalistin Elisa-
beth  von  Thadden im  Oktober  einen  völlig
neuen Aspekt dieses Romans des reifen Goethe
heraus. Wie die meisten von uns bisher meinten,
handeln die Wahlverwandtschaften von den The-
men Ehe und Beziehungen unter besonderer Be-
rücksichtigung des Fremdgehens.
Dies, so die Referentin, stelle lediglich die Rah-
menhandlung dar; in Wahrheit gehe es in Goethes
Roman um Übereilung, Mode und Verdrängung
der  Gegenwart als Symptome eines verfehlten
Zeitbewußtseins.
Ihre Interpretation bietet bei der sich anschließen-
den Debatte und den folgenden Gesprächen beim
Wein naturgemäß viel Diskussionsstoff.
Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff (Berlin)
Welche Regierung die beste sei?
Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren
Die Entdeckung des politischen Goethe
Hans-Hellmut Allers (Berlin)
Nimm ihn ganz, jeder soll ihn haben!
Goethes vormoderne Haltung zu Liebe, Ehe
und Familie u.a. am Beispiel seines Dramas Stella
Dr. Elisabeth von Thadden (Hamburg)
Lässt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen...
Zur Aktualität von Goethes Wahlverwandtschaften
162
Am 27. März 1784 entdeckt Goethe den mensch-
lichen Zwischenkieferknochen und schreibt noch
am gleichen Tag an Herder: Ich habe gefunden
weder Gold noch Silber, aber (...) das os interma-
xillare beim Menschen. Nun bitt‘ ich Dich, laß
dich nichts merken, denn es muß geheim behan-
delt werden.
Im November veranschaulicht Volker Hesse uns
erneut die aktuelle Bedeutung von Goethes natur-
wissenschaftlichen Forschungen. Gleichviel, ob
es sich um seine Begeisterung handelt beim Er-
kennen der Existenz des Zwischenkieferknochens
oder um sein lebenslanges Studium physikali-
scher,  chemischer,  anatomischer,  biologischer,
morphologischer und anderer naturwissenschaft-
licher Zusammenhänge.
Bei all jenen unter den Zuhörern, die sich in der
Regel in erster Linie mit Goethes literarischem
Werk beschäftigen, löst die Reichhaltigkeit des
Goethe’schen Geisteskosmos und die Intensität
der Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen
Phänomenen immer wieder ungläubiges Erstau-
nen aus.
Zum Jahresende stellt Michael Jaeger die Ergeb-
nisse seiner umfangreichen, 600 Seiten starken
Habilitationsschrift Fausts Kolonie vor. Die 2005
erschienene Studie zeigt Faust nicht wie in der
bisherigen bejahenden Wirkungsgeschichte der
Goethe’schen Tragödie als prometheischen Men-
schen, dessen immerwährendes strebendes Be-
mühen  bislang  als  höchste  Tugend  des  sich
emanzipierenden  Menschen  angesehen wurde:
vorwärtsgerichtet in seinem unstillbaren Wissens-
durst, tatkräftig, leidenschaftlich und selbstbe-
wußt  trotz  aller  melancholischen  Zweifel,
vorbildlich in seinem rastlosen Drang nach Ver-
vollkommnung, auch wenn er selbst und andere
darunter zu leiden haben. Eine zwar tragische,
also mit Schuld behaftete Figur, aber eben doch
ein Held, mit dem man sich identifizieren kann.
Nach Jaegers Lesart ist Goethes Protagonist nun
das genaue Gegenteil von alledem; er interpretiert
Faust als wandelnde Negation aller Goethe’schen
Zivilisationsideale.  Der  nervöse  Gelehrte  und
spätere Kolonisator setzt sich schließlich über alle
Regeln klassischer Lebenskunst und Mäßigung
hinweg. Seine rücksichtslosen Kolonisierungs-
pläne ignorieren alles Bewährte und Gewachsene
und bewirken die Unterwerfung von Natur und
tradierter Kultur.
Goethe habe – so Jaeger – in die Faustfigur alles
gesteckt, was ihm am veloziferischen Unwesen
der Moderne nicht geheuer war – dieser sei des-
halb in seiner nervösen Getriebenheit mitnichten
eine Identifikationsfigur, vielmehr stelle er einen
abschreckenden gewaltbereiten Charakter dar in
einer Zeit, in der Goethe voller Unbehagen die
fortschreitende Industrialisierung und das Herauf-
kommen der französischen Saint-Simonisten und
deren Menschheitsbeglückungs-Phantasien ver-
folgte. Das Auditorium ist beeindruckt und  so
manch einer beschließt, daheim endlich mal wie-
der den Faust II zur Hand zu nehmen, um ein
wenig von dem nachvollziehen zu können, was
man da gerade gehört hat.
Prof. Dr Volker Hesse (Berlin)
Goethes naturwissenschaftliche Forschungen und
ihre aktuelle Bedeutung
PD Dr. Michael Jaeger (Berlin)
Fausts Weltkolonisation – Zur Aktualität Goethes
163
Das Thema, auf das wir uns einlassen wollen – die
Sprache Goethes, ihr Reichtum und ihre Spezifik,
ihre bis in die Gegenwart wirksame Produktivität
und Lebendigkeit – dieses Thema ist, wie man sich
denken kann, kein triviales.
Inzwischen ist im Zusammenhang mit der Erarbei-
tung des Goethe-Wörterbuchs klar geworden, daß
Goethe mehr als 90.000 verschiedene Wörter be-
nutzt  hat  –  die  weltweit  größte  bisher  bekannte
Wortanzahl eines einzelnen Autors! Schon die jün-
geren literarischen Zeitgenossen, allen voran die
Romantiker,  wußten  Reichtum  und  Qualität  der
Goetheschen Sprache hoch zu schätzen.
Von besonderem Gewicht sind die Urteile der Brü-
der Grimm, die als Begründer und Vertreter einer
historisch ausgerichteten Sprach- und Literaturfor-
schung zugleich auch Teilhaber und kritische Be-
obachter  ihrer  Zeitsprache  waren.  Jacob  Grimm
schreibt 1835: Seine ganze Poesie quillt unmittelbar
aus der Natur hervor (...). Auf unsre Sprache hat er
unberechenbaren  Einfluß  geübt;  er  hat  viel  neue
Wörter nicht erfunden, nur entdeckt.
Und in seiner Rede auf Schiller 1859 spricht Jacob
Grimm geradezu von einem mustergültigen canon,
zu dem sich Goethes Prosa entwickelt habe, und
seine Poesie gebe überall die reinste Ausbeute.
Versuchen wir einen näheren Eindruck von der Phy-
siognomie der Goethe-Sprache zu erhalten. Dazu
verweise ich auf eine Präsentation des Unterneh-
mens Goethe-Wörterbuch,  bei  der wir  auf soge-
nannten Wortbannern die in langen alphabetischen
Wortketten selektiv und typographisch verschiede-
nen Auszüge des Goetheschen Wortschatzes zwi-
schen Aalschlachten und zypresseragend
veranschaulichten.
Auf den ersten Blick sieht der Betrachter Einfach-
wörter und Zusammensetzungen/Ableitungen; hei-
mische  Wörter  und  Fremdwörter;  Wörter  mit
speziellen Stilmerkmalen, sachlich-beschreibende
und emotional-wertende Bezeichnungen, Gehobe-
nes, Poetisches, Saloppes, Scherzhaft-Ironisches,
Polemisches, Grobes,  Deftiges  u. a.; Wörter  aus
Fach-  und  Sondersprachen  sowie   literarische
Namenssetzungen. Jedes Wort mit einem Hof von
Assoziationen und in einem Feld verschiedener syn-
tagmatischer Partnerbeziehungen.
Ein sehr großer Teil dieser Wörter, nämlich nahezu
zwei Drittel, kommt in der ganzen  Goethe’schen
Schriftenmasse nur ein- bis dreimal vor; namentlich
als Ausdrucksformen genauer, einprägsamer Sach-
beschreibung  wie  bildhaft-poetischer Weltaneig-
nung.  Im  Folgenden  einige  charakteristische
Beispielgruppen aus verschiedenen Bereichen, etwa
präzise Charakterisierungen aus vorwiegend wis-
senschaftlichem  Zusammenhang: geblättert,  ge-
buckelt,  gefingert,  gefranst,  gerieft,  gerippt,
geschnäbelt, gezähnelt;
Poetische  Bildungen  wie Glanzfest,  Glanzfeuer,
Glanzgewimmel;  Geisterflut,  Geisterfülle,  Gei-
sterduft, Geistertiefe – man beachte die Assoziati-
onsvielfalt schon bei bloßer Nennung des einzelnen
Wortes –; daneben komplexere Bildungen wie Flü-
gelflatterschlagen,  Knabenmorgenblütentraum,
Fremdlingsreisetritt, Brandschandemalgeburt; fer-
ner – ganz andere Bezirke – Fachwörter aus der
handwerklich-technischen  Sphäre: Gipsformen,
Glasbrennen,  Goldputzen;  Glasfritte,  Glättstein,
Glockenspeise;  Rechts-  und  Verwaltungstermini
wie Freibauer, Ganerbschaft, Gewährschein, Ge-
leitsrevenue, Giltbrief.
An dieser Stelle wird deutlich, daß das Goethesche
Sprachwerk  zwar  stark,  doch  keineswegs  aus-
schließlich aus der Welt der Dichtung lebt. Es of-
fenbart  sich  vielmehr  in  unterschiedlichsten
Anwendungsbereichen: im privaten, ungezwunge-
nen Alltag, in der Sphäre von Wissenschaft und Kri-
tik,  im  Geschäfts-  und  Amtsbereich.  Goethes
Sprache ist damit nicht nur Dichtungssprache, son-
dern entfaltet sich als ein vielgestaltiges Ensemble
von Ausdrucksmitteln  und  Erscheinungsformen:
vom persönlich gefärbten Alltagsausdruck bis zum
strengen Duktus wissenschaftlicher Sprache, vom
konventionell geprägten Amts- und Kurialstil bis
zur in sich vielfach geschichteten schöpferischen
Poesiesprache.  Ein  Miteinander  verschiedenster
Sprachvarietäten, Funktional- und Gattungsstilen
bzw. Textsorten.
Um diesen Reichtum wenigstens andeutend zu ver-
anschaulichen, greife ich zu Textbeispielen aus der
Werther-Zeit, in der eine erstaunliche literarische
Produktivität zutage tritt. Der Roman Die Leiden
des jungen Werthers von 1774 gilt als ein Muster
empfindsamer, teils natürlich-redesprachlicher, teils
auch  leidenschaftlicher,  an  Höhepunkten  rhyth-
misch  gesteigerter  Sprache.  In  ihm  kommt  aus-
drücklich auch der Gestaltungswille des Titelhelden
selbst zu Wort, wenn er sich über die stilistische
Pedanterie  des  Gesandten,  seines  zeitweiligen
Dienstherrn, beklagt: Ich arbeite gern leicht weg,
und wie’s steht so steht’s, da ist er im Stande, mir
einen Aufsaz zurükzugeben und zu sagen: er ist gut,
Dr. Josef Mattausch (Leipzig)
Reichtum und Maßstab
Vom Leben der Goethe-Sprache
164
aber sehen sie ihn durch, man findt immer ein bes-
ser Wort, eine reinere Partikel. Da möcht ich des
Teufels werden. Kein Und, kein Bindwörtchen sonst
darf aussenbleiben, und von allen Inversionen die
mir manchmal entfahren, ist er ein Todtfeind. Wenn
man seinen Period nicht nach der hergebrachten
Melodie  heraborgelt;  so  versteht  er  gar  nichts
drinne.
Anders  die  Diktion  des  zwei  Monate  nach  dem
Werther entstandenen Trauerspiels Clavigo: treff-
sichere,  pointierte  Dialogreden,  die  an  Lessing
erinnern,  an  dramatischen  Umschlagpunkten
leidenschaftlich-kraftgenialische Ausbrüche.
Ebenfalls aus dem Frühjahr 1774 stammen die bur-
lesk-volkstümlichen  Knittelverse  des  Eposfrag-
ments Der ewige Jude: Um Mitternacht wohl fang
ich an / Spring aus dem Bette wie ein Toller; / (...)
Und ich – mir fehlt zu Nacht der Kiel / Ergreiff wohl
einen Besenstiel«
Von Lyrik fällt in die Werther-Zeit u. a. die frei-
rhythmische  religiös-hochgestimmte  Hymne
Ganymed: »Wie im Morgenroth du rings mich / An-
glühst, Frühling Geliebter! ...«
Wenig später die volkstümlich-bänkelsängerische
Ballade »Es war ein Buhle frech genung, / War erst
aus Frankreich kommen, / Der hat ein armes Maidel
jung / Gar offt in Arm genommen; / Und liebgekoßt
und liebgeherzt; / Als Bräutigam herumgescherzt; /
Und endlich sie verlaßen.«
Die Briefe, in der alten Weimarer Ausgabe allein 50
Bände umfassend, sind es, die neben der Dichtung
das reichste  Material  zu  unserem Thema  bieten.
Unter ihnen vor allem die spontanen, aus dem Au-
genblick geborenen, oft flüchtig hingeworfenen Ge-
fühlsergüsse.
Als Goethe 1776 wieder, nun schon aus Weimar,
nach Leipzig kommt, entlädt sich seine inzwischen
gewonnene  kritische  Distanz  in  einer  Kaskade
geist- und spottsprühender Expressivbildungen mit
Anleihen auch aus dem Umgangssprachlichen und
Dialektalen: da bin ich nun. in Leipzig, ist mir son-
derlich  worden  beym  Nähern  ...  und  kann  nicht
genug sagen wie sich mein Erdgeruch und Erdgefühl
gegen die schwarz, grau, steifröckigen, krumbeini-
gen,  Perrückengeklebten,  Degenschwänzlichen,
gegen  die  Feyertags  berockte,  Allmodische,
schlanckliche,  vieldünckliche  Studenten  Buben,
gegen die Zuckende, krinsende, schnäbelnde, und
schwumelende Mägdlein, und gegen die Hurenhaffte,
strozzliche, schwänzliche und finzliche Junge Mägde
ausnimmt, welcher Greuel mir alle heut um die Tho-
ren als an Marien Tags Feste entgegnet sind.
(An Herzog Carl August am 25. März. 1776)
Ich werfe einen Blick noch auf ein wenig beachtetes
Gebiet: auf das Feld der poetischen Namen.  Goethe
wußte um die Bedeutung der Namen und setzte sie
mit Bedacht. Nach Hochrechnungen am Goethe-
Wörterbuch ist bei Goethe mit gut 1000 literari-
schen Figurennamen zu rechnen.
Ein erheblicher Teil von ihnen ist aus Geschichte,
Mythos  und  Literatur  übernommen.  Den  Kern-
bereich produktiver Namengebung bilden jedoch
diejenigen Benennungen, für die sich solche Bezug-
nahmen auf  vorgegebene  Personen oder Figuren
nicht nachweisen lassen. Ob eigene Namenbildung
des Autors oder Nutzung vorgefundener Namen –
stets handelt es sich um bewußte, willentliche Set-
zungen.
Beispiele: Klassifizierende Namen ordnen die be-
nannten Figuren bestimmten Gruppen oder Berei-
chen  zu;  einer  bestimmten  sozialen  Schicht
(Annchen, Anne, Bärbel, Bärb(el)chen für Mädchen
niederen  Standes  und  Dorfweiber,  Agathe  (‚die
Gute‘) als Rufname für ein ehrbares Bürgermäd-
chen); oder der Konvention einer bestimmten lite-
rarischen  Strömung  (Chloris,  Climene,  Damon,
Egle als Namen für Angehörige der empfindsam-
anakreontischen Welt).
Eine  weitere  Gruppe  bilden  Namenformen,  die
klanglich-ästhetisch motiviert sind, wohlklingende,
euphonische  Namen  (Almidoro,  Balandrino, Al-
maide, Almeria) und andererseits komische Spott-
und Schimpfnamen (Schwerdtlein, Spritzbierlein);
gehäuft im Katalog derb-satirischer Namen in der
Farce Hanswursts Hochzeit, Ausdruck kritischen
Unbehagens an der wohlanständigen Frankfurter
Bürgerwelt:  Saufaus,  Vollzapf,  Matzfotz  von
Dresden,  Quirinus  Schweinigel,  Reckärschgen,
Schnuckfözgen, Schnudelbutz, Dr. Bonefurz usw..
Fülle und Vieldimensionalität dieser Sprache sind
nun freilich das Ergebnis eines mehr als 65-jährigen
Autorlebens. Sie  entfalten  sich  in einem histori-
165
schen  Ablauf,  in  mehreren  Entwicklungsstufen,
dem wir hier in einem zweiten Schritt nachzugehen
haben.
Der Frankfurter Knabe wuchs auf in einem alter-
tümlich-regional  gefärbten  Sprachmilieu.  In  der
Leipziger Studentenzeit nahm er den fortgeschrit-
tenen Sprachstandard seiner Zeit auf, nämlich die
in den kursächsischen Städten und besonders auch
in der Aufklärungsmetropole Leipzig ausgebildete
Literatur- und Gesellschaftssprache.
Eine rigoros neue Stufe markiert dann die Sprach-
gebung der Geniezeit, die vom jungen Goethe nun
aktiv mitbestimmt wird: radikale Öffnung und Be-
reicherung durch volkssprachliche Ausdrucksmittel,
sehr eigenständige Wortbildungen und freie syntak-
tische Strukturen. Es dominiert ein ursprüngliches,
ungebrochenes  Sprachgefühl,  das  der  eignenen
Schöpferkraft und der Kraft des Wortes vertraut.
Es wächst aber auch Kritik an der Sprache. Ein zeit-
weilig  heftiger  Zweifel  am  Deutschen  in  seiner
Tauglichkeit als Poesiesprache tut sich kund in dem
bekannten  Diktum: verderb’  ich  unglücklicher
Dichter  /  In  dem  schlechtesten  Stoff  leider  nun
Leben  und  Kunst. (Venezianische  Epigramme).
Mehr noch, allgemeine Sprachskepsis tritt hervor:
Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste.
Das  Beste  wird  nicht  deutlich  durch  Worte,  so
verkündet Wilhelm Meisters Lehrbrief.
Zwar sieht und anerkennt der spätere Goethe die zu
seinen Lebzeiten erreichte vielseitige Ausdrucksfä-
higkeit des Deutschen, die es zumal zur Überset-
zungssprache  und  damit  zur  Mittlerinstanz  in
seinem Konzept der Weltliteratur tauglich macht.
Gleichzeitig aber wahrt er gegenüber bestimmten
Entwicklungstendenzen in der Literatursprache zu-
nehmend kritische Distanz.
Schon  im  Schema  über  den  Dilettantismus  von
1799  ist  die  Rede  von zusammengeplünderten
Phrasen und Formeln, die nichts mehr sagen, und
ganzen Büchern, die schön stilisiert sind und gar
nichts enthalten.
Gegen die semantisch entleerte, flächige Konventi-
onssprache der Zeit steht nun sein ausgeprägt indi-
vidueller,  einzigartiger  Altersstil,  der  sich  aller
Ausdrucksregister bedient und in souveräner Frei-
heit Verschiedenstes verbindet: Persönlichstes und
Allgemeinstes.  Hochpoetisches  und  Formelhaft-
Stereotypes, Vertrautes und Fremd-Befremdliches.
Als wesentliches Merkmal tritt hinzu: Die in der
klassischen Periode geübte Sicht auf das Gesetzli-
che,  Allgemeingültige  gewinnt  zunehmend  eine
neue Dimenson. Für die Altersweltanschauung wer-
den die Phänomene zu bedeutungsvollen Symbolen,
deuten zugleich auf ein Eigentliches, Höheres, Wah-
res (wie Goethe sich ausdrückt).
Entsprechend gewinnt die Poesiesprache an eigen-
tümlichem Mehrwert. Einerseits bleibt sie als bild-
haft-anschauliche  Ausdrucksform  nahe  beim
Gegenstand, andererseits verweist sie beziehungs-
reich-symbolisch über ihn hinaus. Im Divan-Ge-
dicht Wink hat Goethe diese Doppelfunktion des
dichterischen Wortes im Bild des Fächers veran-
schaulicht:
... daß ein Wort nicht einfach gelte,
Das müßte sich wohl von selbst verstehn.
Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben
Blicken ein Paar schöne Augen hervor.
Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor,
Er verdeckt mir zwar das Gesicht;
Aber das Mädchen verdeckt er mir nicht,
Weil das Schönste was sie besitzt,
Das Auge, mir in’s Auge blitzt.
Angesichts dieses bewegten Erscheinungsbildes der
Goethe-Sprache  mit  ihren  vielfältigen  Entwick-
lungsstufen stellt sich die nach dem Bleibendem in
seinem Sprachwerk. Gibt es Merkmale, die das Bild
dieser Sprache durchgehend prägen? Die Antwort
muß  anknüpfen  an  die  vorhin  zitierten  sprach-
166
kritischen Äußerungen. Goethe hat, seitdem er über
Sprache  zu  reflektieren  begonnen  hatte,  immer
wieder Anstoß genommen an Vagheit und Phrasen-
haftigkeit, an sprachlicher Fahrlässigkeit überhaupt.
Bekenntnishaft drückt sich das aus anläßlich der
Übersetzungsnöte beim Lebensbericht des Renais-
sancekünstlers Benvenuto Cellini: Da ich mich in
meinem  Leben  vor nichts  so sehr  als  vor  leeren
Worten gehütet, und mir eine Phrase, wobei nichts
gedacht oder empfunden war, an andern unerträg-
lich, an mir unmöglich schien, so litt ich bei der
Übersetzung des Cellini, wozu durchaus unmittel-
bare Ansicht gefordert wird, wirklich Pein.
Kennzeichnend  an  Goethes  Sprachpraxis  ist ein
genauer, bedachtsamer sach- und situationsgerech-
ter, auch partnerbezogener Sprachgebrauch. Das
Bemühen um  adäquate Ausdrucksweise spiegelt
sich in der Grundsatzaussage: Wir haben das unab-
weisliche, täglich zu erneuernde, grundernstliche
Bestreben,  das  Wort  mit  dem  Empfundenen,
Geschauten, Gedachten, Erfahrenen, Imaginirten,
Vernünftigen  möglichst  unmittelbar  zusammen-
treffend zu erfassen.
Über den Wert eines Wortes entscheidet sein Gehalt,
seine Treffgenauigkeit, nicht aber seine Herkunft.
Goethe ist ein erklärter Gegner einseitig puristischer
Sprachreinigungs-Bestrebungen: Ich verfluche allen
negativen Purismus, daß man ein Wort nicht brau-
chen soll, in welchem eine andere Sprache Vieles
oder  Zarteres  gefaßt  hat. Für  teutschtümelnde
Fremdworthatz ließ er sich – wie auf anderen Ge-
bieten auch – nicht vereinnahmen.
Vielmehr  erscheinen  als  charakteristische  Merk-
male seiner Texte Klarheit, bildhafte Anschaulich-
keit, Angemessenheit,  eine  aus  dem  Innern  flie-
ßende Natürlichkeit, von der auch die maßvolle Me-
taphorik bestimmt ist, die oftmals zu eigentümlicher
Prägnanz  gesteigert  wird.  Goethe  erweist  sich
immer wieder als der Neue, Überraschende, Pro-
duktive, bei dem auch kleinere Werke und Neben-
arbeiten sozusagen nicht auf Serie gearbeitet sind,
sondern jeder Text einen eigenen Ansatz bildet und
seinen eigenen Stil besitzt.
Diese beständige Produktivität, die aus der Tradi-
tion schöpfend zu immer neuen Aus- und Weiterge-
staltungen führt, hat zur Folge, daß sich Goethes
Sprache der einfachen Verfügbarkeit entzieht.
Trifft die auf Grimm zurückgehende alte These der
Sprachhistoriker wirklich zu, die sogenannte »Klas-
sikersprache« habe die allgemeine Hoch- und Stan-
dardsprache der Folgezeit maßgeblich bestimmt?
Die heutige Hochsprache also im Gefolge der lite-
rarischen Klassiker?
Man muß hier sehr vorsichtig sein. Bereits in der
Goethezeit breiten sich literarische Konkurrenzfor-
men aus, die die Reichweite der Klassikerliteratur
einschränken, etwa das epigonale Schrifttum, das
bereits Goethe kritisch im Blick hatte; vor allem
aber die grassierende bürgerliche Unterhaltungsli-
teratur, die nurmehr der Befriedigung oberflächli-
cher Konsumbedürfnisse dient.
Revolutionäre und kriegerische Zeitläufte wecken
zudem das Interesse breiter Schichten an aktueller
Berichterstattung  und  befördern  in  Schüben  das
Umsichgreifen eines neuen Mediums: der Presse.
Eine Gattung, die von Goethe ebenfalls mit kriti-
schem  Vorbehalt  betrachtet  wurde:  die  Tages-,
Wochen- und Monatsblätter hätten die böse Art, daß
sie sehr oft die höchsten Worte, mit denen nur das
Beste bezeichnet werden sollte, als Phrasen anwen-
den, um das Mittelmäßige oder wohl gar Geringe
zu maskiren.
(an Boisserée am 26. Juni 1811)
.
In  den  Vordergrund  treten  jetzt  die  Ausdrucks-
formen  des politischen  Zeitalters mit  seinem
modernen operativen  Stil,  der  Schönheit  und
Freiheit zu vermitteln trachtet. Zunehmende über-
lokale Kommunikation und aufkommende Indu-
strialisierung  lassen  zudem  die  Bedeutung  von
Umgangssprache  und  Fachsprache  stark  an-
wachsen.
In diesem neuentstandenen Kräftefeld bildet die
überkommene Literatursprache, und damit auch die
Sprachleistung Goethes, nurmehr einen Teilstrom,
dennoch  in  ihren  Wirkungen  deutlich  wahr-
nehmbar:  aus  ihrem  Reichtum  unmittelbar  und
kraftvoll spendend, zugleich aber auch – vielfältig
vermittelt  (durch  Schule  und  Bildungstradition,
durch epigonales und unterhaltendes Schrifttum) –
sich modifizierend, abflachend und verbrauchend.
Ihre latent vorhandenen Fermente sind auch für uns
Heutige aufrufbar und in lebendigen Begegnungen
mit den großen Literaturwerken der Vergangenheit
fruchtbar zu halten. Selbst als reines Sprachwerk
bleibt die Goethesche Hinterlassenschaft auch in
der  Gegenwart  ein  unerschöpfliches  Reservoir:
Bereicherung, Anregung, produktive Herausforde-
rung;  Beispiel  zugleich  für  den  bewußten,
verantwortlichen  Umgang  mit  dem  kostbaren
Kulturgut  Sprache.  Sich  auf  dieses  Erbe  ein-
zulassen,  gewährt  stets  aufs  neue  Gewinn  und
Genuß!
(Auszug aus Josef Mattauschs Vortrag)
167
2012  
Goethes Weltsicht und ihre Aktualität
Prof. Theo Buck (Aachen)
Daß dein Leben Gestalt, dein Gedanke Leben gewinnt,
Laß die belebende Kraft stets auch die bildende sein...
Goethe heute
Dr. Manfred Osten (Bonn) und
Dr. Sahra Wagenknecht (Berlin)
Podiumsgespräch
Über den Eigentumsbegriff bei Goethe
Den Auftakt macht im Januar Theo Buck mit sei-
nem Vortrag Goethe heute; er hatte bereits Ende
2010 den Finger gehoben, als ich erwähnte, wir
beabsichtigten, dem Goethe lebt!-Programm noch
ein weiteres folgen zu lassen. Seine wie immer
anschaulichen  Darlegungen  kreisen  um  sechs
Schwerpunkte in Goethes Denken und Handeln,
die ihm im Laufe seiner 82 Lebensjahre zur Ma-
xime geworden waren: Wechselbeziehung Ma-
krokosmos/Mikrokosmos; die Ablehnung allen
dogmatischen Denkens; Ablehnung der Eile; Er-
kenntnis der produktiven Entsagung; Vorbild der
Kunst; Notwendigkeit  gesellschaftlicher Interak-
tion; Goethe als Weltbürger.
Im März folgt dann – vor ausgebuchtem Saal –
die Podiumsdiskussion mit Sahra Wagenknecht
und Manfred Osten unter dem Titel Faust – ein
Frühkapitalist? Hatte ich zuvor einige Skepsis
aus dem Kreis der Mitglieder vernommen, warum
wir denn zum Eigentumsbegriff bei  Goethe diese
Kommunistin einladen müssten,
so waren die Reaktionen im Anschluß an Frau
Wagenknechts  Ausführungen,  die  bei  Goethe
durchaus sattelfest  erscheint,  überwiegend  zu-
stimmend. Allerdings gelingt es ihr immer wieder
mühelos, das Gespräch in die Gegenwart zu be-
fördern und ihre Positionen hinsichtlich sozialer
Gerechtigkeit,  Forderungen  nach  Mindestlohn
und Besteuerung von Großverdienern zu verdeut-
lichen. Manfred Osten hat durchaus Mühe, das
Gespräch immer wieder zu den Themen Goethe
und Faust II zu lenken.
168
„Wir  wollen  alle  Tage  sparen  und
brauchen alle Tage mehr. Und täglich
wächst mir neue Pein.“ Der so klagt,
ist  nicht  der  griechische   
Finanzminister, sondern der von ähn-
lichen Finanznöten gebeutelte Mar-
schalk  am  Hofe  des  Kaisers  in
Goethes Faust II. Die Szene spielt in
der Kaiserpfalz, in einer sich auflösenden, zutiefst kor-
rupten Gesellschaft, in der Kultur und Ethik jede Bin-
dungswirkung  verloren  haben,  eine  enthemmte
Oberschicht  das  Gemeinwesen  ausplündert  und  sich
schamlos  bereichert,  während  die  Politik  ihre  Gestal-
tungsmacht  eingebüßt  hat.  Jeder  sucht  seinen  Vorteil,
jeder kämpft gegen jeden, es wird betrogen und gelogen,
was das Zeug hält. Verhältnisse also, die uns nur allzu be-
kannt vorkommen.
Schluss mit Mephistos Umverteilung!
Die Finanzkrise, von neoliberaler Politik verschul-
det, greift vor allem den Mittelstand an- und damit
die Demokratie. Aber noch ist es nicht zu spät.
08.12.2011, von SAHRA WAGENKNECHT
Im April referiert dann Bernhard Bueb, der Lei-
ter des berühmten Internats Salem in Überlingen:
Was  die  deutsche  Schule  von  Goethe  lernen
sollte. Sein Fazit: Die heutige Schule sei hierzu-
lande immer noch eine Belehrungsinstitution, in
der trockene Wissensinhalte vermittelt würden.
Statt kognitiv messbarer Leistungen müsste viel
größerer Wert auf Charakterbildung und den Er-
werb  sozialer  Kompetenz  gelegt  werden,  die
vielfach nur in Gruppenerlebnissen und durch
eigene Erlebnisse und Erfahrungen vermittelbar
seien. Immer wieder streute der Referent pas-
sende Zitate Goethes ein, nicht zuletzt das viel
zitierte: Wer nicht geschunden wird, wird nicht
erzogen. Viele Zuhörer im Auditorium sah man
häufig zustimmend nicken zu den Ausführungen
des Referenten, handelt es sich beim Thema Bil-
dung um ein Thema stetiger Aktualität und Bri-
sanz. Im Anschluss beim Glas Wein gab es an
den Tischen jedoch durchaus kontroverse Debat-
ten, denn nach wie vor zählt die Goethe-Gesell-
schaft Berlin immer noch eine erhebliche Anzahl
von Pädagogen und einstigen Lehrern zu ihren
Mitgliedern.
Im Juni dann erwarten wir einen prominenten
Gast: Den Züricher Schriftsteller Adolf Muschg.
Dieser  soll  eigentlich  –  so  ist  es  wenigstens
vereinbart – über Goethes Verhältnis zur Natur
sprechen. Uns ging es in  erster Linie um  den
grünen  Goethe,  um  dessen  respektvollen  und
achtsamen Umgang mit Naturphänomenen; eine
Haltung, die nicht nur für seine Zeit, sondern
auch in späteren Jahrhunderten eher ungewöhn-
lich war.  Bereits der vom Referenten genannte
Titel Goethes Natur als Beziehungsfähigkeit läßt
allerdings daran zweifeln, ob Adolf Muschg das-
selbe meint.
In einer Art Prolog geht er zwar auf Goethes be-
sonders ausgeprägte Sensibilität hinsichtlich der
Natur ein, die sein ganzes Werk, insbesondere die
Lyrik durchzieht. Doch nach etwa 20 Minuten
beschließt der Vortragende, daß er nun noch ein
Kapitel aus seinem neuen, bis dato nicht veröf-
fentlichten Buch Löwenstern vorlesen wolle, was
im Auditorium für leichte Verblüffung sorgt.
Es handelt von  dem
Besuch  des  jungen
Balten  Hermann
Ludwig von Löwen-
stern (1777-1836) bei
Goethe und schildert
einen fiktiven Dialog
zwischen  beiden,  in
dem  der  Besucher
seinem  Gastgeber
von  einer  geplanten
Schiffsexpedition  nach  Japan  erzählt.  Man
kommt u.a. auf Swifts Gullivers Reisen zu spre-
chen und die Unmöglichkeit des Schreibens.
Nun hören wir originale Zitate von Goethe jeder-
zeit gern, die fiktiven Dialoge mit einem erfun-
denen Besucher eines noch nicht veröffentlichten
Romans lösen jedoch bei manchem leichte Irri-
tationen aus.
Dr. Bernhard Bueb (Überlingen/Salem)
...ist mir alles verhaßt was mich blos belehrt,
ohne meine Thätigkeit zu  vermehren...
Was die deutsche Schule von Goethe lernen sollte
Dr. Adolf Muschg (Berlin/Zürich)
Ich denke mir die Erde mit ihrem Dunstkreise gleich-
nisweise als ein großes, lebendiges Wesen, das im
ewigen Ein- und Ausatmen begriffen ist.
Goethes Natur als Beziehungsfähigkeit
169
Der  September
bringt  eine  span-
nende  Veranstal-
tung, die erheblich
mehr  bietet,  als
der ursprüngliche
Titel Zur Aktuali-
tät  von  Goethes
Werther vermuten
ließ. Uwe Hentschel demonstriert – nur anhand
einiger weniger Sätze aus den ersten Seiten von
Goethes  Briefroman  –  welchen  Epochen-Um-
bruch der Werther sowohl formal als auch inhalt-
lich darstellt. Allein der Ausruf: Wie froh bin ich,
daß ich weg bin..! bedeutete1774 – in einer Zeit,
da der Einzelne in der Regel auf seinen Platz ge-
stellt war und zwangsläufig auf seiner Scholle
verharren mußte  – so unendlich  viel  mehr als
heute im Zeitalter der Mobilität, wo man morgens
in Berlin das Flugzeug besteigt,  um noch den
Abend desselben Tages in San Francisco zu ver-
bringen.
Goethes Protagonist zeigt sich allerdings als mo-
dernes Individuum, das nicht an seinen Heimatort
gebunden ist und die Fesseln abstreift. Werther
genießt die Welt, fühlt die Gegenwart des All-
mächtigen, ganz im Sinne des Pantheismus. Er ist
keineswegs untätig und er liebt, wenn auch nicht
konfliktfrei.  Er sieht die  zweifelhafte  Lebens-
weise der meisten Menschen, die den größten Teil
der Zeit arbeiten und das bisschen Freizeit, das
ihnen übrig bleibt, ängstigt sie…
Der Referent spricht frei und zwar über 1½ Stun-
den lang, dennoch gelingt es ihm, die Aufmerk-
samkeit der Zuhörer zu fesseln, was den Schluß
zulässt, daß zuweilen wohl doch nicht die Grenze
des Zumutbaren bei einer Stunde liegt.
Im November folgt dann eine recht ambitionierte
Unternehmung: Eine Podiumsdiskussion mit dem
Titel Die Willensfreiheit – ein Irrtum? Neurowis-
senschaftliche Implikationen in Goethes Denken.
Ein erster und durchaus gelungener Versuch, eine
derartige Veranstaltung gemeinsam mit einer an-  
deren Institution durchzuführen; in diesem Fall
mit dem Bernstein-Center für Neurowissenschaf-
ten, welches der HU angeschlossen ist.
Manfred Osten moderierte eine spannende Dis-
kussion zwischen Wolf Singer vom Max-Planck
Institut und John-Dylan Haynes (HU) über die
neuesten Erkenntnisse und Forschungen auf dem
Gebiet der Neurowissenschaften. Ihm gelang es
dabei, immer wieder Goethe ins Spiel zu bringen,
ein Kunststück, das ihm so schnell keiner nach-
macht.
Die an diesem Abend aufgeworfene Frage war,
welche neuronalen Prozesse sich bei sogenannten
höheren kognitiven Leistungen, bei der visuellen
Wahrnehmung,  dem  Erinnern,  anderen  Denk-
leistungen und gar bei der Entscheidungsfindung
abspielen. Welche Folgen könnten sich aus dem
Determinismus – einer eingeschränkten oder gar
fehlenden Willensfreiheit – für die gesellschaft-
liche Ordnung und auch für die Rechtsprechung
ergeben?  Diese  Frage  ist  seit  Jahren  in  der
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Chemnitz)
...ich will das Gegenwärtige geniessen…
Zur Modernität von Goethes Werther
Podiumsgespräch
Prof. Dr. Wolf Singer (Frankfurt am Main)
(Leiter des Max-Planck-Instituts für Neurowissenschaften)
Prof. Dr. John-Dylan Haynes (Berlin)
(Bernstein Center for Computational Neuroscience, HU/Charité)
und Dr. Manfred Osten (Bonn)
Die Willensfreiheit – ein Irrtum?
Naturwissenschaftliche Implikationen
in Goethes Denken
170
Diskussion. Singer hat mit einem Artikel in der
FAZ aus dem Jahre 2004, der im Lichte neuer
Forschungsergebnisse erschien, erheblich zu der
Hypothese  beigetragen,  daß  neuronale  Ver-
schaltungen unsere Entscheidungsprozesse fest-
legen; wir sollten daher aufhören, von Freiheit
zu sprechen.
Osten sprach sodann die sich eventuell daraus
ergebende eingeschränkte Strafmündigkeit an,
was Singer nutzte, um auf Mißverständnisse und
falsche Unterstellungen in der  Folgendeutung
hinzuweisen.
Das Gespräch wurde auf den Diktatgeber des
Unbewußten hingelenkt. Hierzu merkte Haynes
an, daß dessen Einfluß zwar zwingend angenom-
men werde müsse, es aber unmöglich sei, das
Unbewußte im Scanner einzufangen bzw. diese
Prozesse sichtbar zu machen. Für viele Entschei-
dungen gäbe es keine Erklärung, bei Langzeit-
entscheidungen  schon  gar  nicht,  gleichwohl
werden Begründungen von Betroffenen selbst
gesucht und gefunden, müssen jedoch mit Zwei-
feln  belegt  werden.  Eine  bewußte  Entschei-
dungsfindung wird von beiden Wissenschaftlern
in Frage  gestellt.  Sowohl für  Singer als auch
Haynes gilt es durch die Magnetresonanztomo-
graphie als nachgewiesen, daß Veränderungen im
Gehirn einer bewußten Entscheidung vorausge-
hen. Dies spricht für Determinismus.
Wie Goethe Eckermann anvertraut, ist die Idee
der Willensfreiheit zu schön, als daß wir darauf
verzichten könnten – auch wenn es sich um einen
Irrtum handele.
Ein weiteres Mal können wir uns von Manfred
Ostens Vielseitigkeit überzeugen beim letzten
Vortrag des Jahres: Goethe – Der Konfuzius von
Weimar? Zur Aktualität seines Asienverständnis-
ses. Der Referent – selbst über Jahrzehnte im
auswärtigen Dienst tätig, davon sieben Jahre in
Japan – beschreitet hier nach eigener Aussage li-
teraturwissenschaftlich neues Terrain.
In der Tat war bislang unbekannt, in welchem
Maße sich Goethe bereits ab 1781 mit fernöst-
lichen Lehren beschäftigte, dazu insbesondere
angeregt  von  dem  sogenannten Kanon  der
Mäßigung, den er sich alsbald zu eigen machte,
ebenso wie mit fortschreitendem Alter mit den
anderen  Hauptforderungen  des  chinesischen
Weisen: Bedingte Zuverlässigkeit, Selbstüber-
windung und tätige Skepsis.
Der Inhalt der fünf kanonischen Schriften hat
schon früh seinen Wissenshorizont erweitert und
seine Erfahrungswelt gestützt. Die Grundsätze
der Mäßigung und das dadurch erfahrbare Glück
finden sich in seinen Werken. So fand er Vor-
bilder für seine Novelle Der Mann von fünfzig
Jahren – später eingeflossen  in den  Entwick-
lungsroman Wilhelm Meisters Wanderjahre in
der chinesischen Prosa.
In der Zeit einer großen Barbarei und Schrek-
kensherrschaft  hat  Konfuzius  Wege  zu  einer
neuen Mitmenschlichkeit gefunden. Der Mensch
sei nicht vorstellbar ohne den Zusammenhang
und Zusammenhalt mit anderen. Der Mensch sei
geboren mit Pflichten.
Die asiatische Philosophie und Geisteshaltung
war Goethe seit seiner Jugendzeit vertraut, er hat
sie verinnerlicht, sie ist aus seinen Werken er-
fahrbar.
Konfuzius und Goethe, verwandt in der Geistes-
haltung einer Kultur der Mäßigung, haben durch
Manfred Osten die Zuhörerschaft mit neuen bzw.
wiederentdeckten Erkenntniswerten entlassen.
Dr. Manfred Osten (Bonn)
Goethe – Der Konfuzius von Weimar?
Zur Aktualität seines Asienverständnisses
171
In  seinem  Einführungsvortrag  umreißt Hans-
Hellmut Allers die bedeutendsten Stilformen der
Neuzeit, die die neue Epoche der Menschheitsent-
wicklung darstellen. Die Erkenntnis der Erziehbar-
keit  des  Menschen  zur  Humanität,  Toleranz  und
Nächstenliebe  habe  zu  Offenheit  für  das  Gute,
Wahre und Schöne geführt, mit jeweiliger Ausrich-
tung auf Rationalität (Aufklärung), Realität und Aus-
gewogenheit von Gefühl und Verstand im Sinne der
griechischen Antike (Klassik) und dann zur neuen
Empfindsamkeit, zur Hingabe zur Natur (Romantik).
Zu allen Entwicklungen wird Goethes Einstellung,
seine Mitwirkung und Förderung bzw. Gegnerschaft
erläutert. Eine besondere Aufmerksamkeit widmet
der Referent der Romantik, die Goethe Eckermann
gegenüber kommentierte: die Klassik sei gesund und
die Romantik krank.
Im Februar führt uns Rainer Falk in das Zeitalter
der Aufklärung ein und konzentriert sich zunächst
auf die verlegerische Tätigkeit Friedrich Nicolais
und veranschaulicht sein spannungsreiches Verhält-
nis zu Goethe, das entscheidend geprägt ist durch
seine Satire Die Freuden des jungen Werthers… eine
parodistisch gemeinte Replik auf Goethes 1774 er-
schienenen Briefroman und Bestseller Die Leiden
des jungen Werthers.
In  dieser  wird  der  Selbstmord  des  Protagonisten
verhindert, indem die Pistole mit Hühnerblut gefüllt
wird.Werther  überlebt,  heiratet  Lotte,  sodaß  das
Ganze  zu  einem  glücklichen  Ende  führt.  Goethe
reagiert mit einem Gedicht, das die Verunreinigung
eines  Grabes  durch  einen  Schöngeist  mit  seiner
Notdurft  zum  Inhalt  hat.  Die  wechselseitige
Aufbereitung der erschienenen Werke mittels Satire
und Kritik prägt die damalige literarische Auseinan-
dersetzung. So bezeichnet Goethe 1775 die Aufklä-
rung  als  eine wässrige,  weitschweifige  nullende
Epoche.
Im April  setzt  uns Uwe
Hentschel ins Bild über
Die  literarische  Fehde
zwischen Goethe und den
Berliner  Aufklärern.  Im
Vordergrund der Betrach-
tungen des Dozenten ste-
hen C. F. Nicolai, Garlieb
Helwig Merkel sowie A. F. von Kotzebue. und deren
abstrakte Lebenskonzepte. Der Nutzen sei das Idol
der Zeit gewesen, dem vor allem anderen zu huldi-
gen  sei.  Goethe  und  Schiller  sind  hingegen  der
Ansicht, daß eine Besinnung auf die sich aus der
Philosophie, Geschichte und der Literatur der Antike
ergebenden Ideale auch einen Wandel in der Gesell-
schaft mit sich bringen könnte.
Sehr bald gehen die unterschiedlichen Standpunkte
in polemische Auseinandersetzungen über, die die
Grenzen zur Beleidigung streifen und in dem von
Schiller und Goethe initiierten berühmten Xenien-
Krieg einen Höhepunkt finden. Mit diesen zweizei-
ligen Gastgeschenken beabsichtigen  sie,  die
Hohlköpfigkeit des Zeitgeistes und seiner Wortführer
satirisch zu entlarven und zur Diskussion zu stellen.
2013
Wiederholte Spiegelungen
Goethe zwischen Aufklärung Klassik und Romantik
Hans-Hellmut Allers (Berlin)
Einführungsvortrag  
Rainer Falk (Potsdam)
Wo ich in eine Stube trete, finde ich das Berliner
Hundezeug…
Der junge Goethe und die
Berliner Aufklärung
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Chemnitz)   
Merkel und Kotzebue haben sich vereiniget,der lite-
rarischen Welt zu beweisen,daß Goethe gar kein
Dichter ist...
Die literarische Fehde zwischen Goethe
und den Berliner Aufklärern
172
Im  Mai  bringt  uns
Hans  Richard
Brittnacher den
Konflikt  zwischen
Goethe  und  Kleist
nahe. Aus den Aus-
zügen  des  Schrift-
wechsels  zwischen
beiden, verdeutlicht
sich  insbesondere
Kleists  Erfolgsstre-
ben  bis  zum  Sen-
dungsbewußtsein
sowie  Goethes  un-
verblümte Einschät-
zung  von  dessen
Werken. Trotz ihrer
unterschiedlichen
Auffassungen  über
dramaturgisch bühnenwirksame Handlungsab-
läufe  inszeniert  Goethe  Kleists Zerbrochenen
Krug und  die  Premiere
wird bekanntlich zum Fi-
asko. Mit der Penthesilea,
die Kleist auf den Knien
seines  Herzens über-
bringt,  hat  sich  Goethe
nie näher mit dem Ziel
einer  Aufführung  be-
schäftigt, sieht er doch
in  der  Handlung  ein
Gemisch von Sinn und
Unsinn. Sein Gesamturteil gipfelte in der
Feststellung verfluchte Unnatur.
Helmut Schanze aus Aachen erläutert uns im
Juni: Goethes Verhältnis zur Jenaer Frühroman-
tik. Wir erfahren wenig Bekanntes über das kom-
plizierte Beziehungsgeflecht zwischen Goethe
und den wichtigsten Vertretern der Frühromantik
– Ludwig Tieck, August Wilhelm und Friedrich
Schlegel, Novalis und Joseph Schelling. Clemens
Brentano und Friedrich Schlegel hatten zur Lite-
raturrevolution« im Athenäum aufgerufen.
Goethe begegnet dem Herrschaftsanspruch der
selbsternannten Heroen deutscher Literatur vor
allem  mit  Ironie,  aber  auch  der  Nonchalance
eines seines Ruhmes sicheren Autors bleibender
Werke mit Weltgeltung. Einige der Kontrahenten
sparen nicht mit Kritik. So bezeichnet Novalis
etwa den Wilhelm Meister als ein fatales, alber-
nes Buch. Goethe kontert in Briefen brillanten
Stils. Überliefert ist – trotz alledem – eine blei-
bende Goethe-Verehrung vieler Romantiker in
späteren Jahren.
Christa Lichtenstern begrüßt das Auditorium
ihres Vortrags Goethe und die Skulptur zunächst
mit der an die Wand projizierten bekannten Goe-
the-Skulptur von  Christian Daniel Rauch von
1820. Die Referentin verdeutlicht, wie Goethe
die Plastik wahrnimmt und wie gewählte Motive
und  daraus  entwickelte  Erkenntnisse  sich  auf
seine Dichtung auswirken. Nach Goethes An-
sicht ist eine Plastik erst schön, wenn von der
Form eine bewegende Kraft ausgeht, die den Ein-
druck fortwährender Metamorphosen vermittelt
und  die  Wandlung  von  der  Wirklichkeit  zum
Symbolischen  ahnen  läßt.
So  werden  für  den  Be-
trachter  nicht  nur  das
Dargestellte  –  wie  z.  B.
Castor und Pollux – son-
dern auch die sich damit
verbindenden  Begriffe  wie
»Bruderliebe«  und  »Zunei-
gung«  deutlich.  Schließlich
schlägt  Christa  Lichtenstern
den Bogen von der geprägten
Form,  die  lebend  sich  ent-
wickelt zur  Dichtung,  die
vom äußeren Rahmen des in
sprachlicher Gestaltung zur
übergreifenden Allge-
meingültigkeit führt.
Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher (Berlin)
Verfluchte Unnatur… !
Der Konflikt zwischen Goethe und Kleist
am Beispiel von Iphigenie und Penthesilea
Prof. Dr. Helmut Schanze (Aachen)
Wer erscheint plötzlich vom Gebirg herab? ...
die alte göttliche Excellenz, Goethe selbst…
Goethe und die Frühromantik
Prof. Dr. Christa Lichtenstern (Berlin)
Ich bin Plastiker…
Goethe und die Skulptur
173
Im September-Vortrag Der Theaterdirektor Goethe
und sein Verhältnis zur Dramatik der Romantiker
spannt Hartmut Fröschle einen Bogen von Goethes
frühkindlicher Erfahrung mit dem Puppentheater bis
zu gefeierten und mißlungenen Aufführungen am
Weimarer Hoftheater. Als Goethe 1791 Intendant des
neu installierten Theaters wird, sorgt er für Disziplin,
verbietet  Dialekte  und  formuliert  Theater-  und
Schauspielergesetze, bei deren Nichtein-
haltung  strenge  Konsequenzen  drohen,
schildert insbesondere Goethes beharrli-
ches, verzweifeltes und manchmal auch
erfolgloses  Bestreben,  das  Weimarer
Theater aus der Provinzebene herauszu-
führen, um ihm gesellschaftliche, politi-
sche und auch künstlerische Bedeutung zu
verleihen.
Durch Conrad Wiedemann erfahren wir Wissens-
wertes über Goethes Mann in Berlin. Zelter darf als
einer der engsten Freunde Goethes bezeichnet wer-
den. Es kommt zu 14 Begegnungen, die sich zuwei-
len  über  Tage  erstrecken.  Die  Korrespondenz
beginnt 1799, als Goethe zunächst ein Kooperations-
angebot gegenseitiger Inspiration unterbreitet und
bleibt dauerhaft von beiderseitiger Sympathie und
Wertschätzung geprägt . Sie umfasst 871 Briefe mit
insges. 1600 Seiten.
Der  Dozent  versucht  eine  Deutung  für  diesen
ungewöhnlichen Briefwechsel: Zelter richtete seine
Berichterstattung aus der preußischen Königshaupt-
stadt in den ersten Jahren ganz offensichtlich aus an
Goethes Berlin-Bild und seine daraus resultierenden
orientierten Ansichten. Nach Auffassung des Refe-
renten waren seine Briefe sehr häufig geprägt von
einem Huldigungsüberschuss für Goethe, er befand
sich jahrelang auf der Textspur der Beflissenheit und
zeigte ein Übermaß an Anpassung: exemplarisch der
Brief vom 12. 12. 1802: hochgeliebter Freund.
Als Erklärung bietet Wiedemann an, Zelter sei der
Therapeut Goethes gewesen, er habe bei Goethe eine
Deformation des Selbstbildes als auch seines Ber-
lin-Bildes erkannt, zumal die Opposition gegen Goe-
the vor allem von dort ausging. Abweichende An-
sichten Zelters und dessen nunmehr selbstbewußtere
Ansichten im letzten Jahrzehnt der Korrespondenz
werden von Goethe toleriert. Die enge freundschaft-
liche Verbindung besteht bis zum Tode Goethes im
März 1832. Zelter stirbt nur zwei Monate später.
Prof. Dr. Hartmut Fröschle (Stuttgart)
deswegen bringen mich auch ein halb Dutzend
jüngere poetische Talente zur Verzweiflung…
Der frustrierte Theaterdirektor
– Goethes Verhältnis zur Dramatik
der Romantiker
Prof. Dr. Conrad Wiedemann (Berlin)    
Er kann (...) mitunter sogar etwas roh erschei-
nen. Allein das ist nur äußerlich. Ich kenne
kaum jemand, der zugleich so zart wäre wie
Zelter.
Goethes Mann in Berlin
– Der Briefwechsel mit Zelter
Carl Friedrich.Zelter
174
Manfred Osten, der im November zum Thema Die
Romantik  und  Goethes  Widerstand  gegen  deren
Kunst und Literatur der Verzweiflung spricht, findet
Goethes Vorbehalte gegen die Romantik in einem
Satz gebündelt, der einem Brief Goethes an W. Rein-
hardt entnommen war: Manchmal machen sie mir’s
doch zu toll. So muss ich mich zurückhalten, nicht
grob zu werden über den Narrenwust dieser Tage.
Obwohl  man  in  einigen  Werken  Goethes  ohne
Schwierigkeiten  Bezüge  zur  Romantik  herstellen
könne,  macht  der  Dozent  dessen  Abgrenzungen
deutlich.  Nicht  das sich  verlieren  und  leben  im
Gestern oder Morgen, sondern die bewußte Wahr-
nehmung des Heute führe zur sinnvollen Lebensge-
staltung Wer  Macht  hat  über  sich  selbst  und  sie
behält, leistet das Größte und Schwerste.
Drei Kriterien waren für Goethe wegweisend: die
kritische Distanz zu sich, die Selbstüberwindung und
die geregelte Erfahrung. Die Negativeigenschaften,
die er bei Romantikern erkannte, reichten von Form-
losigkeit über Frömmelei bis zur Charakterlosigkeit
und das Unverständnis für die Regeln der Natur.
Theo Buck gibt zunächst einen Überblick auf die
unterschiedliche Epochen-Zuordnung der Leiden des
jungen Werthers in Deutschland und Frankreich. Er
verdeutlicht, daß Goethes 1773 erschienener Brief-
roman zwar in Deutsch-
land als Werk des Sturm
und  Drang gesehen
wird, im Ausland, insbe-
sondere  in  Frankreich,
sei dies aber keineswegs
der Fall, vielmehr werde
Werther mit seiner Na-
turverbundenheit, seiner
Zerrissenheit  und  sei-
nem vielfach geäußerten
Weltekel  als  typischer
Vertreter der Romantik
gesehen.
Der Referent zeigt noch einmal jene Wege auf, die
den Protagonisten in die hilflose Lösung der Selbst-
vernichtung  trieb.  Werther  –  schwärmerisch  und
naturverbunden  –  steht  im  Gegensatz  zum  auf-
klärerischen Ideal eines rationalen, pflichtbewußten
an Nützlichkeit und Erfolg orientierten Bürgers. Sein
Streben nach Selbstverwirklichung mündet in eine
Ich-Sucht, zur Rollenverweigerung durch Verzweif-
lung, ja sogar zum Ekel an der Gesellschaft.
Aus  Zerrissenheit  wird  die  Welt  zum  Hindernis.
Motive für das selbst gewählte Ende Werthers faßt
der Referent in den Begriffen Leiden, Bruch, Lücke
zusammen,  was  zum  Verlust  von  Harmonie
zwischen dem Ich und der Welt führen muß. Dem
fehlenden Ausgleich zwischen Lebensanspruch und
Lebensleistung kann nur die Krankheit zum Tode
folgen.
Dr. Manfred Osten (Bonn)    
…manchmal machen sie mir’s doch zu toll.
So muß ich mich zurückhalten, nicht grob zu werden
über den  Narrenwust dieser Tage...
Die Romantik und Goethes Widerstand gegen deren
Kunst und Literatur der Verzweiflung
Prof. Theo Buck  (Aachen)    
Es müßte schlimm sein, wenn nicht jeder einmal in
seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der
„Werther“ käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben...
Goethes Werther im Urteil der europäischen
Romantik
L.Tieck
F.Schlegel
Novalis
A. W. Schlegel
175
Manfred Osten nähert sich unserem diesjährigen
Thema Von Werken Goethes und ihrer Entstehungs-
geschichte auf unerwartete Weise: Er analysiert den
Begriff der Wahrheit unter Verwendung von Goe-
thes  erkenntnistheoretischen  Einsichten.  Voran
stellt er seinen Überlegungen das Goethezitat: Wäre
es Gott darum zu tun gewesen, daß die  Menschen
in der Wahrheit leben und handeln sollen, so hätte
er seine Einrichtung anders machen müssen…
(Maximen und Reflexionen).
Der Mensch gehe nun  einmal von einem  Irrtum
zum anderen; insbesondere im Prozeß der Erinne-
rung destabilisiere und verforme sich das Gesche-
hen.  So  werde  die  Gewißheit  begründet,  daß
Werken mit biographischen Zügen nur Ideen zu-
grunde lägen, die die Vergangenheit liefere.
Was ist also Wahrheit? Ist es die Ȇbereinstimmung
mit der Wirklichkeit«, wie es so oft als Definition
angeboten wird, – mit einer Wirklichkeit, die wie-
derum unterschiedlich interpretiert wird?
Osten vermittelt über diverse Zitate Bekundungen
Goethes hierzu: Es irrt der Mensch, solang er strebt
(Faust). Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,
um  tierischer als jedes Tier zu sein (Faust). Der
Mensch ist ein dunkles Wesen, er weiß nicht, woher
er kommt, wohin er geht, er weiß wenig von sich
selber...
(Goethe 1829 zu Eckermann)
.
Der Referent näherte sich dann der Wahrheit, die
mit der Natur selbst zu tun hat: Die Natur versteht
keinen  Spaß,  sie  ist  immer  wahr,  sie  hat  immer
recht. Manfred Osten sieht die Möglichkeit eines
Zugangs zur Wahrheit daher in der Begeisterung,
der Liebe, dem Interesse, dem Gedächtnis und den
hierzu unzähligen Bezügen in Goethes Werk. Die
Ratio mit dem Unbewußten in eine Balance zu brin-
gen,  sei  eine  Aufgabe  und  ziele  auf  sinnvolle
Lebensgestaltung.
Zur Einführung in Goethes
Sesenheimer  Zeit  läßt
Robert  Walter-Jochum
Goethe sprechen und trägt –
quasi  als  Erinnerungs-
schlüssel für die Ereignisse
in   Sesenheim Willkommen
und Abschied vor. Über die
Liebesbeziehung zu Friede-
rike Brion 1770/1771 liegen
wenig  authenti-
sche  Zeugnisse
vor.  Als  Leitbild
für  die  Annähe-
rung an die Sesen-
heimer  Episode
sieht der Referent
den  Roman Der
Pfarrer von Wake-
field von  Gold-
smith,  in  dem  er
die Romanfiguren
der  Sesenheimer
Pfarrersfamilie ge-
spiegelt  sieht.
Seine ausführliche
Darstellung  und
Charakterisierung
der Romanfiguren
bei Goldsmith ver-
deutlicht  Goethes
Anleihe  der  dort
beschriebenen
Verkleidungseska-
pade:  Die  Ver-
kleidung  als  Theologie-Student  entsprach  seiner
Vorstellung und dem Wunsch, einem literarischen
Leben mehr Aspekte und  größere Bedeutung abzu-
gewinnen, als es die Realität bieten.
Walter-Jochum verwendet sodann viel Aufmerk-
samkeit  auf  die  Begründung,  weshalb  die  Ver-
bindung  Goethe/Friederike  von  vornherein  zum
Scheitern verurteilt gewesen sei.
2014
Der Dichtung Schleier
aus der Hand der Wahrheit
Von Werken Goethes und ihrer Entstehung I
Dr. Manfred Osten (Bonn)
Wäre es Gott darum zu tun gewesen, daß die Men-
schen in der Wahrheit leben und handeln sollten, so
hätte er seine Einrichtung anders machen müssen...
Goethes Dichtung und was ist Wahrheit?
Robert Walter-Jochum, M.A. (Berlin)
Mein Geist war ein verzehrend Feuer...
»Seliges Wahnleben« und »verödete Localität«
– Goethes Sesenheim in Dichtung und Wahrheit
176
Gesa  Dane ver-
mittelt einen guten
Überblick,  darü-
ber,  wie Die  Lei-
den  des  jungen
Werthers und  die
tatsächlichen  Er-
eignisse von Goe-
thes  Wetzlarer
Aufenthalt sowie die Zeitströmungen des Sturm und
Drang ineinander verwoben sind.
Wie  dies  im  Briefroman  verarbeitete  Wetzlarer
Jugenderlebnis bei Goethe fortwirkt, verdeutlicht die
Dozentin durch den Hinweis auf Goethes Mitteilung
zur Neuauflage des Werthers 50 Jahre nach dessen
Erscheinen 1774:
Übrigens habe ich das Buch (...) seit seinem Erschei-
nen nur ein einziges Mal wieder gelesen und mich
gehütet, es abermals zu tun. Es sind lauter Brandra-
keten! Es wird mir unheimlich dabei, und ich fürchte,
den pathologischen Zustand wieder durchzuempfin-
den, aus dem es hervorging.«
(Gespräch mit Eckermann, 2. Januar. 1824)
Die Referentin macht ferner deutlich, wie Goethes
Grundeinstellung zu Religion und Religionsphiloso-
phie  in  das  Werk  einfließen.  Werther  findet  zwar
Trost in Gott, aber keineswegs in der Religion. Er
sieht seinen Tod als Opfertod und sich selbst in der
Nachfolge Jesu: ich opfere mich für Dich. Der letzte
Satz des dramatischen Vorgangs: kein Geistlicher hat
ihn begleitet, dürfe als Kritik an der Kirche gesehen
werden.
Zu Goethes Zeiten zeichnet sich eine Änderung der
aristokratischen  Rollenerwartungen  ab.  Welche
gelockerten  Verhaltenskonzepte  waren  innerhalb
einer festgefügten Hierarchie möglich?
Peter André Alt macht Mißverständnisse, die sich
aus der Einordnung in ein höfisches Wertesystem und
der vermeintlichen Freiheit für geniale Poeten erge-
ben, auf der Grundlage von Goethes Torquato Tasso
klar. Zwei Menschen, zwei Weltanschauungen be-
gegnen sich auf konfliktträchtige Weise.
Durch viele Zitate und Rückgriffe auf begleitende
Literatur der Zeit macht Alt deutlich, wo, wann und
durch  wen  in  diesem  Drama  das  Verhalten  den
Formen der höfischen Affektkontrolle entspricht oder
andernfalls  gegen  das  Prinzip  der  Harmonie  und
Balance verstoßen wird.
Antonio  sieht  sich
als weltoffener und
kenntnisreicher Di-
plomat  und  Politi-
ker,  jedoch  in
dienender Funktion,
Tasso dagegen sieht
seinen persönlichen
Lebensgewinn  in
dem  Streben  nach
Glück und Genuß: erlaubt ist, was gefällt und offen-
bart eine narzistische, zuweilen melancholische Ego-
zentrik  des Genies. Die  durch Wesen,  Gestik und
Sprache  vorgegebenen  Verhaltensweisen  machen
Tasso zu einem Fremden innerhalb der durch höfi-
sche Formen konstituierten Welt.
Die vita activa sieht Antonio erfüllt in dem Grundsatz
was gelten soll muss wirken und muss dienen und der
Mensch  erkennt  sich  nur  im  Menschen,  nur  das
Leben lehret jeden, was er sei.
Goethe hat seinen Tasso begonnen, als er die eigene
Doppelexistenz analysiert, sie nicht als friedliches
sinnvolles Nebeneinander wahrnimmt, sondern als
spannungsgeladene, konfliktreiche Situation empfin-
det. Tasso und Antonio bewundern,  beneiden und
befehden sich wechselseitig für das, was sie selbst
nicht haben.
Die erzwungene Vernachlässigung von Eigeninteres-
sen ist allen »Dienenden« bekannt. Auch die nach
Lorbeer strebenden oder schon bekränzten Künstler
sind von Leidensphasen nicht frei. Ihr Trost sei: und
wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir
ein Gott, zu sagen, wie ich leide.
Prof. Dr. Gesa Dane (Berlin)
Es sind lauter Brandraketen!
Es wird mir unheimlich dabei..
.Fakten und Fiktionen in
Die Leiden den jungen Werthers
Prof. Dr. Rüdiger Safranski (Berlin)
im Gespräch mit Dr. Manfred Osten (Bonn)
Goethe – Kunstwerk des Überlebens
Prof. Dr. Peter André Alt (Berlin)
Deutlich seh’ ich nun die ganze Kunst
des höfischen Gewebes!
Goethes Torquato Tasso als
Drama der sozialen Form
177
Am 3. September 1786 nachts um 3 Uhr tritt Goethe
von Karlsbad aus seine zunächst geheim gehaltene
Italienreise an, von der er erst im Mai 1788 nach
Weimar  zurückkehrt.  Nicht  unmittelbar  danach,
sondern erst in der Zeit zwischen 1813 und 1817
entsteht Die Italienische Reise. Uwe Hentschel geht
der Frage nach, warum dies so spät geschieht und
weshalb  Goethe  von  der  ursprünglich  geplanten
Werkkonzeption abweicht. Mit Sicherheit sei Die
Italienische Reise nicht ein Kernstück zeitgenössi-
scher Reiseliteratur gewesen, denn das Werk ent-
spreche  in  keiner  Hinsicht  den  Kriterien  dieses
Genres.
Mit überzeugenden Argumenten legt der Dozent dar,
weshalb Goethe über Jahrzehnte mit der Auswertung
seiner Tagebuchaufzeichnungen wartet und welche
Intentionen und Ziele er mit der Niederschrift eigent-
lich verfolgt. Seine Absicht ist es, ins Ganze zu stu-
dieren, das Vorgegebene nach seinem inneren Wert
zu beurteilen, den Symbolgehalt zu sehen und zu er-
gründen. Gegenüber Schiller erläutert er seinen Plan
wie folgt: Er beabsichtige, von unten herauf, aus-
gehend von der geologischen Basis zur Kultur des
Landes fortzuschreiten und zugleich [mit Hilfe von
Meyer] auch von oben herein, von der Kunstseite
her, auf den Gegenstand zuzugreifen«.
Der Leser soll also mehr sehen und verstehen als der
Reisende.  Zur  Vervollkommnung  seiner  Studien
will und muß Goethe eine zweite Reise antreten, die
er ab 1795 vorbereitet. Welche Folgen eine Über-
prüfung und Erweiterung erster Eindrücke haben
kann, verdeutlicht der Referent am Beispiel des Rö-
mischen Karnevals. Zunächst erlebt Goethe dieses
Fest als lärmende Aggressivität und Primitivität (an
Herder: das Carneval habe ich satt). Beim zweiten
Besuch sieht Goethe dies anders, nämlich als Natio-
nalereignis von universaler Bedeutung. Hier hat der
sog. zweite Blick etwas bewirkt.
Was Goethe bei der Bewertung des Römischen Kar-
nevals erlebte, konnte er bei seinen weiteren Studi-
enplanungen  zu  Italiens  Landschaft,  Kunst  und
Kultur nicht realisieren. Eine zweite Forschungs-
reise  fand  nicht  statt,  für  den  klärenden zweiten
Blick gab es keine Gelegenheit. Es entstand dann je-
doch Die  Italienische  Reise,  ein  Werk,  das  sich
neben Dichtung  und  Wahrheit  und Kampagne  in
Frankreich in seine autobiographischen Schriften
einreiht und dem Leser einen über eine Reisebe-
schreibung hinausgehenden Blickwinkel verschafft.
Ariane  Ludwig,  wissenschaftliche  Mitarbeiterin
des GSA in Weimar, besitzt uneingeschränkten Zu-
gang zu den Orginalmanuskripten und kann daher
detailliert die Entstehungsgeschichte von Wilhelm
Meisters  Wanderjahre veranschaulichen.  Goethe
hatte den Text von 1807 bis 1810 niedergeschrieben,
1821 erscheint  die  erste  Fassung, 1829  folgt die
völlig umgestaltete Version.
Die Handlung ist nicht auf einen im Mittelpunkt ste-
henden Helden bezogen, daher kann der Leser keine
fortlaufende nach üblichen Romankriterien verfolg-
bare Handlung erwarten.
Die Erzählung löst sich in Einzelbilder auf, hat also
bereits die Form eines Romans der Moderne. Die
Verbindung der Kapitel wird nicht von einem auk-
torialen Erzähler erläutert, für den Leser bleibt somit
Deutungsspielraum, die Symbolik der Kästchen und
Schlüssel zu ergründen. Ein wichtiges Element der
Wanderjahre ist die im Titel erwähnte Entsagung.
Der Verzicht auf Niederes zugunsten Höherem ist
das zentrale Anliegen in den Wanderjahren und der
Ethik Goethes.
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Chemnitz)
Auf der Reise rafft man auf was man kann...
Der verhinderte zweite Blick oder warum Goethe
über Italien keinen Reisebericht verfasste
Dr. Ariane Ludwig (Weimar)
…ist es nicht aus Einem Stück,
so ist es doch aus Einem Sinn...
Zur Entstehung und Komposition von
Wilhelm Meisters Wanderjahren
oder Die Entsagenden
178
Gleich zu Beginn seiner Ausführungen verdeutlicht
Dirk von Petersdorff, es erscheine ihm unmöglich,
die Lyrik Goethes im Hinblick auf Formen und Aus-
drucksvielfalt nach allgemeingültigen Gesichtspunk-
ten einzuordnen. Goethe prägte sowohl die Epochen
des Sturm und Drang als auch der Klassik, verfasste
Gedichte von hoher sprachliche Komplexität, präg-
nante Zweizeiler, Gedichte ohne Reime, doch auch
solche in freien Rhythmen. Sie zeigen Widersprüche
und überlassen die Deutung dem Leser.
Der Einführungssatz Die Welt ist voller Widersprü-
che  und  sollte  sich’s  nicht  widersprechen?,  dem
Gedicht Vorklage entnommen, führt bereits auf diese
Spur.  Der  Referent  stellt  zwei  herausragende
Gedichte  vor.  Zunächst  einmal  widmet  er  sich
Prometheus,  einem  Gedicht  aus  dem Sturm  und
Drang, das keinem metrischen Bauplan folgt, viel-
mehr nur rhythmische Einheiten aufweist.
Es ist ein Monolog des Prome-
theus an Zeus und stellt quasi
eine  Autonomierklärung  des
jungen Goethe dar. Prometheus
verweigert Ehrfurcht, zweifelt
an der Allmacht der Götter, ne-
giert deren schöpferische Ord-
nung und will Menschen nach
seinem  Bilde  formen.  Bereits
Goethes Zeitgenossen hätten –
so der Referent – sehr gut verstanden, daß sich hinter
der antiken Verbrämung ein Angriff des Menschen der
Aufklärung auf den Christengott verberge. Ob das als
Hybris gesehen werden muß oder dem damaligen Ge-
niebegriff der Sturm-und-Drang-Zeit geschuldigt ist,
bleibt offen.
Seit 2009 wird unter der Leitung von Anne Bohnen-
kamp-Renken im Freien Deutschen Hochstift die
laufende Hybridedition von Goethes Faust erarbeitet,
eine historisch-kritische Ausgabe des Goetheschen
Hauptwerks. Der überwiegende Teil der über 2000
Handschriftenseiten umfassenden Sammlung befin-
det sich in Weimar.
Erst jetzt sei es möglich gewesen, die Arbeit an dieser
großen historisch-kritischen Ausgabe des Faust an-
zugehen, denn in der früheren DDR war man zu einer
Zusammenarbeit nicht bereit, erläutert die Direktorin
des Hochstifts.
1994 hatte Albrecht Schöne noch im Vorwort seiner
Goethe-Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag es
als nationale Schande bezeichnet, daß es bei dem
weltgeschichtlichen Rang der Faust-Dichtung keine
historisch-kritische Ausgabe gäbe.
Die Unternehmung, die dem abhelfen soll, wird eine
Faksimile-Edition in Buchgestalt sein, verknüpft mit
einer interaktiven digitalen Online-Version. Die For-
scherin bindet darum neben Philologen auch Infor-
matiker in die Projektgruppe ein.
Die elektronische Version wird die gesamte Über-
lieferung des Werkes, von den Handschriften bis zu
den Drucken zur Lebenszeit Goethes bieten. Neben
dem Freien Deutschen Hochstift sind auch die Klas-
sik Stiftung Weimar und die Julius-Maximilians-Uni-
versität Würzburg beteiligt. Die Finanzierung des
eine Million Euro teuren Projekts leisten Sponsoren
und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Für die
geplante Druckausgabe müssen noch »weitere Spon-
sorengelder« gefunden werden.
Prof. Dr. Dirk von Petersdorff (Jena)
Die Welt ist voller Widerspruch,
Und sollte sich´s nicht widersprechen?
Widersprüche und Spannungsverhältnisse
in Goethes Leben und seiner Lyrik
Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken (Frankfurt a. M.)
Natur und Kunstwerke lernt man nicht kennen wenn sie
fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen.«
Aus der Arbeit an der historisch-kritischen
Hybrid-Edition von Goethes Drama Faust II
179
Gleich im Januar anspruchsvolle Kost und ein für
den Jahresbeginn verheißungsvoller Vortragstitel:
Das Vorspiel als Endspiel. Peter André Alt geht
es um die die Darstellung der Machtverhältnisse
zwischen Gott und dem Teufel im Faust-Prolog.
Die  wettähnliche  Verabredung  zwischen  dem
Herrn und Mephisto – so der Referent – steht im
Zeichen eines Ungleichgewichts, das in der Tra-
gödie noch signifikanter wiederkehren wird.
Wenn Mephisto Gott um die Erlaubnis bittet,
Faust »die eigene Straße sacht zu führen«, dann
bringt das eine  Hierarchie  zum Ausdruck,  die
auch für das Verhältnis von Herr und Teufel be-
stimmend bleibt.
Gott formuliert nämlich den häufig übersehenen
Generalvorbehalt, daß die Abmachung nur gelte,
So lang er auf der Erde lebt. Danach kann Gott
jederzeit in das Arrangement eingreifen und die
Verirrungen Fausts korrigieren. Was Mephisto
Wette nennt, ist folglich ein vorab entschiedenes
Spiel, in dem Gott nicht verlieren kann, weil ihm
das Recht zusteht, die desorientierte Seele zur
Einsicht zu bringen.
Die Erlösung Fausts, die später unter Verweis auf
sein dauerhaftes Streben vollzogen wird, ist me-
taphysisch schon vorgezeichnet in der Lizenz des
Regisseurs Goethe, der das Geschehen anhalten
darf, wenn es für die Menschen gefährlich wird.
Conclusio: Gott sitzt bei Abmachungen mit dem
Teufel, den er jedoch benötigt, um die Menschen
in  Versuchung  zu
bringen, grundsätz-
lich am  längeren
Hebel. Im übrigen
hat  Goethe  dies
längst erkannt. Als
Faust  fragt: wer
bist du denn? lau-
tet Mephistos Ant-
wort: ein Teil von
jener  Kraft,  die
stets das Böse will
und stets das Gute
schafft.
Sodann im Februar
gleich noch einmal
der Faust, diesmal
Teil 2, 5. Akt. Kurz
zuvor hat Michael Jaeger den 3. Band seiner
Faust-Trilogie vorgelegt, betitelt: Wanderers Ver-
stummen, Goethes Schweigen, Fausts Tragödie
(2014). Ist der Faust ein kühnes Fortschrittsdrama
oder ein Werk des verzweifelten Weltabschieds
einer  untergehenden  Kultur?  Michael  Jaeger
macht keinen Hehl daraus, daß er der zweiten In-
terpretation anhängt. Ihm zufolge hat Goethe im
Zeichen seiner Italienerfahrung sich selbst bis
zum Ende seines Lebens als jenen Wanderer ver-
standen, der im Schlußkapitel des Faust II als die
verstörendste Figur seines Werks erscheint. Die-
ser Wanderer betritt bei Jaeger quasi als Goethes
alter ego die Bühne.
2015
Dichterworte um des Paradieses Pforte
Von Werken Goethes und ihrer Entstehung II
Prof. Dr. Peter André Alt
Und wandelt mit bedächt'ger Schnelle /
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.
Das Vorspiel als Endspiel: Goethes Faust-Prolog
PD Dr Michael Jaeger (Berlin)
Es ist eine Rekapitulation meines Lebens
und meiner Kunst.
Goethe, der Wanderer und Faust
180
Daniel Wilson konzen-
triert  sich  auf  zwei
Gedichtzyklen  Goethes
nach antiken Vorbildern
– die Römischen Elegien
und die Venezianischen
Epigramme – und deren
Publikationsgeschichte.
Die Elegien sind für Schillers Zeitschrift Die Horen
vorgesehen, eine Auswahl der Venezianischen Epi-
gramme für  den  von  Friedrich  Schiller
herausgegebenen Musen-Almanach. Beide Zyklen
werden zu Goethes
Lebzeiten  (und
auch  später  noch)
nicht  vollständig
abgedruckt.
Als  Herausgeber
liest  Schiller  die
Texte kritisch, be-
spricht mit Goethe, was im Druck mitteilbar wäre,
was  man  seiner  Meinung  nach  streichen  müsse,
bzw.  welche  der  Epigramme  für  den Almanach
überhaupt nicht in Frage kämen – die explizit sexu-
ellen  und  die  anti-
klerikalen.
Zu  den  Kritikern
aus dem Freundes-
kreis gehören ferner
Herder und Herzog
Carl  August.  Goe-
the  zeigt  notabene
Bereitwilligkeit  zu
Änderung und Rücknahme. Die priapischen Ele-
gien, von denen man peinlich berührt ist, werden
entfernt. Schiller sieht sich ferner veranlaßt, Grund-
sätze zu entwickeln, die innerhalb einer erotischen
Literatur  beachtet werden müssen.
Normalerweise nennt man das Zensur. Goethe ist
so etwas gar nicht gewohnt; doch zeigt er sich zäh-
neknirschend  einsichtig.  Striche  von  deutlichen
Ausdrücken aus Prüderie, gar den Austausch ein-
zelner Wörter gegen unverfängliche Bezeichnun-
gen, nimmt er jedoch nicht hin. Da streicht er lieber
ganze Passagen selbst – manches unwiederbring-
lich. Der Dozent bedauert, daß die Gattung der un-
gehemmten erotischen Literatur im Hinblick auf die
Zensur nicht realisiert werden konnte.
Jutta Müller-Tamm führt uns
in die im 19. Jahrhundert neue
und  herausragende Form einer
Autobiographie mit Weltbedeu-
tung ein und begann mit der Fra-
gestellung: An welchem Punkt
seines  Lebens  beginnt  Goethe
eine Autobiographie zu schrei-
ben, mit welcher Intention und
mit welchem Effekt? Sie bietet einen thematischen
und zeitbezogenen Überblick seiner Werke mit au-
tobiographischem Anteil. Aus ihren folgenden Aus-
führungen  werden  die  Einzigartigkeit  und
Verwobenheit von Goethes Leben und Werk und
seine unverwechselbare Individualität deutlich.
Unter dem Titel Ein paar Blicke in die freye Welt –
Goethes  Briefe  aus  der  Schweiz« geht Uwe
Hentschel der Frage nach, wie Goethe Gedanken
zu den Verhältnissen in der Schweiz, die er dreimal
(1775, 1779 und 1797) besuchte, aufgenommen,
entwickelt und später revidiert hat.
Sind es 1775 noch ein Paar Blicke in die freye Welt,
die er sich erhoffte, läßt ein Zitat aus dem Jahre
1796 ganz andere Erkenntnisse vermuten. Goethe
äußerte sich wie folgt: Frei wären die Schweizer?
Frei diese wohlhabenden Bürger in den verschlos-
senen Städten? Frei diese armen Teufel an ihren
Klippen und Felsen? Was man den Menschen nicht
alles weismachen kann!
Prof. Dr. Daniel Wilson (Halle)  
Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte in einem…
Schillers „freundschaftliche“ Zensur der
römischen Elegien und der venezianischen Epigramme
Prof. Dr. Jutta Müller-Tamm (Berlin)
eine Ausgeburt mehr der Notwendigkeit als der Wahl...
Konfession in Bruchstücken –
Zu Goethes autobiographischen Schriften
und ihrer Entstehung
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Chemnitz)
»Ein Paar Blicke in die freye Welt...«
Goethes Briefe aus der Schweiz
181
Elke Richter, wissenschaftliche Mitarbeiterin im
Goethe-Schiller-Archiv,  spricht  über  Goethes
Briefe an Charlotte von Stein, die sie zusammen
mit Georg Kurscheidt u.a. aus den Weimarer Be-
ständen des GSA im Akademie Verlag publiziert.
Der rege Austausch – mit oft mehreren Briefen
am Tag – beginnt 1775, als Goethe als Verfasser
des Werther freundlich in Weimar aufgenommen
wird und endet 1786 mit Goethes Aufbruch zu
seiner ersten Italienreise.
Es sind ca 1.700 Briefe erhalten, oft kleine Zet-
telgen in spezieller Faltung, die einen hohen Grad
an Vertrautheit anzeigen. Sie bezeugen das sehr
komplexe Verhältnis der beiden Briefschreiber.
Nach seiner Rückkehr aus Italien bleibt das Ver-
hältnis Goethes zu Frau von Stein distanziert. Der
Vortrag wird durch die begleitende Lesung von
größeren Briefpassagen einfühlsam und anschau-
lich  durch  die  Schauspielerin  Cora  Chilkott
gestaltet.
In den Mittelpunkt seiner Ausfüh-
rungen  über  die  Entstehungsge-
schichte der Wahlverwandtschaften
stellt Manfred Osten die Gestalt
des Naturforschers Alexander von
Humboldt. Ihn schätzt Goethe be-
kanntlich sehr, obwohl dessen erd-
geschichtliche  Theorien  seinen
eigenen widersprechen. Osten ent-
wirft zudem ein großes Panorama voller Assozia-
tionen, um das Zeitgefühl des frühen 19. Jahrhun-
derts zu beschreiben: Es ist jetzt alles ultra!, wie
es Goethe ausdrückte – die Veränderungen und
der Umsturz der alten Ordnungen durch die Fran-
zösische Revolution ebenso wie die gravierenden
Folgen der Industriellen Revolution.
Diese ließen sich – so der Referent – z. T. auch
in den Wahlverwandtschaften ablesen. Hierfür
nennt er einige Textstellen, die einige Mitglieder
in der anschließenden lebhaften Diskussion aller-
dings nicht stichhaltig finden. Die Erkenntnis,
daß jeder aus den Wahlverwandtschaften heraus-
liest,  was  seinen  persönlichen  Beziehungs-
erfahrungen  entspricht, ist ja keine  ganz neue
Einsicht.
Dr. Elke Richter (Weimar)
Wie kann ich seyn ohne Ihnen zu schreiben?
Goethes Briefe an Charlotte von Stein
Dr. Manfred Osten (Bonn)
Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen
Alexander von Humboldt, ein abgründiger Name
in Goethes Wahlverwandtschaften
182
Volker Hesse spricht
über  Goethes Far-
benlehre, die in zwei
Bänden  1808  und
1810,  als  Textband
und  als  Tafelteil  in
zwei  Formaten  bei
Cotta  erscheint.  Er
selbst  sieht  dies  als
sein  Hauptwerk  an,
empfindet  er  sich
doch in erster Linie
als  Wissenschaftler,
dann erst als Dichter.
Auf diesem Feld sieht er sich auch Newton über-
legen.
Seine  Beobachtungen  zur  Lichtbrechung  und
zum Prisma bringen ihn zur Erkenntnis, daß das
Licht  farblos  sei,  da  die  Farben  sich  erst  im
menschlichen Gehirn zusammensetzen und nicht
den Dingen eigen sind. Die Wissenschaft vom
Licht hat auch Auswirkungen auf seine Vorstel-
lungen von der Harmonie von Farben, sowohl bei
Räumen  als  auch
bei  Kleidern  ver-
schiedener Perso-
nentypen. Ergänzt
durch eine Power-
point-Präsentation
ist  der  Vortrag
trotz der schwieri-
gen  Materie  ganz
besonders  an-
schaulich.
Für Steffen Martus, den frisch gebackenen Leib-
niz-Preisträger und Gründungsinhaber eines neu
eingerichteten Lehrstuhls für Neuere deutsche Li-
teratur an der HU-Berlin, scheint das recht ambi-
tionierte Vortragsthema gerade angemessen: Die
Entstehung von Goethes literarischem Lebens-
werk – mal eben so in einer Stunde.
Der Referent dämpft jedoch gleich zu Beginn die
Erwartungen des Auditoriums: Es werde nicht so
sehr  inhaltlich  um  Goethes  literarisches  Ver-
mächtnis an die Nachwelt gehen; vielmehr wolle
er verdeutlichen, daß dieser auch im bewußten
Umgang mit dem eigenen Werk neue Impulse ge-
setzt habe.
Waren  Gottsched,  Gellert  und  Wieland  noch
damit beschäftigt, die eigene, später als mangel-
haft empfundene Jugendlyrik nachzubessern und
mehr oder weniger gelungen ins eigene Werk zu
integrieren, entdeckt Goethe um 1800 die eigene
Historizität  und  trachtet  bereits  bei  der  ersten
vollständigen Werkausgabe für den Verlag Unger
danach, den Wünschen der Leser entgegen zu
kommen.
Wie  Martus  anschaulich  ausführt,  überläßt  er
nichts  dem  Zufall.  Ein  Beispiel  unter  vielen:
Goethe entscheidet, daß die Gedichte an den An-
fang der Werkausgabe kommen sollten, da sie be-
reits  einen  Überblick  auf  die  verschiedenen
Lebensabschnitte vermitteln. Dies wird seitdem
von allen Dichtern übernommen. Goethe wieder
mal als Wegbereiter, aber das kennen wir ja von
ihm.
Prof. Dr. Volker Hesse (Berlin )
daß die einzelnen Farben besondere
Gemütsstimmungen geben...
Goethes Verständnis des Lichtes
Prof. Dr. Steffen Martus (Berlin)
des Verfassers Naturell, Bildung, Fortschreiten und
vielfaches Versuchen nach allen Seiten hin klar
vor‘s Auge zu bringen...
Die Entstehung von Goethes Lebenswerk
183
Jochen Golz betont zunächst einmal, wie wichtig
der Aspekt des Weltbürgers für die internationale
Goethe-Rezeption sei, nicht zuletzt deshalb gehöre
sein  Nachlaß  zum  Weltkulturerbe  der  Unesco.
Schon früh lernt Goethe neben Latein auch Franzö-
sisch, Italienisch und Englisch und vertieft durch
Reisen seine Kenntnisse fremder Länder. Zudem ist
er mit den Werken der Weltliteratur vertraut, etwa
denen  Torquato  Tassos,   Voltaires  oder  William
Shakespeares.
Hinzu kommen die Religionen, neben der christli-
chen auch das Judentum und der Islam, in denen
sich Goethe bestens auskennt. Seine Erläuterungen
zum West-östlichen  Divan sind  dafür  ein  gutes
Zeugnis. In den Wanderjahren, etwa mit den Aus-
wanderungsplänen Lenardos, konkretisiert er seine
Vorstellung vom Weltbürgertum. Hier geht es nicht
um die Anhäufung von Besitz, sondern um die glo-
bale Perspektive: Trachte jeder sich selbst und an-
deren zu nützen.
Christof  Wingertszahn gibt  uns  Einblicke  in
Goethes lebenslange Beschäftigung mit England.
Die englische Tagespolitik verfolgt er durch inten-
sive Zeitungslektüre, lehnt aber das parlamentari-
sche  System  und  den  Streit  der  Parteien  ab.  Er
schätzt  den  englischen  Nationalcharakter  mit
Eigenschaften wie Nationalstolz, Selbstdenken, und
Geschäftigkeit; wobei sein Englandbild ganz den
Klischees der Zeit entspricht.
In seinen frühen Jahren ist er von Oliver Goldsmith
und dessen Vicar of Wakefield angezogen, der auch
im Werther seinen Niederschlag findet Doch vor
allem ist es Shakespeare, besonders Hamlet, mit
dem er sich nicht nur im Wilhelm Meister, sondern
bis zum Ende seines langen Lebens beschäftigt.
Theo Buck steckte den Zeithorizont für Goethes
Beziehungen  zu  Frankreich  ab.  Die  wichtigsten
Stichworte sind dabei die Französische Revolution,
die er verabscheut und Napoleon, den er trotz seines
Despotismus bewundert sowie die Juli-Revolution
in Paris von 1830. Der französischen Kultur gegen-
über ist er von Jugend an aufgeschlossen, kommt
er doch damit schon in Kontakt durch die Einquar-
tierung  des  Comte  de  Thoranc  1758  in  seinem
Elternhaus.
Seine Kenntnisse des Landes sind dagegen gering,
er kennt nur Lothringen durch die Campagne in
Frankreich von 1792 mit der Kanonade von Valmy.
Sein Frankreichbild basiert nahezu ausschließlich
auf Kenntnissen der französischen  Literatur vom
16. bis 18. Jahrhundert. Vertraut ist er mit den Wer-
ken von Montaigne, Rabelais, Molière, Diderot und
Voltaire, liest jedoch kaum die französischen Ro-
mantiker.
In Weimar lebt er nach der Begegnung mit Napo-
leon (1808 in Erfurt) als Zaungast der Weltpolitik,
liest Le  Globe und  empfängt  viele  französische
Besucher,  darunter  Benjamin  Constant,  David
d'Angers, Victor Cousin u.a..
2016
Weltbürger Goethe
Die Existenzen fremder Menschen sind die besten
Spiegel, worin wir die unsrige erkennen können...
Dr. habil. Jochen Golz (Weimar)
Einführung
Der Weltbürger Goethe
Prof. Dr. Christof Wingertszahn (Düsseldorf)
Käme ich nach England hinüber,
so würde ich kein Fremder seyn…
Goethe und England
Prof. Dr. Theo Buck (Aachen)  
Die Franzosen haben bisher immer den Ruhm
gehabt, die geistreichste Nation zu sein,
und sie verdienen es zu bleiben...
Goethes intensive Beschäftigung mit Frankreich
184
Michael  Maurer un-
ternimmt den Versuch,
die Reise Goethes nach
Italien  1786  bis  1788
kulturgeschichtlich zu
verorten, indem er des-
sen  große  Vorläufer
mit  ihren  Reise-Wer-
ken einbezieht. Festzu-
stellen  ist  neben  einem  Formwandel  von  dem
enzyklopädischen  Bericht  (Johann  Jacob  Volk-
mann)  hin  zur  subjektiv-literarischen  Reisebe-
schreibung  (Karl Philipp Moritz);  gleichsam ein
Funktionswandel von der Kavalierstour hin zur mo-
dernen Bildungsreise.
Goethes Weg zur Selbstverwirklichung und Pers-
önlichkeitsbildung, den er in Italien beschreitet, sei
mit  dem  Kulturmuster  einer  Pilgerfahrt  zu  ver-
gleichen, die – ins Profan-Künstlerische  gewendet
– ihr Heilsversprechen in dem klassisch-humanis-
tischen Bildungserlebnis findet, was die Reise bis
in die Gegenwart hinein interessant und nachah-
menswert erscheinen läßt.
Obgleich Goethe mehr Lebenszeit in Böhmen ver-
bringt als in Italien, ist das wissenschaftliche Inte-
resse ungleichgewichtig ausgeprägt, was wohl auch
dem Sachverhalt geschuldet ist, daß Goethe in Ita-
lien eine »Wiedergeburt« erlebt und sich von Rom
aus auf dem Weg zum (Weimarer) Klassiker macht.
Dabei sind seine so zahlreichen Aufenthalte in den
Böhmischen Bädern biographisch und geistesge-
schichtlich  nicht  weniger  bedeutsam,  bilden  sie
doch für ihn – wie Uwe Hentschel herausarbeitet
– sowohl einen intellektuellen Marktplatz als auch
einen Rückzugsraum inmitten
einer sich verändernden Welt.
Im Unterschied zu den vielen
Bäder-Reisenden, die kaum
Interesse für die böhmische
Landschaft zeigen und in ihren
(wenigen) Reiseberichten vor
allem Vorurteile über deren
Bewohner zum Ausdruck brin-
gen, erweist sich gerade im
Vergleich zu diesen die beson-
dere Leistung des Böhmen-
Besuchers Goethe, der sich
mit der Kultur und Geschichte
des Landes eindringlich befaßt
und so zu einem der besten
deutschen Böhmen-Kenner
avanciert.
Manfred Osten sieht mehrere Übereinstimmungen
zwischen Goethes eigener Weltanschauung und der
fernöstlichen Philosophie. Bereits früh beschäftigt
er sich mit den wichtigsten Werken der konfuziani-
schen Klassik.
Insbesondere sind es die auf Harmonie und Mäßi-
gung zielenden Lehren und die Forderung, durch
ständige eigene Selbstvervollkommnung die Vo-
raussetzung für eine allgemeine Weltverbesserung
zu schaffen. Diese Geisteshaltung sucht Goethe zu
übernehmen und auch immer wieder in seinem
Spätwerk zu veranschaulichen, nicht zuletzt in
dem Gedichtzyklus Chinesisch deutsche Jahres-
und Tageszeiten. Im Lichte dieser von Osten
aufgezeigten Auf- und Übernahme konfuzia-
nischen Denkens setzt Ende des 19. Jahr-
hunderts im Zuge der Meiji-Restauration in
Fernost eine stürmische Goethe-Rezeption ein.
Prof. Dr. Michael Maurer (Jena)
Gewiss, man muß sich einen eigenen
Sinn machen, Rom zu sehen...
Kulturmuster Bildungsreise
– Goethe in Italien und die Folgen
Prof. Uwe Hentschel (Chemnitz)
Was sonst Jena für mich war,
soll künftig Carlsbad werden
Die böhmischen Bäder:
Refugium und intellektueller Marktplatz    
Dr. Manfred Osten (Bonn)
Ich habe mir dieses wichtige Land aufgehoben,
um mich im Fall dahin zu flüchten..
Goethe, ein fernöstlicher Weltbürger
185
Volker Hesse lenkt via Powerpoint unseren Blick
im  November  auf Goethes   Interesse  an  Süd-
amerika. Durch den Kontakt mit den Brüdern
Humboldt  oder  Johann  Reinhold  und  Georg
Forster, die ihm 1783 ihre Dokumentation der
Reise nach Haiti schenken, wird Goethes Inte-
resse an fremden Ländern noch weiter bestärkt.
1794 trifft er sich mit Alexander von Humboldt
und Schiller in Jena zu einem intensiven Gedan-
kenaustausch über naturkundliche  Fragen. Die
Entdeckungen der Naturforscher  bestärken seine
Metamorphosen-Theorien,  denn  Morphologie
und Physiologie begegnen sich hier quasi in der
Mitte.
Humboldts Reiseberichte über Nord- und Süd-
amerika regen  ihn an  zu einem Entwurf  einer
großen Ansicht der europäischen und der ameri-
kanischen Gebirge mit deutlicher Markierung der
Höhenunterschiede . Auch für die Werke anderer
zeitgenössischer  Weltreisender  interessiert  er
sich, wie etwa die des Prinzen Maximilian zu
Wied-Neuwied und dessen Reise nach Brasilien
oder die von K. Ph. von Martius, der Goethe auch
in Weimar besucht. Weimar wird zu einem Zen-
trum des Interesses an Südamerika.
Hier  diskutiert  man  z.B.  bereits  die  Idee  des
Panama-Kanals, lange bevor er 1914 tatsächlich
gebaut wird. Daniel Nees von Esenbeck, mit dem
Goethe ebenfalls in regem naturkundlichen Aus-
tausch steht, benennt 1823  sogar ein  Malven-
gewächs nach ihm, die Goethea Cauliflora, den
Goethebaum, das Sinnbild ewiger Jugend und
freudiger Vergnügung.
Unsere wichtigste Quelle für Goethes Verständnis
des Koran sind neben den Gedichten aus dem
Divan – so Manfred Osten – besonders die dazu
gehörenden Noten und Abhandlungen. Seine Ur-
teile über das Furchtbare und die Vorzüge des
Islam entsprechen ganz der Ambivalenz seines
Denkens. Zu dem Furchtbaren gehört das Fehlen
der gebildeten Zustände und autonomen Lesers,
wird doch der Koran als unmittelbar von Gott
gegeben verstanden.
Hinzu kommen die versiegelte Sprache und die
Dominanz der mündlichen Überlieferung. Bei der
Verschriftlichung werden die fehlenden diakriti-
schen Zeichen im Arabischen und damit die man-
gelnde Eindeutigkeit zum Problem, das auch bis
heute andauert.
So  gehört  es  z.  B.  zu  den  Reformleistungen
Kemal Atatürks in der Türkei, daß er die lateini-
sche Schrift einführte. Die Größe und Erhaben-
heit Gottes, wie sie sich im Koran ausdrückt, hat
Goethe sehr geschätzt.
Voltaires erfolgreiches Stück Mahomet von 1741
kann Goethe nur als Verunglimpfung verstehen.
Die  deutsche  Übersetzung  des Diwan von
Schemsed-din Hafis, 1812/13 bei Cotta erschie-
nen, übt eine große Faszination auf ihn aus, ja er
fühlte sich sogar als dessen geistiger Zwillings-
bruder.  Mit  Hafis  verbindet  Goethe  auch  die
Nähe zur arabischen Mystik, dem Sufismus, der
unmittelbaren Erkenntnis Gottes, wie sie sich im
Bild von Gott atmen ausdrückt.
Prof. Dr Volker Hesse
Ich habe selbst ein Landschaftsbild phantasiert
Goethes Interesse an Südamerika
Dr. Manfred Osten (Bonn)
Der Koran ist streng, furchtbar und groß.
Zur Modernität von Goethes Islam-Verständnis   
186
Das Thema »Flucht« bzw. »Flüchtlinge« durch-
zieht – so Michael Jaeger – Goethes gesamtes
literarisches Werk. So sieht er z. B. den raschen
Aufbruch nach Italien (1786) aus dieser Perspek-
tive. Angelehnt an das große Vorbild von Ovids
Tristitia stilisiert er das Ende der Italienischen
Reise ebenfalls als Flucht.
Ausdrücklich  thematisiert  aber  werden  die
Flüchtlinge  im  Epos Hermann  und  Dorothea
(1797).  Hier  erhalten  die  Gestalten  durch  das
Versmaß des Hexameters geradezu einen arche-
typischen Charakter. Wichtig wird das Thema
auch  in  Goethes Iphigenie in  der  Gestalt  des
Orest. Der heilige Hain der Priesterin bietet dem
Flüchtling Schutz vor den Verfolgern.
Das Motiv des Schutzes im heiligen Hain ver-
wendet Goethe auch im Faust II. Die Erfahrun-
gen des Epochen- und Traditionsbruchs durch die
Französische Revolution und die beginnende In-
dustrialisierung finden sich hier in der Figur des
Wanderers und in dem Mord an Philemon und
Baucis sowie der Vernichtung ihrer Heimstatt.
Auch in den autobiographischen Schriften wie
der Campagne in Frankreich (1792) ist diese Vor-
stellung anzutreffen.
So berichtet Goethe, daß er, um der Lynchjustiz
Einhalt  zu  gebieten,  nach  der  Eroberung  von
Mainz den Platz vor dem Zelt des Herzogs zum
Heiligen Hain erklärt hatte. Damit wurde eine
formale Rechtssicherheit für die Flüchtenden her-
gestellt.
Der  Ausdruck Weltliteratur ist  –  so Hendrik
Birus – eine der folgenreichsten Wortprägungen
des  späten  Goethe,  die  sich  zunächst  in  der
deutschsprachigen  Literaturwissenschaft  rasch
durchsetzt. Für den damit angestrebten enzyklo-
pädischen  Überblick über  die verschiedensten
Literaturen der Welt hat Goethe selbst in seinen
Schriften zur Literatur ein beeindruckendes Bei-
spiel gegeben; denn deren Spannweite reicht von
den Literaturen des Nahen und Fernen Ostens
über die Klassische Antike und das Mittelalter bis
zu den zeitgenössischen europäischen National-
literaturen.
Sie werden ergänzt durch Goethes literarische
Übersetzungen nicht nur aus den gängigen euro-
päischen Sprachen, sondern  auch aus dem Alten
Testament und dem Koran, der klassischen ara-
bischen Poesie und der Edda; ja schließlich durch
seine produktive Rezeption der persischen und
chinesischen  Lyrik  im West-östlichen  Divan
(1819) und in den Chinesisch-deutschen Jahres-
und Tageszeiten (1829).
Diese Weltliteratur, d.h. Vermittlung und Aus-
tausch zwischen den  Eliten, wie  es Goethe in
Über Kunst und Altertum (1816) andeutet, unter-
scheidet sich deutlich von der ansteigenden Flut
der  Tagesliteratur,  die  durch  die  zunehmende
Kommunikation immer schneller und weiter ver-
breitet wird.
Für die Aneignung der ausländischen Literatur
sind die Übersetzungen ein wichtiges Mittel, die
auch dem Austausch dienen. Für die fremde Li-
teratur prägt Goethe den Begriff das Ausheimi-
schen,  der  den  bekannten  des Einheimischen
ergänzen sollte. Eine neue Weltliteratur soll auch
die Nationen nach den fürchterlichsten Kriegen
wieder annähern.
PD Dr. Michael Jaeger (Berlin)
Vom Strudel der Zeit ergriffen
Goethes Flüchtlinge
Prof. Dr. Hendrik Birus (München)
...daß die von mir angerufene Weltliteratur auf mich,
wie auf den Zauberlehrling, zum ersäufen zuströmt.
Goethes Idee der Weltliteratur
187
    
2017  
          
Dr. Manfred Osten (Bonn)      
Gedenke zu leben, wage glücklich zu sein             
Die Liebe   Goethes Glücksgeheimnis.  
                                  
Prof. Dr. Thorsten Valk (Weimar)  
Als wären sie auf dieser Welt allein...  
Erotische Rollenspiele in der Lyrik des jungen
Goethe  
    
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Chemnitz/Berlin)   
Umfangend umfangen...  
Zur Natur- und Liebesdichtung im Sturm u.Drang.
Detlef Schönewald (Berlin)  
Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles.   
Der 'Werther'- ein Liebesversuch
                  
Dr. Heike Spies (Düsseldorf)           
Amor bleibet ein Schalck .. .
Verlobung und Hochzeit im Goethe- Umkreis
Beate Schubert   
Mein Leben nur an Deinem hängt..
Goethes Briefe und Zettelgen an  
Charlotte von Stein
          .                                                  
Dr. Monika Estermann   
Auch auf dem festen Land gibt es wohl Schiffbruch...  
Die Wahlverwandtschafte ein lit. Experiment
                                                                                                                              
Dr. Manfred Osten   
Die Liebe im West-östlichen Divan
Wunderlichstes Buch der Bücher...        
    
Prof. Dr. Dirk von Petersdorff  
Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren
Die letzte Liebeserschütterung in der  
Marienbader Elegie
Manfred  Osten  stellte  den  Begriff  der
Liebe als ein allgemeines Lebensprinzip dar,
zu  der  auch  die    erotische  Liebe  zählt.
Leben  und  Liebe  bilden  einen  engen
Zusammenhang,  denn  die  Negation  des
Lebens ist der Tod.  
Da  Goethe  selbst    bei  seiner  Geburt
zunächst für eine Totgeburt gehalten wurde,
fühlte  er  sich  stets  besonders  dem  Leben
zugewandt. Als  Beispiel zitierte   Osten  das
nach dem Tod des Herzogs Karl
August in Dornburg entstandene
Gedicht An  den  aufgehenden
Vollmond  vom  25.8.1828
Schlägt  mein  Herz  auch
schmerzlich  schneller,  /
Überselig in die Nacht.  
Für  Goethes    Zeit  sah  Osten
zwei Unglücksphänomene:  Der
Französische Revolution und die
Industrialisierung. Beide führten
zur  Negation  des  Lebens  und
beförderten  die  Unfähigkeit  im
Heute  zu leben.  Symptomatisch
war dafür die Sorge ein Faust II:
und verhungert in der Fülle. Die
beschleunigte  Kommunikation
hatte  die  negative  Folge,  dass
sie  auch  die  Mittelmäßigkeit
vorantrieb. Das Rettungsmittel aber war die
Liebe,  etwa  im Chor  der  Engel beim  Tod
des Faust. Das höchste und beste Mittel zum
Leben  ist  jedoch  die  Begeisterung,  da  sie
schöpferisch ist.   
  
Die  frühen  lyrischen  Texte,  die  Goethe  als
junger  Student  in  Leipzig  verfasste,  so  das
Buch  Annette  von  1767,  wurden    von  der
Goetheforschung    so Thorsten  Valk lange
für unbedeutend  gehalten und  weitestgehend
ignoriert.  
Die  Gedichte  entsprachen  angesichts  ihres
anakreontisch-erotischen  Spielcharakters  
nicht  der  Vorstellung  der  späteren
Erlebnislyrik  und  wurden  deshalb
formal  und  moralisch    als
Französelei abgelehnt. Dabei zeigten
diese  Gedichte-  so  der  Referent-
bereits  Goethes  großes  Können,  das
die  Topoi  der  Rokokolyrik  weit
hinter  sich  ließ.  Valk  konzentrierte
sich  vor  allem  auf  die  Analyse  der
beiden  Fassungen  des  Gedichts
Triumph der Tugend.  
In der    zwoten Erzählung wurde die
Figur  eines    Beobachters  mittels
eines verschwiegnen  kalten  Spiegels
eingeführt,  damit  sei  bereits  das
verbreitete Schema der  Rokokolyrik
erweitert und der Rezeptionsvorgang
verändert,  der  Leser  direkt  in  das
Rollenspiel einbezogen worden.   
Im Unterschied zum vorhergehenden
Vortrag  konnte  jetzt,  für  die  siebziger  Jahre
des  18.  Jahrhunderts,  ein  emphatischer
Naturbegriff,  wie  er  in  der  Nachfolge
Rousseaus enstand,  herausgearbeitet werden.
Er zeigte sich beispielsweise bei den Helden
Shakespeares,  bei  den edlen  Wilden  der
Südsee oder aber bei den Schweizer Hirten.  
In  Goethes Werther  werden    die
verschiedenen  zivilisationskritischen
Vorstellungen  besonders  deutlich  und
kompakt.  Und  auch in Goethes Mailied  von
1771/1775,  welches  der Uwe  Hentschel  
neben  den Ganymed-Gedicht  heranzog,
konnte  eine  Abkehr
vom  Rokoko  und  der
Gewinn  einer  neuen
Naturinnigkeit,  der
Einheit  von  lyrischem
Ich  und voller  Welt,
festgestellt werden.  
Im Sturm  und  Drang
entstand in der Abkehr
vom  Rokoko  eine
neue,  wahrhaftige
Naturinnigkeit, die Verbindung von lyrischem
Ich  und wahrem  Ich  ,  die  sich    wie  der
Referent  in  einem Vergleich  mit Texten  von
Eichendorff  und  Rilke  herausarbeitete    in
der Moderne verloren hat.
Im  ersten Teil  seines Vortrags
stellt  Detlef  Schönewald  den
literarischen und den   biogra-
phischen  Hintergrund  von
Goethes  zeitgenössischem
Briefroman  dar:  Goethes
Aufenthalt  in  Wetzlar  1772,
seine  Liebe  zu  Lotte  Buff
sowie seine Bekanntschaft mit Kestner u.a. Der
zweite  Teil  befaßte  sich  mit  der
Figurenkonstellation  der  Roman-Protagonisten
Werther,  Lotte  und Albert.  Werthers
Entwicklung,  seine  zerrissene  Persönlichkeit,
Selbstmordgedanken und Naturbegeisterung, oft
wiederum  durch  Literatur  vermittelt
(Klopstock!)  sowie
sein  Eskapismus
(Ossian)  waren
Schwerpunkte  des
Referats,  die  zur
Erklärung  des
Scheiterns  des
Liebesversuchs
angeführt wurden.   
    Der  zweite  Teil
fokussierte  das
Problem  der  Figurenkonstellationen  des
Romans:  Werther,  Lotte  und  Albert.  Werthers
Entwicklung,  seine  zerrissene  Persönlichkeit,
Selbstmordgedanken und Naturbegeisterung, oft
wiederum  durch  Literatur  vermittelt
(Klopstock!)  und  sein  Eskapismus  (Ossian)
dienten  als  Erklärung  für  seine  zögerliche
Annäherung  an  Lotte,  das  Scheitern  des
Liebesversuchs  sowie  den  Selbstmord  der
Hauptfigur.
     Ausgehend  von  der  13.  Elegie  und  dem
Gedichte Der  Bräutigam stellt    Heike  Spies
verschiedene Situationen in Goethes Leben vor,
in denen er die Rolle eines Bräutigams einnahm,
so  etwa  1775  bei  der  Verlobung  mit  Lili
Schönemann. Über  diese  Situation  sind wir vor
allem  als  der  Perspektive  des  Alters,  durch
Dichtung  und  Wahrheit informiert.  1788,  als
Christiane in Weimar in  Goethes   Haus einzog,
verzichtete man auf alle Rituale, ebenso bei der
erst 18 Jahr später vollzogenen Hochzeit, die nur
in der Sakristei stattfand.  
     Amor, seine Pfeile und sein dämonisches Wesen
wurden  schon  früh  in  dem  Gedicht Amor  als
Landschaftsmaler
thematisiert,  das  Goethe
1787 in  Rom  unter  dem
Einfluß  des  Malers
Philipp  Hackert  verfaßt
hatte.  Das  Thema
Verlobung  und  Hochzeit
findet  sich  auch  in
anderen Werken, so dem
Epos Hermann  und
Dorothea,  wo  rasch  und
verantwortungsvoll, geradezu modern anmutend,
die Ehe vollzogen wurde, waren doch am Ende
des  18.  Jahrhunderts  lange  Verlobungszeiten
nicht zuletzt  auch aus wirtschaftlichen Gründen
noch üblich. Beispielsweise heiratete Eckermann
erst nach 11jähriger Verlobungszeit.     
Beate  Schubert skizziert  die    wechselvolle
Geschichte  der  10-
jährigen  Beziehung
Goethes  im  ersten
Weimarer  Jahrzehnt
zu  der sieben  Jahre
älteren verheirateten
Charlotte  von  Stein
anhand  einer
gezielten Auswahl aus den  rund 1600 zumeist                   
  hoch  emotionalen  Briefen,  Zettelgen  und
Gedichten, die Goethe seiner Lida bis zu seinem
Aufbruch nach Italien im September 1786 sandte
und  die  hier  von  dem
Schauspieler  Christian
Schmidt  gelesen
wurden.  Goethes  
Schreiben  von
unterwegs  aus  Rom,
Neapel  und  Sizilien,
sind  überwiegend    in
lakonischem  Ton  abgefaßte  Reiseberichte,  die
auch  für  den  restlichen  Freundeskreis  zur
Lektüre  bestimmt  waren,  verdeutlichen  die
Auflösung    der  Beziehung,  ohne dies  eindeutig
zu thematisieren. Die jeweiligen Stationen dieses
Liebesverhältnisses,  das  in  die
Literaturgeschichte  eingegangen  ist,
veranschaulichte  die  Referentin  mit  über  100
Bildern  einer    Power-Point-Präsentation,    die
verdeutlichten, daß  es  sich  hier  keineswegs  um
eine verheimlichte Liaison handelte, sondern um
eine  Beziehung,  die  vom  Weimarer  Hof  ganz
offenkundig  toleriert  worden  war.  Der
Schauspieler  Christian  Schmidt  las  Goethes
Briefe  und  unser  Mitglied,  die  Schauspielerin
Cora  Chilcott  die  wenigen  Briefzeugnisse
Charlottes, die sich zufällig erhalten haben.
Von  den vielen  Deutungsmöglichkeiten dieses
komplexen Romans wählt Monika Estermann
hier  die  Perspektive  auf  das
naturwissenschaftliche  Experiment.  Das
chemische  Gleichnis  und  die  Auswirkung  der
magischen  Anziehungskraft  auf  die  Handlung
bildeten  einen  Schlüssel  zum  Verständnis  der
Hauptpersonen. Goethe  
nahm  ja  sogar  in  die
Sprache des Romans das
chemische  Vokabular
seiner Zeit auf.  
Die  Anziehungskraft
beeinflußte auch die Art
ihrer Wahrnehmung,  die
vom Wunschdenken und
der  Selbsttäuschung
geprägt war.  
Dem  Hauptstrang  wurden  von  der  Referentin
die  anderen  wichtigen  Themen,  wie  z.  B.  die
Natur  und  der  Garten,  untergeordnet,  obwohl
auch hier ein enger Bezug besteht, z. B. bei den
Platanen  zu  Eduard  und  Ottilie.  Die
Anziehungskraft konnte nur Ottilie durch ihren
Hungertod,  die  Auslöschung  ihrer  physischen
Natur, überwinden.  
  
  
Manfred  Osten  nimmt
einige  Stellen  im Buch
der Liebe zum Anlaß, um
über das Thema der Liebe
bei  Goethe
perspektivenreich  zu
referieren.  Im  Zentrum
seines    Vortrags  stand
dabei  die  von  beiden
verheirateten  Beteiligten
ungewollte    Entsagung  und    schließlich
Trennung, die  Goethes Beziehung  zu  Marianne
von Willemer, der Suleika des Divan prägte.  
Gemäß  seiner  Interpretation  der  Strophen:
Wunderlichstes  Buch  der  Bücher,  ist  das  Buch
der Liebe/Aufmerksam hab' ich's gelesen/ Wenig
Blätter Freuden/ Ganze Hefte Leiden. liefern sie
den  Schlüssel  zur
Auffassung  Goethes
von  der  Liebe  
schlechthin, die nur  in
Zusammenhang  mit
Schmerzen und Leiden
ihre  eigentliche
Qualität  entfalte.  Wie
immer,  wenn  die
Beziehung  ohne
Erfüllung    zu  bleiben
drohte,  wurde  Goethe,
um  diese  Leiden
ertragen  zu  können,  auch  hier  wieder  die
Dichtkunst zum Rettungsmittel .
Zu  guter  Letzt  beglückte  uns Dirk  von
Petersdorff    mit  einer  erfrischenden
Interpretation  der Marienbader  Elegie,  deren
biographische  Entstehungskomponenten    die
leidenschaftliche  Liebe
des  74-jährigen    Dichters
zu der 17-jährigen  Ulrike
von  Levetzow    er
keineswegs  als  tragische
Altersliebe  sondern  als
peinliche  Verirrung
bezeichnete.  
Die Elegie, von  Goethe    niedergeschrieben  nach
dem  Abschied  unterwegs  in  einer  Kutsche,  wird  
hier  ebenso  kenntnisreich  wie  prosaisch  in  ihre
Bestandteile  zerlegt  und  offenbart  mit  ihren
Zeitsprüngen  und  Ortswechseln,  räumlichen
Inkohärenzen  und  inhaltlichen  Wiederholungen
seine    Verzweiflung  und    innere    chaotische
Verfassung.  Das
Bekenntnis  der
Schlußverse,  diese
nicht  erfüllbare  Liebe
habe  ihn zugrunde
gerichtet,  erscheint  auch  hier  erneut  im  
nachhinein als meisterliche poetische Bewältigung
und  Aufarbeitung  der  Realität;  mehrere  Wochen
Katharsis  und  ernsthafte  Herzschmerzen  folgen,
danach beginnt er mit der Arbeit am Faust II.
2018  
Goethe als Vordenker und  Wegbereiter
                      
Prof. Dr. Uwe Hentschel (Berlin/Chemnitz)  
Moderne Klassik   Klassik der Moderne?  
Über die Aktualität von Goethes Werken
Dr. Manfred Osten (Bonn)  
Bin ich der Flüchtling nicht, der Unbehauste  
Goethe, ein Vordenker der Migrationskrisen des
21. Jahrhunderts       
       
Prof. Dr. Olaf L. Müller (Berlin)
Mehr Licht !
Goethe als Naturwissenschaftler- eine Rehabilitation !   
                   
Prof. Dr. Bertram Schefold (Fft a.M.)
Ich muß mich um den Geldkurs bekümmern,  
wechseln, bezahlen,schreiben,  
anstatt  daß ich sonst nur dachte, sann und diktierte..     
                                                                                                                                 
Goethe und die moderne Wirtschaft
                    
Prof. Dr.  Uwe Hentschel (Berlin)
Der Trieb, das leben zu hegen und zu pflegen,
ist einem jeden unverwüstlich eingeboren
Goethes Stadtflucht oder warum  
wir alle einen Kleingarten haben wollen
Podiumsdiskussion:
Dr. Manfred Osten (Bonn) und
Prof. Dr. Rüdiger Safranski (Badenweiler)  
...wage es, glücklich zu sein
Das Glück bei Goethe oder  
die Kunst des Überlebens
Podiumsdiskussion:
Dr. Sarah Wagenknecht (Berlin  
Dr. Manfred Osten (Bonn)  
und PD Dr. Michael Jaeger(Berlin)
auf freiem Grund mit freiem Volke stehn  
Alptraum oder Utopie
                                     
Prof. Theo Buck (Aachen)  
Ich werde sorgen, daß die Theile anmutig  
und unterhalten sind  und etwas
denken lassen
Goethe als Dramaturg des
modernen Theaters
Dr. Bernhard Fischer (Weimar)
Die Buchhändler sind alle des Teufels,  
für sie muß es eine eigene Hölle geben.
Goethe und Cotta auf dem Weg  
zum modernen Urheberrecht                                                     
                               
Dr. Michael Jaeger (Berlin)
Raufebold, Habebald und Haltefest
Feuermaschinen Goethe und Marx
                  
     
Eine moderne zivilisationskritische
Sicht auf die zeitgenössische
Wirklichkeit attestiert die
Literaturgeschichtsschreibung zwar
den  Frühromantikern sowie den
Dichtern Kleist und Hölderlin, den  
zeitgleich schreibenden Weimarer
Klassikern verweigert sie jedoch    
abgesehen vom Spätwerk Goethes ebendieses
Zeugnis bis heute noch immer. Diesem Befund
begegne Uwe  Hentschel, indem er sowohl
biographie- als auch werkbezogen den Nachweis
erbringt, daß auch Goethe und Schiller in der
Enklave Weimar/Jena von den gesellschaftlichen
Modernisierungsprozessen am Ende des 18.
Jahrhunderts betroffen gewesen sind und daß sie mit
ihren Texten auf diese inkommensurablen
Herausforderungen originär reagieren. Ob es sich
um abstrakte Wissenschaftsauffassungen, den
(freien) Buchmarkt, um großstädtische Lebenskultur
oder um sich beschleunigende Verkehrsformen
handelt, die Klassiker formulieren bemerkenswerte
Ansichten zu diesen auch heute noch
hochaktuellen Themen.      Wenn man
die Modernitätserfahrungen der
Klassiker und deren
Bewältigungsstrategien zwischen
1794 und 1805 vor dem Hintergrund
unserer Wahrnehmung dieser
gesellschaftlichen Prozesse beleuchtet,
werden Berührungspunkte offenbar,
wo bisher Trennlinien verliefen.
In Goethes Beschäftigung mit dem
Migrationsthema - so Manfred Osten
- gibt es zwei imaginierte Ziele:  
China, ablesbar an den Chinesisch-
deutsche Jahres-und Tageszeiten
(1829)  und, weitaus markanter, der
Orient, wofür besonders der West-
östliche Divan (1819) steht. Die Noten
und Abhandlungen zu besserem
Verständnis des Divan zeigen sein
zwiespältiges Verhältnis zum Orient. Dafür steht
besonders die Bedeutung des Koran: Er ist dunkel,
verbietet jeden Zweifel und auch das europäische
Verständnis eines theo-philosophischen Werks ist
nicht möglich.  
Goethes Beschäftigung mit dem Orient ist die Folge
der tiefen Erschütterungen, die die Französische und
die industrielle Revolution auslösen. Beide
verursachen Migrationsbewegungen, ja das
Schicksal der Emigration konnte jeden treffen. Vor
allem die industrielle Revolution beschleunigt  die
Kommunikation und den Konsum, sie bewirkt eine
Zunahme des Verkehrs. Diese Themen finden sich
auch in  Faust II.  Dort stehen Philemon und Baucis
der neuen Beschleunigung im Wege und werden
ermordet. Goethes eigenes Erlebnis des terreur  bei
der Belagerung von Mainz im Jahr 1793 wird für ihn
prägend und zum tief abstoßenden Beispiel des
Umsturzes.  Die Folgen der Französischen
Revolution sind in  Hermann und Dorothea  
dargestellt. Ein Heilmittel bildet in dem Epos ein
neuer Begriff von Heimat, der Lieben und Nützen
impliziert. Als ein weiteres Heilmittel gegen das
Erlebnis des Chaos erweist sich das  Gespräch, so in
den Ausgewanderten.   
Als  Dozent für Wissenschaftstheorie und
Naturphilosophie an der Humboldt Universität
beschäftigt sich Olaf. L. Müller speziell auch mit
Goethes Farbenlehre. Seine wissenschaftliche
Untersuchung dazu hat er bereits in dem 2015
erschienenen Buch Mehr Licht mit Newton im Streit
um die Farben.
publiziert.  
         
Anhand von
Untersuchungsmodellen demonstriert er nun die
kritischen Aussagen zur Farbenlehre unter der
spezifischen Nutzung des wissenschaftlichen
Prüfaufbaus von Goethe.
   In eindrucksvollen Farbdemonstrationen
veranschaulicht er, daß auch in empirischer
Rekonstruktion die Aussagen Goethes für sein
Untersuchungsmodell bestätigt werden können. Ein  
didaktisch eindrucksvoller Vortrag, der aber
letztendlich die Newton´sche Auffassung der
Farbenlehre und des Lichtspektrums physikalisch
nicht relativieren kann. Gleichwohl erweckt er einen
hohen Respekt bei den Zuhörern, die vor allem auch
von den profunden wissenschaftlichen
Untersuchungsansätzen, die Goethe bei seinen
Untersuchungen zur Farblehre eingebracht hat
beeindruckt sind  Leider wird die heute noch gültige
Goethische Farbenpsychologie nur am Rande
erwähnt. Insgesamt aber ein erfrischender und
vielfältiger naturwissenschaftlicher Vortrag, der zur
Anregung beiträgt..                                                                                                                    
                                 
  
Bertram Schefold  gliedert seinen Vortrag nach
folgenden Punkten:  
Goethe als tüchtiger Ökonom   seine  
Wirtschaftspraktische Leistung   Geschäftssinn
Regierungsgeschäfte/ Einführung des ökonomischen
Denkens   Goethes Aufnahme ökonomischer
Lehren   Wirtschaftslehren  
Im privaten Leben geht Goethe sehr haushälterisch
mit seinen Mitteln um und verzeichnet, wie  auch
Christiane, alle Ausgaben
und Einnahmen in einem
(erhaltenen) Haushaltsbuch.
Das Gleiche gilt auch für
seine Regierungsgeschäfte
in Weimar, wo er sich um
die Verbesserung der
Gewerbe und ihrer Erträge
sowie um das Steuerwesen
kümmert, mit der Folge,
daß das kleine Herzogtum
einen sichtbaren
Aufschwung erlebt. Ausdrücklich thematisiert
werden wirtschaftliche Themen in Faust II, so die
Einführung des Papiergelds und die
Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Hier ist  es
ausgerechnet der Narr, der als einziger seinen
Gewinn in sicherem Grundbesitz anlegt. Bei der
Vermarktung seiner Werke wie Hermann und
Dorothea, 1798 bei
Vieweg erschienen,
oder der  Ausgabe
letzter Hand, 1826
bei Cotta, agiert er
mit einem verdeckten
Angebot, einer
sogenannten Vickrey-
Auction, um jeweils
die von ihm
geforderte, hohe Summe zu erhalten. Für die
Ausgabe letzter Hand erreicht er sogar den
urheberrechtlichen Schutz in allen Mitgliedsstaaten
des Deutschen Bundes.  
Lange bewegt  sich Goethe im wirtschaftlichen
Denken in den Formen des Kameralismus und
Physiokratismus des 18. Jahrhunderts. Aber
zunehmend entwickelt er auch Vorstellungen, die
dem aufkommenden Frühsozialismus des 19.
Jahrhunderts ähnlich sind. Er sieht durchaus die
Verschlechterung der sozialen Zustände angesichts
des Übergangs von der Heimarbeit zur
Maschinenproduktion, aber unterstützt die radikalen
Forderungen zu ihrer Veränderung nicht .                                                      
                                                                                    
Wie auch bereits in seinem Einführungsvortrag  
veranschaulicht uns Uwe Hentschel  in
zahlreichen Beispielen  das literarische und
gesellschaftshistorische Umfeld des jungen
Goethe und der in den 70 er Jahren  durch
Rousseaus  Briefromane  ausgelösten Zurück zur
Natur-Bewegung. Der Vortrag kreist um das
Thema gärtnerische Tätigkeit, das gerade in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl
lebensweltlich (u.a. Goethe, Wieland und
Schiller besitzen
Hausgärten) als auch
literarisch (u.a. in
Texten von Goethe,
Wezel und Merck)
bedeutsam wird.  
Ausgangpunkt der
Darlegungen ist eine
kleine Sequenz aus
Goethes Leiden des jungen Werthers, in der der
Protagonist davon berichtet, wie er die simple
harmlose Wonne des Menschen genießt, der ein
Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, welches er
selbst gepflanzt und geerntet hat. Diese auf den
ersten Blick belanglose Episode, erweist  sich als ein  
anschauliches Beispiel für eine unentfremdete
Tätigkeit. Im Verlaufe des Vortrages wurde den
gesellschaftlichen Ursachen nachgespürt, die bereits
im 18. Jahrhundert zu dem Verlangen führten, solche
einfachen Arbeiten als wünschenswert vorzustellen.   
Bei einer abendlichen
Temperatur von 30 Grad
finden sich im nahezu
ausverkauften Kleistsaal
der Urania 285 Zuhörer
ein, in der Erwartung
Antworten zu erhalten auf die Frage : Ist Goethes
Leben in Wahrheit das Beispiel einer Überlebenskunst
und gibt es das überhaupt, ein Betriebsgeheimnis für
ein langes von Glück erfülltes  Leben ? Und:  Wie
hielt es Johann Wolfgang von Goethe, das wohl letzte
Universalgenie einer sich immer schneller
beschleunigenden Welt,
mit dem Kunstwerk des
Lebens?  
Der  launige  
Schlagabtausch der
beiden Goetheexperten  
bietet wohl jedem der
Goethe-Interessierten neues. Hier haben sich zwei
getroffen, die sich Zeit ihres Lebens mit dem Autor
Goethe und dessen Botschaft an die Welt beschäftigt
haben und wenn sie darüber gemeinsam kenntnisreich
und humoristisch  plaudern können, dann tun sie das
nur zu gern und. Von derart geistreicher  Fachsimpelei
fühlt sich  ein jeder aus dem Auditorium
angesprochen; selbst wenn, er sich mit dem Dichter  
vorher noch nicht so wirklich beschäftigt hat oder vor
Jahrzehnten  dessen  Jugendwerk Werther in der
Schule als Pflichtlektüre absolvieren mußte; nach
diesem Abend weiß er über Goethe erheblich mehr als
zuvor.   
Rüdiger Safranski hat für
seine Biografie den
Untertitel Kunstwerk des
Lebens gewählt. Goethe
selbst sagte über dieses
Kunstwerk: Wohl kamst du
durch; so ging es allenfalls!
/ Machs einer nach und
breche nicht den Hals.  
Manfred Osten zeigt
dagegen in seinem neuen
Buch über Goethe und das
Glück Gedenke zu leben!
Wage es glücklich zu
sein! jenen schwarzen
Verzweiflungshintergrund
vor dem dieses
Selbstbekenntnis neu
reflektiert werden sollte.  
Laut Safranski beginnt für Goethe die Veränderung
bei sich selbst. Er will Autor des eigenen Lebens
sein, mit allen Sinnen sich und die Welt
wahrnehmen: Goethe ist der absolut wache Mensch.
Dagegen verbringen wir heute sechs Stunden täglich
in der vermittelnden Medienwelt und sind dort
permanent umzingelt von unendlich seichten
Appellen an unsere Aufmerksamkeit, etwa durch
Werbung: Wir sind ein Kampfplatz von Impulsen,
die unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.
Für Osten wird der
Mensch durch
Konsumlenkung
letztlich zum
Produkt; das
oberste Gebot
lautet stets: Du
sollst begehren. Er
verweist auf Nietzsche, der als die wichtigsten
Stimulanzien der Moderne das Brutale, das
Künstliche und das Idiotische ausgemacht hat.  
Dabei schauen die Experten sowohl von der
Gegenwart in Goethe hinein als auch mit Goethe auf
die Gegenwart. Safranski hat da keine bestimmten
Techniken des Glücks im Blick, sondern spürt
Goethes diesbezügliches Betriebsgeheimnis in
dessen Wilhelm Meister auf. Dort heißt es, daß der
Mensch für einen begrenzten Kreis geschaffen sei,
in dem er sich auskenne, während für ihn im großen
Weiten die Gefahr bestehe, seine Mitte zu verlieren.
Safranski meint  mit
Bezug auf Goethe: Es
ist doch das Allerbeste,
wenn der Mensch einen
solchen Weltbezug hat,
daß er sich bei dem,
was ihn angeht, durch
eigene Selbsttätigkeit
auch kompetent machen kann.
Sodann  beschreibt Osten, wie hellsichtig Goethe
seine Zeit und die aufkommende Industrialisierung
mit der sie begleitenden Beschleunigung allen
Wirkens und Handelns als dem Glück
entgegenstehend verstanden hat: So wenig nun die
Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies
auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des
Handels, das
Durchrauschen des
Papiergeldes, das
Anschwellen der
Schulden, um Schulden
zu bezahlen, das alles
sind die ungeheuren
Elemente.
Geschrieben hat Goethe das 1825, aber es wird hier
eine Brücke zu uns ins 21. Jahrhundert geschlagen,
in dem sich scheinbar alles Glück und jedes Leben
optimieren läßt.
Für Osten hat der späte Goethe kulturpessimistisch
darüber nachgedacht, was die
Industrielle Revolution mit den
Menschen macht. Und zwar
aus Verzweiflungsanlässen
angesichts einer
extremistischen Vernunft, die
damals die Herrschaft
übernahm. Diese zeigte sich
etwa bei den exponentiellen
Beschleunigungen in den
Bereichen Produktion,
Konsum, Transportwesen und
ganz besonders
Kommunikation. Vor allem die
letzteren Veränderungen
empfand Goethe als unheilvoll. Im Begriff des
Veloziferischen mischen sich die Schnelligkeit
(velocitas) und das Teuflische (Luzifer). Durch die
Masse der Meinungen geraten die Menschen ohne
eigene Meinung in Selbstentfremdung.
Die Diskutanten sind sich einig darin, daß Goethe
nicht an die Machbarkeit von Geschichte glaubte.
Vielmehr spürte er, was auf ihn und die Menschen
zukam. Bei ihm weht ein Geist der Verteidigung
überkommener Lebensstile, der trotz aller
Veränderungen auf gelingendes Leben setzt. Die
Devise lautet demnach: Weltverbesserung durch
Selbstverbesserung. Dagegen repräsentiert Mephisto
den nun weitverbreiteten Alles-gratis-und-sofort-
Anspruch.  
Diese galoppierende Entgrenzung überfordert die
neuronale, emotionale und physische Verfaßtheit
des Menschen. Osten mit Goethe: Der verständige
Mann müsse sich nur mäßigen, um glücklich zu sein.
Rettung erblickt Goethe vor allem in der Liebe, für
ihn das eigentliche Betriebsgeheimnis des Lebens.
Denn im Grunde sei der Mensch vom eigenen
Extremismus bedroht, von seinen dunklen Organen
und Affekten, die es durch gestaltete Sinnlichkeit zu
kultivieren gelte. Und dies geschehe in einer so
dynamischen wie vitalen Gleichgewichtsfindung,
die Goethe zwischen Lust an Grenzüberschreitung
und Rückbesinnung stets intensiv aufs Neue
anstrebt. Jeder Trost ist niederträchtig / Und
Verzweiflung nur ist Pflicht heißt es in einem
Versentwurf zum Faust.  
Goethe selbst aber hat sich gegen Unglück und
Verzweiflung zur Wehr gesetzt und im Wilhelm
Meister dagegengehalten: Gedenke zu leben! Wage
es, glücklich zu sein! Manfred Osten zeigt, wie
Goethe sich zwischen diesen beiden extremen Polen
bewegt und wie er für sich Strategien und Wege
findet, glücklich zu sein. Wer glücklich sein will,
muß sich das erarbeiten, muß an sich arbeiten.
Goethe nannte dies das Übungsglück der Mäßigung.
Man hat mich immer als einen vom Glück besonders
Begünstigten gepriesen, so hat es der alte Goethe
seinem Eckermann erklärt: Allein im Grunde ist es
nichts als Mühe und Arbeit gewesen.  
Die restliche  Debatte beschäftigt sich mit den zehn
Überlebensregeln, die Manfred Osten bei Goethe
ausgemacht hat und die er in seinem Buch
zusammengestellt hat:  
Lass die Vergangenheit hinter dir!
Lebensregel Nummer eins,
niedergeschrieben in der Zeitschrift
Chaos: Willst du dir ein gut Leben
zimmern/ Mußt ums Vergangene
dich nicht bekümmern.
Gelegentliche Verzweiflung ist
erlaubt, Vergessen aber ist Pflicht.
Mach die Augen auf!
Aufmerksamkeit ist das Leben! heißt
es in den Wanderjahren: Denn das
ist eben die Eigenschaft der wahren
Aufmerksamkeit, daß sie im Augenblick das Nichts
zu Allem macht. Augen auf also für die ewige Zier
der Welt, die gar nicht anders kann, als dem
Betrachter zu vermitteln, daß er Teil von ihr ist. Die
beste Methode übrigens: Die Zier gleich selbst
zeichnen.
Sei nicht ultra!
Vom Tempo der Moderne hat Goethe wenig
gehalten. Alles aber ... ist jetzt ultra , hat er geklagt
und den Dampfwagen genauso gemeint wie die
Zeitung und das Durchrauschen des Papiergeldes.
Ultra-Technik, Ultra-Kommunikation und Ultra-
Ökonomie aber schaffen nichts als Sorge. Die
herrlichste Kur dagegen? Goethe liest fünf Jahre
alte Zeitungen, aus denen nicht das Mindeste
abzuleiten war.
Mäßige dich!
Liebe ist prima, zu viel Leidenschaft nicht; der
Fluch der Natur will, glaubt Goethe, besiegt
werden, die Natur nämlich ist nicht auf Glück
geeicht. Der verständige Mann braucht sich nur zu
mäßigen, so ist er auch glücklich. Siehe
das Unglück des unmäßigen Faust.
Lass die Finger von der Religion!
Gott, so Goethe an den Freund Jacobi, hat
(dich) mit der Metaphysik gestraft und dir
einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich
dagegen mit der Physik gesegnet, damit
mir es im Anschauen seiner Wercke wohl
werde. Goethe hat die Sonne und ihr
Licht verehrt, wodurch allein wir leben,
weben und sind, und alle Pflanzen und
Tiere mit uns.
Erzähl von deinem Glück!
Ausgerechnet einem Hofbeamten hat Goethe erklärt,
daß wir nur dadurch Menschen sind, daß wir
unseren Zuständen eine gewisse Folge zu geben
trachten. Das heißt: Man muß dem Leben den roten
Faden einer Glückserzählung einziehen, die das
Böse von sich stößt und das Gute fixiert. Das wahre
Glück ist selbst gemacht.
Ignorier den Rest!
Und wenn weder Achtsamkeit noch Autorschaft
noch die Verehrung des Augenblicks helfen? Dann
muß man das Übrige Gott überlassen.
Beerdigungen hat Goethe bekanntermaßen
grundsätzlich nicht besucht. Den Tod ... statuiere ich
nicht.
Lebhafter Applaus und  interessierte Fragen aus dem
Publikum  beenden einen gelungenen Abend.  
         
                    
395 Zuhörer
haben sich im
Humboldtsaal
der Urania
eingefunden,
darunter nicht
wenige, die
gespannt darauf
wartenden, wie
sich die Politikerin und Vorsitzende der LINKE-
Fraktion Sahra Wagenknecht bei diesem
anspruchsvollen Thema gegenüber den beiden
ausgewiesenen Faust-Experten Michael Jaeger und
Manfred Osten behaupten würde. Der Fausts
Schluß-Monolog im 5. Akt (Faust II) mit der Vision
auf freiem Grund mit freiem Volke stehn eröffnete
einen weiten Auslegungsspielraum, den die
Interpreten weidlich nutzten.  
Was ist gemeint mit dem  letzten Schluß der  
Weisheit des greisen Faust, dieser Vision vom  freien
Volk  auf freiem Grund ?
Da Frau Wagenknecht- wie angekündigt-  nach
einer guten halben Stunde vorzeitig zu einer ARD-
Live-Talk-Show
eilen muß, erhält
sie Gelegenheit,
ihren Standpunkt
gleich zu Beginn
ausführlich
darzulegen.
Zentraler Ausgangspunkt ist ihre Überzeugung, daß
der Schlußmonolog des 5. Aktes von Goethe
Altersdrama Faust II. in jedem Fall positiv und
zukunftsorientiert gelesen werden müsse.   
Sie bezieht sich hierbei u.a. auf Goethes gründliche
Kenntnisse  der Theorien der Frühsozialisten, die er
durch seine regelmäßige Lektüre der französischen
Zeitschrift Le Globe um 1830 gewonnen hat. Trotz
gewisser kritischer Anmerkungen habe er  mehrfach
in Gesprächen und Briefen betont, daß es bei diesen,
den sogenannten Saint-Simonisten, um  gescheite
Leute handele, die mit großer Sicherheit auf die
Fehler der damaligen Zeit aufmerksam gemacht
hätten, insbesondere auf die ungerechten
Eigentumsverhältnisse.  
Daß Goethe sich in punkto Eigentum und Ökonomie
gut auskannte, beweise ja auch die Szene am Hofe
des Kaisers, in welcher der von Finanznöten
gebeutelte Marschalk klage: Wir wollen alle Tage
sparen und brauchen alle Tage mehr. Und täglich
wächst mir neue Pein.
Nach Frau Wagenknechts Überzeugung  hätte
Goethe bereits vor Karl Marx erkannt, daß
Kapitalismus  eben nicht nur Marktwirtschaft sei ,
nicht nur Tausch, sondern immer auch Raub
bedinge: Krieg, Handel und Piraterie  sind für ihn  
dreieinig  und  nicht zu trennen . Faust als
Wirtschaftsmächtiger brauche nicht allein Mephisto,
um seine Ziele zu verwirklichen, sondern auch die
drei gewaltigen Gesellen Habebald, Haltefest und
Eilebeute, die wesentlich zur Begründung seines
Weltbesitzes beitragen. Das entwerte  Fausts
produktive Leistungen nicht, der technologische
Fortschritt sei real, aber er habe einen hohen Preis
einen unverantwortlich hohen Preis.  
Ihrer Meinung nach könne es  keinen Zweifel geben,
wie Goethes Urteil über einen Kapitalismus
ausgefallen wäre, in dem diese produktive Seite
mehr und mehr in den Hintergrund träte  und
Renditejagd und Gier fast nur noch destruktiv
wirkten. Daß sie bei Goethe auch über den Faust
hinaus sattelfest ist, beweist  sie durch den Hinweis
auf eine ihrer Meinung nach aufschlußreiche  Stelle
in seinem Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre:
die Rede sei dort  vom Eigentum  im Sinne von
Gemeinsinn und Gemeinbesitz.
Nur kurz kann sie noch auf  Zukunftsvision jener
französischen Frühsozialisten eingehen, deren
Emanzipationsprojekte Goethe gründlich studiert
habe und die bereits im Geiste einer geschichts-
philosophischen Dialektik für eine erbrechtliche
Umverteilung des Eigentums plädieren, muß sie
doch um kurz nach 20 Uhr bedauernd, vom
Publikum allerdings mit zustimmendem Applaus
bedacht, die Diskussion verlassen, um bereits eine
knappe Stunde später als Studiogast bei der Live-
Sendung  Hart aber Fair Goethes Vorstellungen
vom Gemeinsinn, von Handel und Krieg  oder doch
zumindest ihre Interpretation davon einem
Millionen-TV-Publikum darzulegen.  
Da die beiden Faust-Experten nun unter sich sind,
entspinnt sich in der Folge eine mehr philosophisch
statt volkswirtschaftlich angelegter Debatte.
Zunächst greift Manfred
Osten den Hinweis seiner
Vorrednerin auf die Ideen der
Frühsozialisten auf, mit
deren Utopien sich Goethe in
seinen letzten Lebensjahren
auseinandergesetzt habe.
Goethe habe gewußt, wovon
er spreche, habe er doch bereits 1783 als
Finanzminister den Staatsbankrott des Herzogtums
Sachsen-Weimar abgewendet. Die hoch
aktuellen Versuchungen der Geldschöpfung
ohne Wertschöpfung seien ihm bereits durchaus
bekannt gewesen und er habe Marx
zur frühkapitalistischen Einsicht der Umwertung
aller Werte im Zeichen des Gelds verholfen.
Der  junge Karl Marx habe sich nämlich, was wenig
bekannt sei, in seiner ökonomisch-philosophischen
Frühschrift von 1844 mit Goethes Faust
auseinandergesetzt und seine Überlegungen auf  die
Verse bezogen:Was Henker! Freilich Hand und
Füße/Und Kopf und Hintre, die sind dein!
Doch alles, was ich frisch genieße,/Ist des drum
weniger mein?
Wenn ich sechs Hengste zahlen kann/Sind ihre
Kräfte nicht die meine?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann/Als hätt ich
vierundzwanzig Beine
Das Geld, so zitiert Manfred Osten Karl
Marx, ist also der Gegenstand im eminenten
Besitz, indem es die Eigenschaft besitzt, alles
zu kaufen, alle Gegenstände sich anzueignen,
Die Universalität seiner Eigenschaft ist die
Allmacht seines Wesens; es gilt daher als
allmächtiges Wesen ...  
Lange vor Karl Marx- so Osten- hätte Goethe
bereits das fatale Betriebsgeheimnis der
kapitalgetriebenen industriellen Revolution
erkannt: die Selbstentfremdung des Menschen
im Zeichen
seiner bis heute
andauernden
Unterwerfung
unter das
Profitdiktat der
Beschleunigung
aller Lebensbereiche. Goethes metaphorischen
Spiegelungen dieses Kollateralschadens des
Fortschritts im Zeichen von Geldschöpfung
ohne Wertschöpfung sei als  Grundlage
anzusehen für den Prozeß der
Selbstentfremdung durch die absolute
Rangerhöhung des Kapitals in Zusammenhang
als Folge der erahnten Produktionsweise der
industriellen Revolution. Keiner kennt sich
mehr lautet sein Fazit.
Der Germanist  Michael
Jaeger, seit zwei Jahrzehnten
und drei Büchern der derzeit
wohl kenntnisreichste  Faust-
Exeget  geht noch etwas
weiter, sieht er doch  Fausts
letzte Worte vom Autor mit
tiefer Ironie formuliert und von Goethes  
Hoffnungslosigkeit hinsichtlich seiner eigenen
Zeit geprägt.  
Über sechzig Jahre nach
den ersten Konzepten für
ein Faustdrama, dessen
Protagonist bereits zu
Beginn  auf der Suche
ist, nach dem, was die
Welt, im Innersten
zusammenhält schließt
Goethe am Ende seines
Lebens, die Arbeit am Faustmanuskript ab.  
Die im zweiten
Tragödienteil noch
fehlenden Szenen habe
der Einundachtzigjährige
zwischen den
Sommermonaten der
Jahre1830 und Juli 1831
geschrieben, also
eindeutig vor dem
Hintergrund des Revolutionsjahres 1830. Diese  
Tragödie, die am Vorabend der mit der
industriellen Revolution
anbrechenden modernen Welt
spielte, komme hier in den Blick.
Im Horizont dieses die Epoche
kennzeichnenden
fundamentalen Bruchs der
Überlieferung müsse man die
zuletzt geschriebenen
Faustszenen als dramatischen
Ausdruck der Krise des europäischen
Bewußtseins und als Zeugnis für die äußerste
Resignation des späten Goethe deuten.  
Der  Faust II  sei- so Jaeger-  eine Tragödie, die
den verzweifelten Weltabschied einer untergehenden
Kultur beschreibe, einer Kultur, die Goethe
bewahrenswert erschien. Vor seinem Ableben habe
er  das Manuskript wohlweislich versiegelt, da er
davon ausging, daß  seine Zeitgenossen diese sehr
ernsten Scherze wohl kaum verstehen würden; der
Faust II sei offenbar für spätere Generationen
geschrieben worden.  
Daß viele Szenen  heute im 21. Jahrhundert, in einer
Zeit, da alles im Umbruch erscheine,  ebenso
verstanden würde, wie vor einem Jahrhundert nach
dem Ende 1. Weltkriegs zu Beginn der 20 er Jahre,
sei daher nur zu verständlich. Anhaltender Applaus
für eine hochkarätige Debatte und zahlreiche Fragen
aus  dem Publikum rundeten den Abend erfreulich
ab.                                                                                              
   
Aufgrund einer schweren
Operation kann Theo Buck
seinen Vortrag nicht
persönlich vortragen, er
wird daher von Frau
Schubert verlesen.  
Schon zu seinen Lebzeiten,
wie auch noch heute, waren und sind die
Meinungen über den Dramatiker Goethe
gegensätzlich, von manchem wurde und wird
sein theatralisches Talent sogar grundsätzlich in
Frage gestellt. Daß Goethe auch als Dramaturg
stets seiner Zeit voraus war, zeigt Theo Buck
exemplarisch auf  an seinem Jugenddrama Götz
von Berlichingen. Tatsächlich habe Goethe damit
seinerzeit im  deutschen Sprachraum  eine
Bresche geschlagen für die offene Form, nämlich
die  Auflösung der Einheit von Ort, Zeit und
Handlung.  
Damit bahnt   er-
erklärtermaßen nach dem
Vorbild der Dramen
Shakespeares- einem
realitätsbezogenen,
leidenschaftlichen,
kreativen, dynamischen
und subjektiven Drama
den Weg, das mit seiner
naturnahen Demonstrations-Energie den
Rezipienten zum produktiv kooperierenden Teil des
Ganzen macht. Das Drama um Götz entpuppte sich,
so gesehen, als Gesten-Tafel menschlicher
Unmenschlichkeiten. Goethes Wirkungsabsicht- so
Buck- war es keinesfalls, uns allein den biederen
deutschen AltvaterGötz vorzuführen, sondern in
erster Linie das Spiegelbild der ihn umgebenden
deformierten Gesellschaft.
Ein Jahrzehnt später vollzog Goethe mit der in
Weimar als  Prosawerk
begonnenen Iphigenie eine
scheinbare Rückwendung zur
geschlossenen Form, doch  in
Wahrheit stellte diese die
Herausbildung einer
kommunikativ ausgerichteten
Bewußtseins-Dramaturgie dar, wie  
in der fünf Jahre später in Italien
als  Versdrama vollendeten Iphigenie zum Ausdruck
kommt.  
Das Publikum sollte, wie Goethe schon früh
forderte, nicht mehr eine fremde, meist theatralisch
zusammengeflickte Welt erleben, sondern
mitwirkend genießen.  
Dieses Verfahren kommt schließlich im Faust II mit
seiner multiperspektivischen Totalität zu voller
Wirkung und dies führt zu einer förmlichen
Neubesinnung auf das Wesen des Theaters. Goethes
universale  Bewußtseins-Inszenierung auf dem
Niveau des Faust
II , dessen
Protagonisten in
ihrem Handeln
zeitlos sind,  
begründet hiermit
ein  universales
Welttheater, das
jeder aufgeschlossene Betrachter unmittelbar auf
sich wirken lassen kann und das auch im 21.
Jahrhundert nichts von seiner Aktualität verloren
hat.  
Zum allgemeinen Bedauern aber hat sich Prof.
Buck, der in den letzten zwei Jahrzehnten über ein
Dutzend Vorträge vor der GG-Berlin gehalten hat
und als einer unser beliebtesten Referenten galt,  
nun von den Berlinern endgültig verabschiedet  mit
Thoas Ausruf  Lebt wohl ! aus Goethes Iphigenie.
Alle Anwesenden bedauern dies sehr.                                                          
Zu Goethes Lebzeiten beginnt langsam der
Wandel von der alten Praxis des ewigen
Verlagsrechts zum individuellen Recht des
Autors an seinem Werk. Diese Entwicklung
wird erst 1901 mit dem  modernen
Urheberrecht abgeschlossen. Auch um 1800
waren die Autoren noch ständig von der Gefahr
des unrechtmäßigen Nachdrucks bedroht, für
die kein Honorar gezahlt wurde. Goethe war
mit seinen frühen Verlegern Göschen, Unger
u.a. aus verschiedenen Gründen (Druckfehler,
Nachdruck) nicht
zufrieden gewesen. Er
fand jedoch in Cotta, mit
dem er ab 1798 auf
Vermittlung Schillers
zusammenarbeitete,
einen geeigneten
Verleger.  
Ihre gute Beziehung
basierte darauf, daß Cotta den Rechtscharakter
eines Verlagsverhältnisses auf der Basis der
Autorenrechte anerkannte, obwohl dies  noch
keineswegs bestehendes Recht war.  
Cotta geht auch auf alle
Wünsche Goethes
hinsichtlich der Gestaltung
ein, besonders bei der  
Ausgabe letzter Hand .  So
einigt man sich z.B. im
Vertrag von 1826 auf ein
Honorar von 60.000
Reichtalern bei 20.000 Subskribenten, weitere
20.000 sollen bei weiteren 10.000 Beziehern
folgen.  
Die Ausgabe wird offenbar als eine Art  
Nationaldenkmal verstanden, in Anerkenntniß
Ihrer um die deutsche Literatur erworbenen
Verdienste, wie Fürst Metternich an Goethe
schreibt. Sie wird deshalb   ein einmaliger Fall
durch die Privilegien aller Mitglieder des
Deutschen Bundes bis 1867 geschützt .                                    
  
Mit Feuermaschinen, den englischen
Dampfmaschinen, die das industrielle Zeitalter
eröffneten, wird Goethe erstmals 1790 bei seinem
Besuch des Bergwerks in Tarnowitz/Oberschlesien
bekannt. Der Einsatz der  Feuermaschinen wird
tiefgreifende, wirtschaftliche und soziale
Veränderungen bewirken, auf die Goethe wie Karl
Marx in sehr unterschiedlicher Weise reagieren.  
Der junge Karl Marx und der alte Goethe sind
beide Zeitgenossen der industriellen Revolution ,
die im ersten Drittel des 19.  
Jahrhunderts weitreichende
gesellschaftliche Umwälzungen
mit sich bringt. Nicht zuletzt durch
die Verbesserung der
Dampfmaschinen,
werden  die Themen
Industrie und
Transport zu einem untrennbaren
Bestandteil des täglichen Erlebens.
So erscheint  bereits 16 Jahre nach
Goethes Tod das  Kommunistische Manifest  
(1848).  Jaeger stellte die These vor, daß das  
Manifest quasi als ein Kommentar zu Faust II
gelesen werden könne, treten doch hier erstmals
Arbeiter auf und wird von Ingenieursleistungen
berichtet.
Die Bedeutung des Themas unterstreicht Michael  
Jaeger mit einem Blick auf seine Lehrtätigkeit an
der Peking- Universität. Die Goethe- und
besonders die  Faust-Rezeption ist dort neben der
des Werthers sehr lebhaft. Auch der
Staatspräsident XI Jinping schätze Goethe.  In
marxistischer Sicht, so bei der dort gezeigten
Ausstellung 200 Jahre Marx,  markieren Goethe
und Marx zwei unterschiedliche Konstellationen
der Verbindung von Tradition und Moderne.  
Bei Goethe aber werden die beiden Elemente
Ordnung und
Harmonie
besonders
bevorzugt.  
Goethe
beschreibt
die neue Zeit
mit Begriffen
wie veloziferisch oder ultra, nach Marx bewirkt
indessen die Dampfmaschine größere
gesellschaftliche Veränderungen als die
Völkerwanderung oder die Kreuzzüge.  
Die Verlierer sind dabei die Bourgeoisie und die
Handwerker, während das Proletariat die
revolutionäre Klasse bildet. Goethe ist hier
gegenteiliger Ansicht, wie etwa an den Amerika-
Projekt und den Plänen der Auswanderer in seinem
Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre zu
sehen ist. Marx hat für solche Utopisten wie die (oft
gescheiterten) Siedlungsgründungen von
Handwerkern in den USA nur Hohn und Spott übrig.
Der Bourgeoisie kommt aber eine historische Rolle
im Modernisierungsprozeß zu. Goethe beschreibt
diesen komplizierten Prozeß kritisch mit dem Bild
des Hexenmeisters im Zauberlehrling oder im ersten
Akt von Faust II mit der Einführung des
Papiergelds.  
Der Unterschied der beiden zeigt sich deutlich in der
Bewertung
der
Französischen
Revolution,
die Goethe
bekanntlich
als Hybris
ablehnt, denn
sie erzeuge nur eine Schädelstätte, aber kein
Golgatha mit Opfer und Erlösung für einen
Neuanfang. Für Goethe, der die Schriften der
Frühsozialisten studiert hat, ist sie die Folge einer
falschen Politik, für Marx ist die Revolution
unausweichlich und das einzige Mittel zur
gesellschaftlichen Veränderung.  
Die Grenzen von Goethes Vorstellung vom
natürlichen, quasi an die Metamorphose der
Pflanzen angelehnten Gang der historischen
Entwicklungsprozesse zeigen sich aber deutlich im
5. Akt von Faust II in der Szene mit Philemon und
Baucis. Die beiden Alten, die dem Fortschritt der
Arbeiten im Wege stehen, werden auf brutale Weise
einfach ermordet. Die Metamorphose weicht der
Transformation. Jaegers sehr ideenreicher Vortrag
findet beim zahlreich erschienen Publikum  ein
lebhaftes Echo.
2019    GOETHE-  
Der Zeichner,  Kunstkenner und Sammler
                                            
Beate Schubert   (Einführung)                                                                                                                                                                                                                                                  
Das höchste Ziel der Kunst ist Schönheit  
und ihre letzte Wirkung Gefühl der Anmut
Goethes Verhältnis zu den bildenden Künsten                          
                  
Dr. Manfred Osten (Bonn)                                                                                                                                    
wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen...
                                 
14.6.1809 Goethe zu Johann D. Falk
Einführung in Goethes Schule der Achtsamkeit
Dr. Petra Maisak (Bad Homburg)                                                                                
Ich bin jetzt ganz Zeichner, habe Mut und Glück...
                                             
An Herder 5. Dezember
1772
Der  junge Goethe und die bildenden Künste  
Prof. Dr Norbert Christian Wolf (Salzburg)                                                               
Nicht von der Kunst in abstracto....                                                                                       
Goethes  Kunstanschauung vom Sturm und Drang  
bis zur Rückkehr aus Italien (1771- 1788)                                      
       
Prof. Dr. Johannes Grave (Bielefeld)  
wenn man auch hier historisch und stufenweise verfährt,
so kommt man mit Vergnügen zur richtigen Einsicht.  
Ideal und Geschichte-  Spannungen in Goethes
Kunstauffassung um 1800                                        
                                                                                                   
Prof. Dr. Hermann Mildenberger (Weimar)                                                                                                                                              
ein klarer Duft  blaute Schatten....  
                                    
Italienische Reise   2.April 1787
Goethes Weg  zur Landschaft                                                                                                                                                                                                 
Prof. Dr. Thorsten Valk (Weimar)                                                                             
Daß wir uns bilden, ist die Hauptforderung  
                
     an Carl Jacob Ludwig Iken, 27.9.1827
Spannungsvolle Nähe- Goethe und die Kunst
der Romantik.  
    
Prof. Dr. Stefan Matuschek (Jena)  
Macht euch schnell von Fabeln frei!
Faust II, 3. Akt  
Goethe Antike-Konzept in seiner
historischen Entwicklung  
         
Dr. Robert Steegers (Bonn )  
... wenn man künftig in das Büchlein von
guten Sitten auch ein Kapitel einschöbe,
wie man sich in Kunstsammlungen und
Museen zu betragen habe  
                                                                                 
  
Der Sammler Goethe im Spiegel
seiner Werke und seiner Zeit
Prof. Dr. Uwe Hentschel
(Berlin/Chemnitz)                                                                                   
Nun mag die Zeit des Bewahrens, wenn
auch zu spät, eintreten.
  
Goethe an
Friedrich Maximilian Klinger, 8.12.1811
(Autographen) Sammeln als
Leidenschaft.
                                                                
Dr. Markus Bertsch (Hamburg)
Denken ist interessanter als Wissen,
aber nicht als Anschauen
Wirkung und Rezeption Goethes in
der zeitgenössischen Kunst
       
EINFÜHRUNG
  
Beate Schubert  (Berlin)  
Goethes Verhältnis zu den bildenden Künsten  
                                                                                                         
         
Die Referentin versucht die ihr fast unmöglich
erscheinende Aufgabe zu lösen, in nur 60 Minuten
einen Überblick zu vermitteln über die Entwicklung
des Zeichners Goethe, seine allmähliche
Heranbildung zum Kunstkenner sowie seine- erst
in der zweiten Lebenshälfte einsetzende-
Entwicklung zum leidenschaftlichen Sammler.  
        Zunächst sucht sie  die bereits im Elternhaus
einsetzenden Versuche des 15-jährigen zu
veranschaulichen, bei Ausflügen in die
Umgebung Frankfurts  mit ersten, noch
recht  ungelenken Bleistiftskizzen seine
Eindrücke
festzuhalten,
von denen nur
wenige Blätter
erhalten sind.
Bereits  
eindrücklicher
dagegen  die zahlreichen Leipziger
Genrezeichnungen aus dem Zeitraum
1765-68, die wenig bekannt sind, da sie im
Corpus der Goethezeichnungen von 1958
völlig verblaßt wiedergegeben, kaum die
Konturen erkennen lassen.  Heute wieder  
restauriert  und digitalisiert, vermitteln sie
in ihrer Anschaulichkeit eine erstaunliche
Modernität
Hier etwa der in wenigen
Strichen skizzierte Kavalier
im Grase.
Ermutigt dazu, seinen
eigenen Stil zu entwickeln,  
hat ihn sein damaliger Zeichenlehrer  Adam Oeser, der-  so
Goethe in Dichtung & Wahrheit-  ein
Feind des Schnörkel- und
Muschelwesens und des ganzen
barocken Geschmacks war.  Oeser
folgte in seinen Auftragsarbeiten
zunächst dem herrschenden barocken
Stil, strebte selbst aber einem neuen
klassizistischen Hochbilde zu,
entgegen der auf Effekte ausgerichteten, zeitgenössischen
Rokoko- Dekorationsmalerei
vertrat er zunehmend den
Gedanken der Dominanz des
Bildinhaltes vor der bloßen Form.
Oeser machte Goethe ferner mit
den Schriften seines Schülers
Johann Joachim Winckelmann
zur Formensprache der Antike
bekannt; beide Aspekte werden für
den Zeichner und Kunstkenner Goethe von nun an
bestimmend bleiben. Mit exemplarischen
einigen Bildbeispielen geht die Referentin
ein auf die Einflüsse seiner weiteren
Lehrer. Sein erstes Vorbild für die
Ausführung von Landschafts-Veduten  
wird im ersten Weimarer Jahrzehnt
Georg Melchior Kraus , der Leiter der
dortigen Zeichenschule.   
Hunderte von Handzeichnungen haben  
sich aus dem ersten Weimarer Jahrzehnt erhalten,  
die uns ein Bild vermitteln, was er da so  
tut und treibt; vielfach sind es nur auf die Schnelle  
verfertigte Skizzen, mit wenigen Strichen zeichnet er
verfallene Stollen,
Höhleneingänge, Bauernhütten, Hügel, Felsen,  
Bäche; gerne bei ungewöhnlichem Licht.
Die Wartburg vor allem aber Moment aufnahmen jedoch
auch, etwa Brände auf den Dörfern, und immer wieder  
das Ilmtal zu allen Jahres- und Tageszeiten, am liebsten  
aber nachts bei Vollmond sowie die Entwicklung und  
Umgestaltung des Weimarer Parks.  
In  den beiden Jahren der Italienischen Reise werden seine
prägenden Vorbilder Wilhelm Tischbein, der von Goethe
bewunderten Landschaftsmaler Jakob Philipp Hackert sowie
Christoph Heinrich Kniep  der ihm in Sizilien die Kunst des
Aquarellierens beibringen soll.  
Da der Kunstkenner Goethe,
der seine diesbezüglichen Einsichten im Lauf der Jahrzehnte  
durch genaues   Betrachten, intensives Studieren und
Vergleichen und mannigfaltige Lektüre gewinnt, ein weitere
Abende füllendes Thema ist, das nicht in einer halben
Stunden abgehandelt werden kann,  beschränkt sich  die
Referentin
im
Folgenden darauf, diese Kennerschaft
exemplarisch durch einige jener Kunstgegenstände zu
veranschaulichen, die Goethe etwa ab dem 25. Lebensjahr
zusammengetragen hat.    
  
Der restliche Vortrag ist daher dem Sammler Goethe
gewidmet. Das Auditorium wird sodann mit einer derart
opulenten Bilderfülle aus Goethes Sammlungen konfrontiert,
daß es sich nach einer weiteren ¾ Stunde für zwar
kenntnismäßig hinsichtlich Goethes Sammlungen für
bereichert, aber eindeutig optisch überfordert erklärt.  
Gottlob stehen ja noch ein Dutzend weiterer Vorträge aus.                                                                         
                                                                                                               
               
                                          
Dr. Manfred Osten (Bonn)         
Einführung in Goethes Schule der Achtsamkeit
Manfred Osten
zeichnet den Weg
von Goethes
Entwicklung als
Zeichner von
Dilettantismus
seiner frühen Jahre
bis zur Kennerschaft der späteren Zeit nach. Diese
Entwicklungslinie verband er mit seiner Theorie der
Achtsamkeit auf sich selbst und auf die Natur.  Der Referent
hob sodann die positive Emotionalität und die Ausbildung
den jungen Goethe in Frankfurt hervor. Im Elternhaus am
Hirschgraben wurden bereits sein Interesse und sein
Gedächtnis geschult; Goethes Vater sei nach dem
Grundsatz verfahren : Zeichnen müsse jedermann lernen
und so habe der Sohn  bereits von seinem ersten
Zeichenlehrer  als 14-jähriger gelernt, genau hinzusehen  
und auch die Details  des Geschauten wahrzunehmen. Dazu
war vor allem das Zeichnen ein wichtiges Mittel, ebenso
wie ein weiterer Schritt, das Belehren der Organe, denn der
Verstand ist hochmütig. Die Kenntnis der Werke Spinozas
und seine Maxime:  Deus sive natura, führte Goethe zur
tieferen Anschauung der Natur.   
                                                                                                             
Der Referent zitiert sodann ein Gespräch Goethes 1816
in mit dem Kanzler von Müller, in dem der Dichter
bemerkt: Das Zeichnen entwickelt und nötigt zur
Aufmerksamkeit und ist ja doch die höchste aller
Tugenden und Fähigkeiten.  Unter dem Aspekt der
Entwicklung von
Achtsamkeit stellt
Osten mehrere
Zeichnungen
Goethes vor, von
denen er meint,
einige seiner
Naturansichten
könne man sogar in
die Nähe von seinem Vorbild Rembrandt rücken, etwa
seinen Versuch dessen Landschaft mit Kahn
nachzuempfinden. Goethes eigene Versuche in der
Kunst des Abbildens - nahezu 1800 ausgeführte
Handzeichnungen - seien daher prägnante Beispiele für
seine Übungen in Achtsamkeit.
Im Corpus seiner Zeichnungen- so der Referent- habe
Goethe dokumentiert, wie es gelingen könnte, dem Menschen
und der Natur wieder zu ihrem Ansehen zu verhelfen.
Nämlich durch ständiges Üben und des Ansehens der
Phänomene anstelle von Theorien des ungeduldigen
Verstandes. Der Aspekt der Achtsamkeit äußerte sich auch
in der Hinwendung seiner Sammeltätigkeit z.B. auf Claude
Lorrain oder
Rembrandt.
Auch im Faust II
würde- so
Manfred Osten-
die immer
wieder erwähnte
Achtsamkeit in unterschiedlicher Weise thematisiert, etwa in
der Figur des Lynkaeus oder in der Gestalt der Sorge.                           
Dr. Petra Maisak (Bad Homburg)    
Der junge Goethe und die bildenden Künste  
Goethes literarische Begabung stand von Anfang an in
Konkurrenz mit seiner
Neigung zur bildenden
Kunst, besonders der
Malerei. Petra Maisak,
über drei Jahrzehnte
lang leitende Kustodin
im Frankfurter
Goethehaus am
Hirschgraben  zitierte exemplarisch das Gedicht An den
Mond von 1777 und stellt ihm eine entsprechende
Zeichnung aus dieser Zeit, mit der gefühlten Form und
lockeren Abbreviaturen gegenüber. Goethe hatte in
Frankfurt eine gute Ausbildung erhalten, in Leipzig
studierte er- wie erwähnt- bei Oeser, in Mannheim
wurde der Antikensaal mit den vielen Gipsabgüssen zu
Maß und Form für die Zeichenkunst. Die Phase des
Sturm und Drang mit Gedichten wie Maifest wurde von
eigenen Zeichnungen begleitet; etliche finden sich auch
in seinen Briefen. Die Versuche in der Ölmalerei aber
scheiterten. Auf der Reise in die Schweiz mit den
Brüdern Stolberg (1775) setzten ihn die
Naturphänomene in
atemloses Staunen,
seine Kunst aber
geriet bei der
Wiedergabe der
Eindrücke an ihre
Grenzen.
Die Gruppe erreichte
Italien aber nicht, es
gab nur das Bild  
Scheideblick nach
Italien. Einen
besonderen Raum
nahmen Goethes
Zeichnungen von
Personen ein. In diese Zeit gehörten aber auch die Bilder
zu Themen aus seiner Umwelt, so seines eigenen Hauses
in Weimar oder von Landschaften im Nebel mit
einfachen Linien auf blauem Papier. Das Zeichnen war
ihm ein existentielles Bedürfnis, auch um manchmal ein
Bild in ein Gedicht zu verwandeln. Er verzichtete in
dieser Phase aber noch auf Kolorit, dies kam erst nach
seinem Italienbesuch auf.                                                                                                                                            
                                                                                            
Prof. Dr. Norbert Wolf   Goethes Kunstanschauung vom
Sturm und Drang bis zur Rückkehr aus Italien
                                                         
Der Referent entwarf ein großes
Panorama des geistigen Umfeldes
sowohl des stürmenden, drängenden
jungen Goethe als auch des klassischen
Goethe nach seiner italienischen Reise.
Zum Ausgangspunkt seiner
Darstellungen nahm er Goethes Rede
Zum Shakespeares-Tag, deren Verfasser zum Zeitpunkt
der Niederschrift gerade 22 Jahre alt war. Für Wolf wird
er damit  zum Protagonisten und mit seinen Schriften zum
Motor der Entwicklung von einer auf ihre moralische
Wirkung auf die Gesellschaft bedachten Wirkungsästhetik
hin zu einer genialischen Produktionsästhetik, die eine
außerliterarische Legitimation der Literatur für obsolet
erklärt und die in der Literaturgeschichte den Namen
Sturm und Drang erhalten hat.  
Spätestens hier  wurde allerdings deutlich, daß der
Vortragende im wesentlichen aus seiner unlängst
erschienenen, 5oo Seiten umfassenden Publikation
Streitbare Ästhetik zitierte, welche auf seiner  am Institut
für deutsche Philologie der
Freien Universität
erschienenen
Habilitationsschrift fußte.  
Der Rezension ist zu
entnehmen:  Die Studie
bemühe sich
  
um eine
Rekonstruktion des
ästhetischen Denkens
Goethes bis zur Weimarer
Klassik. Im Untersuchungsgebiet zeichnen sich schon
sehr früh Tendenzen zur Autonomisierung der Kunst-
und Literaturtheorie ab. Seine paradigmatischen
theoretischen Schriften werden einer intertextuellen
Mikroanalyse unterzogen und zugleich sowohl mit den
unmittelbaren Entstehungsumständen und
künstlerischen Bezugspunkten, als auch v.a. mit ihren
europäischen Kontexten in Beziehung gesetzt.  Das Buch
lege in seinen beiden Hauptteilen jeweils einen
Querschnitt durch den ideengeschichtlichen Kontext der
theoretischen Texte Goethes um 1771/72 und 1788/89.
Anstatt Goethes Einzigartigkeit zu postulieren, gelinge
es Wolf vielmehr aufzuzeigen, wie sehr Goethes
Positionen von dessen geistigem und literarischem
Umfeld abhängen und sich mit dem Wandel des
Umfeldes ebenfalls wandeln mußten.         
                     
  
Prof. Dr. Johannes Grave (Bielefeld)   
Spannungen in Goethes Kunstauffassung um 1800               
                             
                              
Zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung nimmt der
Johannes Grave die Goethesche Gratwanderung
zwischen sinnlicher Anschauung konkreter Kunstwerke
und kunsttheoretischer, normativer Systembildung.
Zunächst gibt er noch einmal
einen strukturierten Überblick
über Goethes zeichnerische
Tätigkeit (mehr als 2500
Handzeichnungen von ihm
sind erhalten),
                                                             
widmet sich sodann aber in
der Hauptsache seiner
Grafiksammlung, die im
Laufe der Jahrzehnte auf
9179 Druckblätter und 2512
Handzeichnungen heranwächst.
Durch zahlreiche Bildbeispiele veranschaulicht der
Referent sodann, wie sehr Goethe, trotz eines vehementen
klassizistischen
Intermezzos im
Gefolge der
Italienreise, seinen
in der Frankfurter
Jugend und
während seiner
Leipziger
Studienzeit
entwickelten und in
der eigenen zeichnerischen Tätigkeit kultivierten  
Neigungen treu bleibt.
Er  zeigt auf- hiermit dem immer wiederholten  Klischee
vom Weimarer Olympier und deutschen Klassiker
widersprechend-  mit welcher Intensität Goethe auch in
der zweiten  Lebenshälfte- trotz
seiner erklärten  Vorliebe für Klassik
und Antike- weiterhin systematisch
Blätter von Albrecht Dürer und
anderen  Altdeutschen sammelte,
wobei sich nicht zuletzt sein
Augenmerk auf die Besonderheiten
der Drucktechniken und der
unterschiedlichen Abzugsqualitäten konzentrierten.
Chronologisch demonstriert er
Goethes Entwicklung als
Sammler von Druckgrafiken
und Zeichnungen.  
Bereits 1780 beginnt Goethe in
Weimar mit dem Aufbau seiner
einschlägigen Kollektion. Ab
1805 erfolgt die konsequente
Neuordnung der Sammlung
nach Schulen, ab 1814
strukturiert er sie dann konsequent um nach chronologisch
gereihten Künstlern. Die Zuhörer wurden auf diese Weise
in die Lage versetzt, Goethes Konzepte anhand des immer
wieder umgruppierten Sammlungsbestandes- dessen
Aufbau durchaus auch von so profanen Dingen wie
Sparsamkeit und Schnäppchenjagd pointiert war- Schritt   
für Schritt nachzuvollziehen:                        
Seine Sammlung sollte leben, also sich ständig erweitern und
verändern können. Als Quintessenz seiner Haltung  äußert er
Kanzler von Müller gegenüber 1830:  Ich habe nicht nach
Laune und Willkür, sondern jedes Mal mit Plan und Absicht
zu meiner eigenen
folgerechten
Bildung (...)
gesammelt und  
an jedem Stück
meines Besitzes
etwas gelernt.    
                                         
Prof. Dr. Hermann Mildenberger (Weimar)
Goethes Weg zur Landschaft                      
                                                                                                                                                                                        
Hermann Mildenberger, Leiter der
Graphischen Sammlung in Weimar
berichtete über Goethes Tätigkeit auf
diesem Feld. Von Goethes ca. 2.600
erhaltenen Zeichnungen werden dort
an die 2.000 aufbewahrt. Goethe
baute die Sammlung durch Ankäufe
von Nachlässen auf, ebenso aber durch Ankäufe auf dem
Kunstmarkt. Hierbei hatte er bereits in Frankfurt
Erfahrungen gesammelt, denn die Stadt war damals der
Mittelpunkt des deutschen Kunsthandles.
                                                                                                                           
Zu den Ankäufen gehörten die Werke älterer Künstler
wie etwa Rembrandt oder Claude Lorrain, dessen
Blätter mit Landschaftsdarstellungen fälschlicherweise
ursprünglich Adam Elsheimer zugeschrieben wurden.  
Hinzu kommen z.B. Werke
von Antoine Watteau, seine
Zeichnungen mit zwei
Tänzerinnen von höchster
Qualität. Von den
Zeitgenossen wurden
Gemälde und Zeichnungen
von Caspar David
Friedrich erworben, ebenso
von Philipp Otto Runge
oder Angelika Kaufmann,
die Goethe ja auch bei
seinem Aufenthalt in Rom getroffen hatte. Goethe war
für diese Tätigkeit bestens vorbereitet durch den frühen
Unterricht, den er in Frankfurt bei verschiedenen Malern
genossen hatte oder auch seine Studien in Leipzig. Er
fand seinen eigenen Weg bei der Brockenreise von 1777
mit Zeichnungen von Nachtstücken auf blauem Papier
mit Aussparungen und
Fragmentierungen.  
In Rom ist es zunächst Johann
Heinrich Tischbein, der ihn
zunächst fördert, zu dem sich aber
das
Verhältnis
bald eintrübte. In Süditalien wird
Jakob Philipp Hackert von
großer Bedeutung für ihn, ja,
Goethe sieht sich zeitweilig
sogar als sein Schüler an. Neben
Experimenten mit der camera
obscura bei der Landschaftsdarstellung waren es
besonders die Wolkenbilder, die ihn faszinierten.  
Mildenberger sah sie sogar in Korrespondenz der
Bereiche Poesie und Landschaft. Auch nach der
Italienischen Reise ist Goethe als Zeichner tätig. Bei
allen seinen Arbeiten aber blieb er selbst sein schärfster
Kritiker.  
Prof. Dr. Thorsten Valk- Spannungsvolle Nähe.
Goethe und die Kunst der Romantik.
Es gehört zu den Grundannahmen der germanistischen
Forschung, die Positionen der Weimarer Klassiker und
der Romantiker als stark divergierend auszuweisen,
nicht selten wird von einer unüberbrückbaren
Meinungsfeindschaft gesprochen. Thorsten Valk
unternimmt in seinem Vortrag den Versuch, die These
von der Unvereinbarkeit der Ansichten ein Stück weit in
Frage zu stellen; er möchte von einer- wie es im Titel
seines Vortrages heißt- spannungsvollen Nähe
sprechen.  
Es gibt zahlreiche Themen, die
Goethe und die Romantiker
gleichermaßen interessieren;  
beispielhaft genannt werden der
Maler Raffael, später dann die
mittelalterliche Bildkunst, wie
sie im Umfeld des Heidelberger
Kunstfreundes Sulpiz Boisserée
gesammelt wurde, oder die
gotische Architektur- für die
sich Goethe schon in jungen Jahren in Straßburg
begeisterte. Valk kann nachweisen, daß bei aller Kritik,
die Goethe dem religiösen Schwärmertum der Romantiker
entgegenbrachte, er doch deren künstlerische
Entwicklung, insbesondere die der Maler Caspar David
Friedrich und Philipp Otto Runge, aufmerksam verfolgt.
Als dieser ihm seinen Zeiten-Zyklus 1805 nach Weimar
schickte, blieb Goethe skeptisch. Er attestierte ihm zwar-
so der Referent- eine Vollendung, die man bewundern,
müsse, doch wünschte Goethe sich, daß die Kunst im
ganzen einen anderen
Weg nehmen werde.
Bringt er den
anfänglichen
Landschaftsbildern
Friedrichs noch
Wohlwollen entgegen
und veranlaßt sogar den
Weimarer Hof, mehrere seiner Werke anzukaufen, so
reagiert auf das Gemälde Morgennebel im Gebirge mit
unverhohlener Ablehnung. Als Friedrich 1811 seine
Winterlandschaft mit weiteren Ölgemälden nach Weimar
schickt, weigert sich Goethe, sich der Schwermut dieser
finsteren Naturräume auszusetzen, die auch den
Betrachter des Bildes ergreift. Ebenso entschieden
opponiert er gegen dessen im Zeichen des Todes stehende
Ruinen- und
Kirchhofbilder.
Seine wohl
schärfste Kritik an
einem Romantiker
-Motiv, dem  
Gemälde des
jungen Malers
Carl Friedrich Lessing , betitelt Klosterhof im Schnee hat
sich erhalten:  Zuerst also  die erstorbene Natur,
Winterlandschaft; den Winter statuiere ich nicht; dann
Mönche,  Flüchtlinge aus dem Leben, lebendig
Begrabene; Mönche statuiere ich nicht; dann ein Kloster,
zwar ein verfallenes, allein Klöster statuiere ich nicht;
und nun zuletzt, nun vollends noch ein Toter, eine Leiche;
den Tod aber statuiere ich nicht.  
Diese strikte, kompromisslose Ablehnung gegenüber allen
Darstellungen von Erstarrtem und Lebensfeindlichen,
insbesondere abgestorbener Natur wird er bis an sein
Lebensende beibehalten. Valks Vortrag entspricht
vollständig seinem Aufsatz Glaubenswelten, der in dem in
diesem Jahr erschienen Katalogband zur Bonner
Ausstellung Goethe, Verwandlung der Welt nachgelesen
werden kann.                                                                              
                                                  
Prof. Dr. Stefan Matuschek- Goethe Antike-Konzept
in seiner historischen Entwicklung
Ausnahmend gut besucht ist der
Vortrag Stefan Matuschek, dem neuen
Präsidenten der Goethe Gesellschaft
Weimar e.V. Der Referent konzentriert
sich in seinem Vortrag auf einen
Teilaspekt der Antike-Rezeption von
Goethe, wenn er sich ausschließlich auf
dessen Aneignung der antiken Mythologie bezieht.
Indem Goethe sich immer wieder in seinen Texten die
griechischen und römischen Mythen zueignet, diese
seinen poetischen Vorstellungen gemäß aufbereitet,
entspricht er so ganz dem
Bedürfnis der Zeit um 1800, der
rational-abstrakten Moderne mit
einer Neuen Mythologie
(Friedrich Schlegel) zu
begegnen, in der neues Denken
anschaulich und bildereich
vergegenständlicht werden
kann. Goethe spielt virtuos mit
dem überkommenen mythologischen Bild-Reservoir.
Matuschek zeigt dies paradigmatisch an der
Prometheus-Ode, dem Schauspiel Iphigenie auf Tauris
und an den Helena-Szenen im Faust II auf, wobei die
These vertreten wird, daß Goethe im Verlaufe seines
Schaffens umfassender und kreativer aus dem
überkommenen Musterkatalog neue Mythologie-Ideen
entwickelt hat, was sich insbesondere in verschiedenen
Szenen im Faust II zeige.  
Da der Referent die Antike auf ihren Mythos reduziert,
unterbleiben die von den Zuhörern erwarteten
Ausführungen z. B. zur Rezeption antiker Kunst und
Architektur; wäre deren Aneignung durch Goethe
thematisiert worden, hätten sich deutlicher noch
Grundzüge seiner kunsthistorischen Entwicklung
herausarbeiten lassen.                                                                                                                                                                  
                                                                                 
Dr. Rober Steegers                                                                                                                
Der Sammler Goethe im Spiegel seiner Werke und
seiner Zeit
   
Dem Thema Der Sammler Goethe im Spiegel seiner
Werke und seiner Zeit nähert sich Robert Steegers in
konzentrischen Kreisen. Zunächst einmal ein vertiefter
Blick auf Goethes Sammlungen: Er hinterließ 1832
Manuskripte, die heute 341 Kästen füllen, eine
Sammlung von 17800
Steinen, mehr als 9000
Blätter Graphik, etwa
4500 Gemmenabgüsse,
8000 Bücher, des
weiteren umfangreiche
naturwissenschaftliche Sammlungen, ferner zahlreiche
Gemälde und Plastiken. Neben den 9000
Druckgraphiken stehen mehr als 2300
Handzeichnungen, rund 50 Gemälde, mehrere tausend
Abgüsse antiker Gemmen, figürliche Bronzen vom alten
Ägypten bis zu Objekten aus dem
frühen 19. Jahrhundert14, rund 100
Majoliken, denen in Goethes
Wohnhaus ein ganzes Zimmer
gewidmet war. Der 1848 von
Christian Schuchardt vorgelegte
zweibändige Katalog Goethes
Kunstsammlungen verzeichnet aus
dem Nachlass des Dichters
imposante 26.000 Objekte.
Sodann erfahren wir: Wie wurde zur Goethezeit
gesammelt? Von wem? Und für wen? Welche
Sammlungen waren bedeutend? Welche hat Goethe
selbst gekannt und welche waren für seine eigene
Sammeltätigkeit prägend? Schließlich der Blick in
Goethes Werke: Wie spiegelt sich der Sammler Goethe,
wie spiegeln sich seine Sammlungen in seinen Werken,
und insbesondere natürlich in den literarischen?  
Der Referent weist darauf hin, daß in der Weimarer
Ausgabe der Werke- incl. der Briefe- die Begriffe
Sammlung(en)  und sammeln über 1560 Erwähnungen
finden.  
In seiner Schrift Der
Sammler und die
Seinigen  reflektiert
Goethe über
verschiedene Wege,
sich der Kunst zu
nähern. In diesem
kleinen, auf Kunst sich beziehenden Roman wirft Goethe
einen Blick auf Sammlungen und die
Sammelpraxis seiner Zeit. Der Zweck
des unermüdlichen Zusammentragens
von ungewöhnlichen und
interessanten Objekten ist jedenfalls
für ihn klar bestimmt: Er braucht die
Anschauung, den unmittelbaren
Umgang mit den Gegenständen, die
ihn zur Auseinandersetzung anregen.  
Davon zeugen seine
Sammlungen zur Kunst
und zu den
Naturwissenschaften,
ohne die viele seiner
Schriften nicht denkbar
gewesen wären, ebenso
wie die heute weitgehend in ihrer Substanz noch
erhaltenen Sammlungen in Weimar und Jena, deren Auf-
und Ausbau er in seiner amtlichen Tätigkeit vorantrieb.
Nicht zuletzt ist Goethe ein Menschen-Sammler, der um
sich und sein Haus, besonders in den letzten
Lebensjahrzehnten, einen Kreis von Mitarbeitern
versammelt, die Anteil an seiner Arbeit nehmen.
                                                                                   
Prof. Dr. Uwe Hentschel- (Autographen) Sammeln
als Leidenschaft.
           
Ausschlaggebend für Goethes Entschluß, eine
Sammlung von Autographen anzulegen, ist eine
Sendung von 30 Handschriften aus der Hinterlassen-
schaft des Dichters Johann Friedrich Gleim, die er 1805
erhält. Wenig später w
endet er sich an seinen Verleger
Johann Friedrich Cotta mit der
Bitte, dieser möge ihn bei der
Beschaffung weiterer Zeugnisse
unterstützen, wobei er ihm
gleich einen konkreten
Vorschlag unterbreitet: Sie
könnten mir (...)  eine besondere
Gefälligkeit erzeigen, wenn Sie
ein Stammbuch (...) anschafften
und die würdigen Männer um sich her um die
Einzeichnung eines freundlichen Wortes und ihrer
Namens Unterschrift in meinem Namen ersuchten. Uwe
Hentschel zeigt, mit welcher Begeisterung Goethe von
nun an Handschriften
sammelt; zu diesem
Zweck läßt er sogar 1811
einen zweiseitigen
Handzettel drucken und
verteilen. Auf ihm
vermerkt er die bereits vorliegenden Autographen und
fordert seine Zeitgenossen auf, ihm weitere zukommen
zu lassen. Auf diese Weise kann Goethe seine
Sammlung in kurzer Zeit vergrößern. Die Handschriften
ihm bekannter und befreundeter Persönlichkeiten sind
von großem auratischen Wert für Goethe, denn mit ihrer
Hilfe vermag er es, sich die in der Ferne Lebenden und
die bereits
Verstorbenen zu
vergegenwärtigen;
er meint sogar, von
den Handschriften
ließe sich auf den
Charakter des
Schreibers
schließen. Im
Zusammenhang mit
dem Sammel
n von
Autographen
verwies der Referent
darauf, welche Bedeutung für Goethe das Sammeln und
Bewahren grundsätzlich einnahm. Es ist kein Zufall, daß
diese Leidenschaft für das Überkommene in dem
Moment wächst, als Goethe um 1805,  nach einer
lebensbedrohlichen Krankheit, dem Tode Schillers und
dem Ende des Römischen Reichs deutscher Nation spürt,
daß- in Zeiten des Verlustes und der Umbrüche- das
Alte bewahrt werden müsse. Dieses Verlangen steigert
sich in dem Maße, wie modernes Leben, das allein auf
einen akzelerierten Fortschritt setzte, verstärkt um sich
griff
.                                                                                                                                                                                 
Dr. Markus Bertsch (Hamburg)
Wirkung und Rezeption Goethes in der
zeitgenössischen Kunst
Bei seiner Darstellung
von Goethes Wirkung
auf die Kunst der
Zeitgenossen, betont
Markus Bertsch, dass
dieser bekanntlich ein
Augenmensch war, der
sich durch das bildhafte
Sehen die Welt erschloß.
Die neuen Buchmedien
der Zeit wie Almanache
und Taschenbücher
erforderten Bildbeigaben und Goethe war überzeugt, daß
diese sich positiv auf sein Werk ausgewirkten.
Umgekehrt galten Dichtungen als wichtigste
Inspirationsquelle für die bildenden Künstler. Diese
konnten allerdings nur selektiv verfahren und lediglich
eine Auswahl der Motive zeigen, auch ist dabei der Grad
der Textnähe bei den Bildmotiven sehr unterschiedlich.  
Die Rezeption des zu veranschaulichenden Werkes, die
Illustrationen in Büchern ebenso wie ein eigenständiges
Gemälde, die Umsetzung eines Textes also in ein Bild,
bedeutet daher zugleich auch immer eine Interpretation.  
Die künstlerische Rezeption von Goethes Werken war
sehr unterschiedlich. Lösen der Werther und der Götz im
letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine lebhafte
Aneignung  bei den Künstler-Zeitgenossen wie etwa
Daniel Chodowiecki und Franz Pforr aus, die diese
Werke als Quellen der nationalen Poesie ansahen, so
war die Aufnahme von Goethes klassischen Dramen
jedoch eher  zurückhaltend. Die größte Wirkung auf die
bildenden Künste hat Goethes 1808 veröffentlichtes
Drama Faust I, insbesondere bei den Romantikern.
Peter Cornelius und Moritz Retzsch, doch auch
unbekanntere wie etwa Christian Julius Stieglitz oder
Johannes Riepenhausen warten mit zum Teil
eigenwilligen Interpretationen auf, die Bertsch als
Beispiele für Bild-Illustrationen anführt, die sich von der
bloß dienenden Funktion der Veranschaulichung des
Textes entfernten.  
So gesellt letzterer Gretchen bei der ersten Begegnung
mit Faust noch einen Schutzengel bei; auch Mephisto
hat bei dieser Szene eigentlich nichts verloren.