Goethe und Berlin
Festvortrag zum Jubiläum 100 Jahre Goethe Gesellschaft Berlin e.V.
im Konzerthaus am Gendarmenmarkt
25.Mai 1919 - 25.Mai 2019
Beate Schubert
In Berlin ist ein so verwegener Menschenschlag beisammen, daß man mit Delikatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein
muß, um sich über Wasser zu halten. Diese Bemerkung des 74-jährigen Goethe Eckermann gegenüber, wird immer wieder kolportiert und hat zu der irrigen Meinung beigetragen,
Goethe habe Berlin nicht gemocht, Immerhin wurde er unzählige Male an die Spree eingeladen und hat stets unter Vorwänden abgesagt. Schließlich war er auch nur einmal dort, im
Mai 1778 und das auch nur 5 Tage lang und nicht einmal freiwillig, sondern im Schlepptau des Herzogs Carl-August.
Doch diese angebliche Berlin-Animosität Goethes trifft gar nicht zu, ganz
im Gegenteil, ich behaupte sogar: Mit keiner anderen Stadt hat sich
Goethe so intensiv auseinandergesetzt wie mit Berlin. Ständig will er
darüber auf dem Laufenden gehalten werden, was hier geschieht und ist
meist bestens darüber unterrichtet. Zu keinem anderen Ort pflegt er so
intensive und fruchtbare Kontakte: menschlich, politisch, künstlerisch,
wissenschaftlich. Dies allerdings erst in der zweiten Lebenshälfte.
Seine erste Bemerkung zu Berlin finden wir in einem Brief des 17-jährigen Studenten Goethe, der aus Leipzig der Schwester Cornelia
nach Frankfurt schreibt: Ich glaube, es ist jetzt in Europa kein so gottloser Ort als die Residenz des Königs in Preußen. Er weiß
natürlich gar nicht, wovon er redet, denn er war ja noch nie in Berlin- und er tut hier etwas- das er schon wenig später sein ganzes
Leben lang, immer wieder bis auf hefigste bekämpfen wird, sich nämlich ein Urteil zu bilden über Zustände, die man gar nicht aus
eigener Anschauung kennt, sondern nur vom Hörensagen oder aus den Gazetten.
Wir befinden uns momentan noch mitten im Rokoko, an seine Leipziger Liebe Annette- genannt Kätchen- richtet
er zwar noch zierliche Tändelgedichte, doch gleichzeitig beginnt er schon, Theaterstücke zu Papier zu bringen, in
denen es bereits ziemlich lautstark und deftig zugeht, wie etwa im Lustspiel Die Mitschuldigen.
Kein Wunder, liest er doch bereits die ersten- von Wieland soeben ins Deutsche gebrachten Shakespeare-Stücke-
und ihm ist klar, wenn man- wie er es vorhat- ein großer Dichter werden will, dann muß man Dramen
schreiben und zwar historische und man muß einen Protagonisten haben, der für eine gute gerechte Sache
kämpft.
Wir machen nun einen Sprung ins Jahr 1771. Goethe hat sein Jura- Studium, nach einem 2. Studienaufenthalt
in Straßburg beendet und ist jetzt tätig jetzt als junger Anwalt in der Frankfurter Kanzlei des Vaters. Insgeheim gedenkt er aber
keineswegs die Juristerei auf die Dauer als Brotberuf weiter zu treiben. Am 14.Oktober trägt er vor seinen Freunden anlässlich des
Shakespeare-Tages in Frankfurt am Main eine Rede vor; in der er den von ihm bewunderten englischen Lyriker und Dramatiker für sein
Schaffen ehrt und seine ganz persönliche Beziehung zu ihm ausdrückt.
Kurz darauf schreibt er- angeblich wie Shakespeare ohne Entwurf oder Plan- in ganzen sechs Wochen in einem förmlichen Schreibrausch
die Geschichte des edlen Ritters Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand nieder. Dieser schwäbische Reichsritter ist einer, der
von vorneherein auf verlorenem Posten kämpft und schließlich resigniert feststellen
muß Freiheit gibt es nur im Jenseits, die Welt aber ist ein Gefängnis.
Ähnlich wie sein Götz will auch Goethe mit diesem Drama Grenzen einreißen und stellt sich gegen alle bisherigen Theater-
Konventionen. Die bis dahin üblichen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung hebt er kurzerhand auf. Es gibt insgesamt allein
über fünfzig Handlungsorte, die dargestellte Zeit wird nicht auf einen Tag beschränkt, sondern durch mehrere parallel laufende
Handlungen.
Das 200 Seiten starke Manuscript schickt er an seinen Darmstädter Freund Johann Heinrich Merck, der ist ganz begeistert, eine
zweite Abschrift sendet er seinem Straßburger Mentor Johann Gottfried Herder. Der äußert sich dagegen allerdings
unfreundlich und hart. Herder hält den sogenannten Urgötz, für viel zu weitschweifig Shakespeare sei ganz verdorben worden. Das ist nun
das härteste Urteil für Goethe überhaupt; dessen großes Vorbild der Engländer ja nun einmal ist. Doch er nimmt die Kritik an und schreibt
zurück, er wolle sein Werk von Schlacken reinigen und umgiessen. Und tatsächlich, er strafft die Handlung wo er kann und streicht von den
ursprünglich 208 Seiten der ersten Fassung über 40.Merck schlägt ihm vor, das Ganze in kleiner Auflage als Privatdruck zu veröffentlichen
und so geschieht's.
Der Urgötz enthält noch das berühmte Zitat: Sag ihm er kann mich mal ... und erscheint- erst mal so
als Versuchsballon- ohne Angabe des Verfassers- anonym. (heute wird dieser äußerst seltene
Erstdruck für 28.000,-€ im Netz angeboten). Das Weimarer Goethe-Schiller Archiv , hat mir
freundlicherweise das Zitat aus Goethes eigenhändigem Original-Script gescannt, das nach meiner
Kenntnis bisher noch nie veröffentlicht wurde. Und dies Script liegt im Safe und wird nie
verkäuflich sein, auch nicht für 2,8 Mill.
Was hat das nun alles mit Berlin zu tun? Viel. Durch Berlin nämlich wird Goethe vom Autoren-Nobody über Nacht zum literarischen Shooting
Star. Mit Mercks Hilfe besorgt er den Vertrieb der kleinen Auflage selbst und auf eigene Kosten. Ein Exemplar schicken sie nach Berlin in
die Behrensstr. 55, dort residiert die von Sr. Königl. Majestät von Preußen allergnädigst privilegierte Kochsche
Truppe, zu dieser Zeit , Berlins einzige ständige deutsche Schauspielbühne, auf den anderen gibt man französische
Stücke, da der König bekanntlich sehr frankophil ist, besser französisch als deutsch spricht, und danach müssen sich
eben alle richten.
Man erkennt dort das Potential des Stücks sofort; bereits am 12. April 1774 wird der Götz also in Berlin
uraufgeführt, in historischen Kulissen und Kostümen und die Vossische Zeitung bringt folgende Ankündigung: Götz
von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein ganz neues Schauspiel in 5 Akten, welches nach einer besonderen und
jetzt ganz ungewöhnlichen Einrichtung von einem gelehrten und scharfsinnigen Verfasser mit Fleiß verfertigt
worden. Es soll, wie man sagt, nach Shakespearischen Geschmack abgefaßt sein. Der Autor wird allerdings zunächst nicht
genannt, erst bei der 3.Wiederholung heißt es auf dem Theaterzettel: Schauspiel in 5 Akten von Herrn D. Göde in Frankfurt a.
Main. Der Zulauf zu den Vorstellungen ist so groß, daß man das Stück sechs Tage hintereinander spielen muß, im
Ganzen 14 x. Von allen Seiten hagelt es positive Besprechungen. Goethe schwebt auf Wolke 7;dank der erfolgreichen
Berliner Inszenierung ist er nun über Nacht vom unbekannten Rezensenten der Frankfurter Gelehrten Anzeigen zum
berühmten Autor geworden. Auf Berlin, insbesondere auf dessen Theaterszene ist er daher im nächsten halben Jahr also
sehr gut zu sprechen.
Das hält allerdings nicht lange vor. Noch ist er offiziell in der Kanzlei des Vaters als Anwalt tätig, verfasst Schriftsätze
voller Leidenschaft und Eloquenz, doch nicht mehr lange, das weiß er, dann wird er die Juristerei an den Nagel hängen.
Kurze Zeit später, im Januar 1774, verfasst er in wenigen Wochen bekanntlich den Briefroman Die Leiden des jungen
Werthers, basierend auf dem Lotte-Erlebnis zwei Jahre zuvor und dem Tod des Wetzlarer Bekannten Jerusalems wg. der
Liebe zu einer verheirateten Frau, von dem er durch Lottes nunmehrigen Gemahl Kestner erfahren hat.
DerWerther, dessen Protagonist aus unerfüllter Liebe Selbstmord begeht, wird Schlüsselroman des Sturm und Drang, zum
ersten Bestseller der deutschen Literatur, und in mehr als 30 Sprachen übersetzt werden. Empfindsamkeit ist bei der jungen
Generation gerade en vogue, doch kaum ist er erschienen, ruft er bei Kritikern äußerst emotionale Reaktionen hervor. Viele
zeitgenössische bürgerliche Leser, insbesondere Ältere empfinden den Werther als Störer des Ehefriedens, als Rebellen und Freigeist, der ihre moralischen
und religiösen Wertvorstellungen verletzt. Der konservative Theologe Lavater beispielsweise bezeichnet den Werther als unchristlich und jeglichem Anstand
zuwider. Mancherorts wird das Buch wegen seiner angeblichen Verherrlichung des Suizids sogar verboten. Goethe verwahrt sich gegen derlei Unterstellungen und
argumentiert, er selbst sei durch sein eigenes Überleben ja das beste Beispiel dafür, daß man sich seinen Kummer vom Herzen schreiben müsse.- Nun gut, und wie
sieht man das in Berlin?
Im Januar 1775 erscheint unter dem Titel Die Leiden und Freuden Werthers des Mannes eine Parodie. Verfasser ist der Autor und
Verleger Friedrich Nicolai, der zu den Vertretern der sog. Berliner Aufklärung zählt, die Goethe ohnehin wenig schätzt. Der Inhalt,
falls unbekannt: Albert ahnt bei Werthers Ersuchen, ihm die Pistolen auszuhändigen, daß dieser sich erschießen will und lädt sie
daraufhin mit einer Blase voll Hühnerblut. Nach dem Schuß erklärt er dem blutüberströmten Werther; daß er seinem und Lottes
Glück nicht im Wege stehen wolle und die Verlobung nunmehr löse. Also ein bürgerliches Happy end.
Der verheiratete Werther erleidet dann ähnliches Ungemach wie einst der mit ihr verlobte Albert: da er beider Lebensunterhalt
durch Arbeit verdienen muß, hat er wenig Zeit für seine Frau; das erste Kind stirbt und ein Nichtsnutz, der schöne Reden führt,
verdreht Lotte den Kopf, es kommt zum Streit, sogar zu einer zeitweiligen Trennung, schließlich aber in wachsender Einsicht
Werthers in seine eigenen Jugendtorheiten doch noch zu einer beschaulichen Ehe, gesegnet mit einer ganzen Anzahl von Kindern.
Goethe findet das nun überhaupt nicht komisch, und er antwortet auf diese Verspottung seines Werkes, das die meisten doch mit
Tränen in den Augen lesen und preisen, mit einem höhnischen Gedicht- denn ätzende Satire, das hat er oft genug unter Beweis
gestellt, das kann er auch. Es kommt zunächst nur in privaten Abschriften in Umlauf, da Goethe meint, man könne es eigentlich nicht
öffentlich mitteilen. Erst später wird es ohne sein Wissen gedruckt; gerichtet ist es natürlich an Friedrich Nicolai, der darüber
wahrscheinlich auch nicht sehr amüsiert ist: NICOLAI AUF WERTHERS GRABE (1775)
Ein junger Mensch, ich weiß nicht, wie,/ Starb einst an der Hypochondrie /Und ward dann auch begraben. /
Da kam ein schöner Geist herbei,/Der hatte seinen Stuhlgang frei,/Wie's denn so Leute haben.
Der setzt notdürftig sich aufs Grab/Und legte da sein Häuflein ab,/Beschaute freundlich seinen Dreck,/Ging wohl eratmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:/Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben!/Hätt' er geschissen so wie ich,/Er wäre nicht gestorben!
Mit Berlin und den dortigen Aufklärern, den Schriftstellern und Rezensenten um Nicolai ist Goethe erst einmal fertig. Jemand,
der wie er in aller Stille an einem Drama arbeitet, dessen Protagonist die Schulweisheit der Magister und Pfaffen ablehnt, sich
der Magie ergibt, Nostradamus zitiert,den Erdgeist anruft und schließlich einen Pakt mit dem Teufel schließt, sich also
dichterisch in überaus mysthische Gefilde begibt, der kann einfach nicht anders als solche sicher braven, verdienst- und
kenntnisreichen Männer, die wie Nicolai , alles niederhalten und beseitigen, was nicht zu ihrer Sinnesart paßt, für geistig sehr
beschränkt zu halten. Er- Goethe- wird sein ganzes Leben lang auf der Suche sein nach dem, was die Welt im Innersten
zusammenhält ; diese pragmatischen Berliner Realisten wie Nicolai, die scheinbar auf alles eine Antwort haben und meinen, es
gäbe nichts, was sich nicht mit Logik und Vernunft erklären ließe, vermag er einfach nicht für voll zu nehmen.
20 Jahre später wird er den dann äußerst erfolgreichen Buchhändler, Verleger und Reiseschriftsteller Nicolai gemeinsam mit
Schiller während des sogenannten Xenien-Streits als Quer-Leerkopf bezeichnen.
Noch im November desselben Jahres 1775 bricht Goethe bekanntlich nach Weimar auf; eingeladen vom
soeben großjährig gewordenen Herzog Carl-August; weder kann er ahnen, daß er dort die nächsten 55
Jahre bis an sein Lebensende bleiben wird, noch, daß er drei Jahre später, wenn auch nicht so ganz
freiwillig, nachBerlinfahren wird. Diese einzige Berlin-Reise Goethes im Mai 1778 unternimmt er als
Begleiter Carl-Augusts und sie hat den Zweck, die Stellung des Herzogtums im kurz danach ausbrechenden
Bayrischen Erbfolgekrieg festzulegen. Der politische Hintergrund:Preußens Friedrich II. hat- 17 Jahre nach
dem Habsburger Frieden- erneut zum Krieg gegen Österreich gerufen. Die kleineren Fürsten Deutschlands
sind in Alarmstimmung, denn sie verspüren wahrlich wenig Lust, nach den entbehrungsreichen Jahren der
Erbfolgekriege, nun dem Preußenkönig ein weiteres Mal mit Rekruten bei einem seiner Waffengänge zu
unterstützen. Der Anlaß für diese einzige Berlinreise seines Lebens ist für Goethe also ein eher unerfreulicher; dringende
Zurückhaltung und Diskretion im Umgang mit Zivilpersonen und Militärs hat man ihm angeraten.
Am 15 Mai erreichen der Herzog und er Potsdam und besichtigen dort zunächst
das sog. Exerzierhaus in der Nähe der Garnisonskirche, ein schlichtes langes
niedriges Fachwerkgebäude, noch aus der Zeit des Soldatenkönigs.
Im 2.Weltkrieg wurde es zerstört, daher existieren davon nur noch
Vorkriegsfotos; tatsächlich will- wie man hört- die Potsdamer Bürgerinitiative
Mitte-Schön es demnächst wiederaufbauen lassen, als kulturelle
Begegnungsstätte.
Wie der Name schon sagt, zuzeiten Friedrichs wird dort bei schlechtem Wetter und im Winter Exercieren geübt. Nun muß man sich
ja folgendes vor Augen halten: Der nunmehr gerade 21-jährige Carl-August, der den Vater ein Jahr nach seiner Geburt verlor, hat-
obwohl er scharfes Galoppieren und die Jagd liebt- nicht wirklich Ahnung von militärischen Fragen oder vom Soldatenleben, wie
auch? In den ersten Lebensjahren ausschließlich erzogen von einer Frau, der früh verwitweten Anna-Amalia, die in Weimar
Schöngeister um sich scharrt, aufgewachsen inmitten eines Musenhofs mit dem Dichter Christoph Martin Wieland als Erzieher,
weiß er vom wirklichen Kriegsgeschehen nur aus einschlägiger Buchlektüre.
Auch der 28-jährige Goethe war zuzeiten des 7-jährigen Krieges ja noch ein Kind; sein Wissen über kriegerische Vorgänge hat er
sich für den Götz ebenfalls erst anlesen müssen, von militärischen Grundsatzfragen, und praktischer Ausbildung haben beide
keinen Schimmer und das in einer Situation, in der das Herzogtum eventuell in einen Krieg mit hineingezogen wird.
Danach besuchen sie das Militär-Waisenhaus, einen riesigen barocken
Gebäudekomplex, ebenfalls errichtet vom Soldatenkönig und ausgebaut von
Friedrich II., hier erhalten die Söhne der rd. 180 000 im 7-jährigen Krieg
gefallenen Soldaten eine solide Handwerks-Ausbildung. So steht es jedenfalls
auf dem Papier. Nach erheblichen Zerstörungen im 2. Weltkrieg ist der gesamte
Gebäudekomplex heute nun wieder hergerichtet und beherbergt seit einigen
Jahren die Große Waisenhaus Potsdam Stiftung für Kinder- und Jugendhilfe.
Auch wird noch der lange Stall mit den Pferden angeschaut- auch der existiert heute
bekanntlich noch als Potsdamer Filmmuseum. Dann ist mit diesen drei Inaugenscheinnahmen
militärischer Einrichtungen der Pflicht Genüge getan und sie beschließen nachmittags nach
Sanssouci zu fahren, um sich dort König Friedrichs Bildergalerie und womöglich sogar das
Schloss anzusehen, der König ist zwar nicht zu Hause, da bereits an der Front, aber kann ja
mal fragen.
Immerhin ist Friedrich II ja Carl-August Großonkel, Anna-Amalia ist seine Nichte.
Doch sie reisen ja anonym und so machen sie offenbar ihre erste Erfahrung mit einem
augenscheinlich berlinernden nicht sehr höflichen Haushofmeister. In Goethes kargen
Tagebucheintragungen heißt es: Nachmittag nach Sansouci. Castellan ein Flegel!
Gegen Abend geht es über Zehlendorf, Wilmersdorf und Schöneberg zur Potsdamer Brücke- damals
noch völlig im Grünen gelegen und im letzten Tageslicht gelangen sie an die Stadtgrenze., das alte
Brandenburger Tor und betreten nach dem Passieren der Wache den Boden der preußischen
Hauptstadt.
Weiter geht es durch die Linden auf den Friedrichwerder, wo sie erwartet werden von Prinz Hans
Georg, dem jüngeren Bruder des Wörlitzer Regenten Leopold im sog. Fürstenhaus, wo Carl-August-
um das Inkognito zu wahren, unerkannt Quartier nehmen kann. Goethe und dermitreisende
Kammerherr von Wedel steigen dagegen ab in einem eben eröffneten Etablissement erster Klasse,
dem L'Hotel de Soleil d'Or oder Gasthof zur Goldenen Sonn Unter den Linden 23.
Goethe ist das sehr recht, denn er möchte so viel wie möglich unerkannt ausschwärmen in Berlin. Er hat sich
vorgenommen, die Stadt und ihre Bewohner gründlich zu studieren, um sich über das Wesen der Spree-
Metropole ein möglichst genaues Bild machen zu können.
Das Wesen einer Großstadt mit ihrer weitläufigen Ausdehnung, der Fülle ihrer baulichen Ausstattung, den
breiten Straßen im Zentrum und der Masse ihrer Bewohner ist ihm bis dato unbekannt.
Sicher, die beiden Handelsstädte Frankfurt und Leipzig, die ihm wohl vertraut sind, ziehen auch Besucher aus
aller Welt an; aber außerhalb der Messe bleiben die Bürger doch weitgehend unter sich; man kennt und grüßt
einander in den engen verwinkelten Straßen der mittelalterlichen Altstadt Frankfurts oder in den Höfen der
Handelskontore der modebewußten Messe-Metrolopole mit dem Spitznamen Klein Paris; dort stehen nicht
nur die Waren, sondern- dank der mittelalterlichen Universität- auch die Wissenschaften hoch im Kurs.
In der preußischen Königsstadt, deren Herrscher Friedrich II. sieben Jahre lang Krieg gegen halb Europa
geführt hat, herrscht ein anderer Ton, auf den Straßen sieht man überall Uniformen und die Rede ist von
preußischen Tugenden und Kadavergehorsam. Und dies, obwohl der König nachgesagt wird, er sei-
zumindest in jungen Jahren- ein Schöngeist gewesen, der kluge Köpfe wie Voltaire und andere gescheite
Leute an seine philosophische Tafelrunde nach Potsdam gezogen habe.
Goethe kann von seinem Gastzimmer direkt auf das Forum
Fredericianum sehen; hier ist alles großflächig und repräsentativ; die
breiten Straßen auf dem Friedrichswerder, rechtwinklig angelegt, wie auf einem Schachbrett, laufen auf die
Spreeinsel und den darauf gelegenen Schloßbau von Andreas Schlüter zu. Das muß er sich alles in Ruhe
ansehen.
Am nächsten Morgen begibt er sich allerdings erstmal durch die Friedrichstr. zur Königlich Preußischen
Porzellan-Manufaktur, in der Leipziger Straße, nahe gelegen am Oktogon , wie der riesige achteckige Platz
damals genannt wird. Nachdem der Herzog im Vorjahr in Ilmenau die Einrichtung einer landeseigenen
Porzellanfabrik konzessioniert hat, ist Goethes Interessean der Porzellanherstellung erwacht. Man zeigt ihm bei
der KPM die Brennöfen, das Formen, Bemalen und Glasieren sowie das reichhaltige Verkaufssortiment.
Den Stichworten im Tagebuch entnehmen wir, daß er sich anschließend das OpernhausUnter den Linden
und die dahinter gelegene katholische Hedwigkirche anschaut, die allerdings damals noch im Bau ist.
Anschließend besichtigt er von innen und außen die via a vis der Oper gelegene Königliche Bibliothek, die
sogenannte Kommode und wirft sodann einen Blick ins Zeughaus, damals Arsenal, genannt, Kanonen und
Waffen aller Art interessieren ihn aber nur mäßig. Mit großem Interesse betrachtet er sich sodann von allen
Seiten das von Andreas Schlüter und Eosander von Göthe erweiterte Berliner Schloß, in dem der König, der
momentan bereits bei seinen Truppen ist, sich allerdings nur selten aufhält, da er vorzugsweise in seinem
geliebten Sanssouci weilt.
Zu Friedrichs Zeiten ist es überwiegend öffentlich zugänglich, da hier verschiedene Behörden, die Finanz und
Innenverwaltung untergebracht sind sowie das preußische Staatsarchiv. Goethe äußert im Tagesbuch aber keine
Eindrücke, sondern zählt nur die besuchten Gebäude auf. Alle repräsentativen Prachtbauten der Residenzstadt
stehen heute wieder an ihrem Ort, seit neuestem auch das Schloß, als Humboldtforum wiedererrichtet. Nur wenig
läßt heute darauf schließen, daß alle diese Gebäude im 2. Weltkrieg schwer beschädigt waren und das Schloß
- 1950 in die Luft gesprengt - über sechs Jahrzehnte gar nicht mehr existierte.
Seine Visiten notiert Goethe ebenfalls in Stichworten: Zweimal ist er bei Daniel Chodowiecki zu Besuch, dem von ihm
verehrten Kupferstecher, der ja die Werther-Illustrationen für die Erstausgabe geschaffen hat, die auch heute noch
maßgeblich sind. Nicolais Parodie mochte er zwar nicht, Chodowieckis Illustrationen dazu aber sehr wohl.
Erfreulich ist für ihn das Wiedersehen mit dem ihm von früher bekannten Komponisten Johann André, überhaupt der
einzige Mensch in Berlin, den Goethe zu dieser Zeit persönlich kennt. Nunmehr ist dieser Musikdirektor der
Döbbelinschen Schauspielertruppe und gleich am selben Abend sieht Goethe sich eine Inszenierung des Freundes an,
seine Aufführung des Lustspiels: Die Nebenbuhler.
Nach einem Besuch bei Anton Graff, dem Portraitmaler des Hofes, entschließt er sich spontan zu einem Besuch bei
dem Historiker Jacob Wegelin, da dieser zufälligerweise im selben Haus wohnt. Mit ihm, dem Archivar der
Königlichen Akademie der Wissenschaften unterhält sich Goethe über dessen neueste Projekte: Wegelin gilt zwar als etwas
weitschweifig, aber er hat ein immenses historisches Wissen und ist einer der führenden Vertreter der empirischen
Geschichtsschreibung. Fruchtbar für den 28-Jährigen Goethe ist das Gespräch sicher, hat er jedoch zwei Jahre zuvor in einem
Brief an Merck erwähnt, er wolle ausprobieren, wie einem die Weltrolle zu Gesicht stünde.
Besonders vermerkt das Tagebuch auch die Visite bei der spöttisch deutsche Sappho genannten Dichterin Anna Louise
Karsch. Die Karschin und ihre Tochter berichten ausführlich über Goethes Besuch. An den Dichter Ludwig Gleim etwa
schreibt sie: uns gefiel er gut, Chodowiecky'n auch, aber die andern Herrn sind gar nicht zufrieden mit ihm. Er machte keinem
Dichter die Cour, ging nur bei Chodowiecky, bei seinen Landsmann, den Thonkünstler Andre und bei mich. Er ist andren
Tages bey einem Baron auffm Concert gewesen und da hat ihn die ganze Versammlung sehr stolz gefunden, weil er nicht
Bückerling und Handkuß vertheilte, man spricht, daß Ihm der Kayser baronisiren wird, und daß er alsdann eine Gemahlin aus
noblen Hause bekommt.
Ich frug ihn, ob er nicht auch das Vergnügen kosten wollte ,Vater zu sein; er schien's nicht weit von sich zu werfen, er ist ein
großer Kinderfreund und eben dieser Zug läßt mich hoffen, daß er auch ein guter Ehemann werden wird und sicherlich noch
ein recht guter Mensch, ders einmal bereuet, was in seinen Werken etwan anstößig gewesen ist. (Götzzitat). Er liebt die
freymüthigen offenherzigen Leute, und mag's gern haben, wenn er geliebt wird, das gefällt ihm besser als hohes Lob;
wieder ein Merkmahl eines gutartigen Gemüths. Er scheint übrigens zum Hypochonder gebaut zu sein, ist kein Wunder, das
sind alle guten Köpfe. Soweit die Schilderung der Volksdichterin Karsch.
Am Sonntag besucht Goethe, der sonst wahrlich kein Kirchgänger ist, den Gottesdienst in der Nicolaikirche, um den
dortigen Propst Johann Spalding predigen zu hören.
Herder polemisiert in Weimar seit Jahren gegen ihn und nennt seine reflektierte Menschenfreundlichkeit unglaubhaft.
Ihm sei Spaldings milde Weisheitslehre zuwider, er, Herder erachte dessen ewige Einförmigkeit, die güldne
Mittelmäßigkeit. Doch Spalding läßt sich nicht zu Gegenaggressionen provozieren, sondern erwidert Herder:
Ich ehre von ganzem Herzen die großen Talente, die Gott Ihnen gegeben hat; aber ich bitte Sie, sie durch Klarheit,
Sanftmuth und unparteiische Billigkeit den Predigern und den Menschen nützlicher zu machen. Goethe notiert im
Tagesbuch: Spaldings Predigt ! Den leicht cholerischen Herder zur Sanftmut aufzufordern, darauf muß man erstmal
kommen.
Hier nun drei Herren, denen Goethe eigentlich einen Besuch hätte abstatten müssen. Daß er Friedrich Nicolai nicht
aufsucht, der momentan Karriere macht als Verlagsbuchhändler, Kritiker und Verfasser von Reisebeschreibungen und
ninzwischen als Kopf der Berliner Aufklärung gilt, ist ja nach der Werther-Parodie und der darauf folgenden Kontroverse
achzuvollziehen.
Da dieser allerdings auch eng befreundet ist mit Gottfried Lessing und macht er um diesen beiden einen Bogen, und das,
obwohl er zehn Jahre zuvor nach der Lektüre von Lessings Aufsatz Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie sehr
beeindruckt war und dessen Erkenntnisse dem eigenen Werk und seinem von Winkelmann geprägten Verständnis der
antiken Kunst zugrunde gelegt hat.
Auch Moses Mendelssohns Schrift Von der Unsterblichkeit der Seele hat ihn damals sehr beschäftigt, doch er sucht diesen
ebenfalls nicht auf. Die Anwesenheit Goethes hat sich natürlich herumgesprochen und beide scheinen nun auch etwas
verschnupft zu sein, finden jedenfalls später nie den Weg nach Weimar. Was hätten sich mit diesen beiden für
Korrespondenzen ergeben können. Doch es hat halt nicht sollen sein.
Erst Mendelssohns Enkel Felix wird über vier Jahrzehnte später als Zwölfjähriger im Weimarer Haus am Frauenplan dem
dann 72-jährigen Geheimrat eigene Kompositionen vorspielen.
Am Nachmittag sind der Herzog und Goethe mit ihren Begleitern dann beim Prinzen Heinrich, dem
jüngeren Bruder des Königs zur Tafel geladen; mit ihnen der inzwischen ebenfalls angereiste Fürst
Leopold von Sachsen-Anhalt , mit dem sie befreundet sind und in dessen Wörlitzer Park Goethe in der
Woche zuvor noch die Zeilen geschrieben hat: Hier ist's jetzt unendlich schön !
Ort dieser Tafelrunde ohne Friedrich ist das sog. Prinz-Heinrich- Palais, die heutige Humboldt-
Universität- nach dem königlichen Schloß der größte Berliner Gebäudekomplex, in den dann später die
Universität einziehen wird. In Berlin ist es trotz des guten Wetters momentan nicht so unendlich schön;
vielmehr erscheint es in diesen Tagen als eine Garnisonsstadt in Aufbruchsstimmung. Die Generalität ist
mit ihren Kommandanten angereist und 25 000 Mann warten darauf, daß Prinz Heinrich dem Befehl seines
Bruders Folge leistet und sich mit der Armee nach Sachsen begibt, um eine österreichische Armee in
Böhmen anzugreifen.
Näheres von der Unterredung ist nicht überliefert, Goethe verhält sich wortkarg und
abweisend, was soll er auch sagen, er ist der einzige Bürgerliche am Tisch und seine Meinung
interessiert hier in diesem Kreis ohnehin niemanden. Man hat ihm das - fremde Briefe
bezeugen es - als Stolz und Hochmut, auch als Unwissenheit und Ungeschicklichkeit
ausgelegt. Doch er sollte ja schweigen.
An Charlotte v. Stein schreibt er auf der Rückreise: ,Berlin, Sonntag 17. Abends :
Durch die Stadt und die mancherley Menschen Gewerb und Wesen hab ich mich
durchgetrieben. Und die Pracht der Königstadt gesehen, Leben und Ordnung und Ueberfluss, das nichts
wäre, ohne die tausend und tausend Menschen, bereit, für sie geopfert zu werden. Menschen, Pferde,
Wagen, Geschütz, Zurüstungen, es wimmelt von allem... Wenn ich nur könnte bey meiner Rückunft Ihnen
alles erzählen, wenn ich nur dürfte. Aber ach, die eisernen Reifen, mit denen mein Herz eingefaßt wird,
treiben sich täglich fester an, daß endlich gar nichts mehr durchrinnen wird. So viel kann ich sagen: je
größer die Welt, desto garstiger wird die Farce und ich schwöre, keine Zote und Eseley der
Hanswurstiaden ist so ekelhaft als das Wesen der Grossen Mittlern und Kleinen durcheinander.
Im Brief an Merck lesen wir am 5.August: ... in Berlin war ich im Frühjahr; ... Du weißt, wie ich im
Anschaun lebe; es sind mir tausend Lichter aufgegangen und ich hab über den großen Menschen seine eignen Lumpenhunde räsonnieren hören.
Einen großen Theil von Prinz Heinrichs Armee, sind wir passiert, Manoeuvres und die Gestalten der Generale, die hab ich halb dutzendweis bei
Tisch gegenüber gehabt und die machen mich auch bei dem jetzigen Kriege gegenwärtiger. Der sogenannte Bayerische Kartoffelkrieg geht dann
noch mal glimpflich aus, doch das kann man ja vorher nicht immer wissen. Friedrich II. segnet am 17.August 1786 das Zeitliche; Goethe erhält die
Nachricht eine Woche später in Karlsbad, kurz bevor er nach Italien aufbricht.
Sein Verhältnis zu Berlin wird von nun an ein sehr viel entspannteres sein und das hat nicht zuletzt damit zu tun, daß er in den
nächsten Jahren zahlreiche interessante Menschen kennenlernt, die alle eines gemeinsam haben: Sie sind Berliner. In Rom lernt er
gleich zu Beginn den 7 Jahre jüngeren Schriftsteller Karl Philipp Moritz kennen, der zur Künstlerkolonie in der Via del Corso
gehört. Moritz hat soeben einen autobiografisch gefärbten, psychologischen Roman veröffentlicht unter dem Titel Anton Reiser.
Dessen Protagonist strebt an, Schauspieler zu werden.
Zwischen den beiden gibt daher es viele gemeinsame Schnittmengen, sitzt Goethe doch seit geraumer Zeit an einem thematisch
ähnlichen Romanfragment Wilhelm Meisters theatralischer Sendung; auch ist Moritz- ebenso wie er- fluchtartig aus seinen
Lebensverhältnissen aufgebrochen, die er als Lehrer am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster nicht mehr ertragen hat.
Ende November bricht sich Moritz den Arm, sein Pferd, so notiert Goethe ist auf dem glatten römischen Pflaster ausgeglitscht, er hat
große Schmerzen und muß 40 Tage fest im Bett liegen. Goethe organisiert eine Besucherfolge, die rund um die Uhr bei dem
Kranken ist und betätigt sich auch selber als Wärter, Beichtvater und Vertrauter. In Rom wird Moritz zu Goethes
gleichberechtigtem Partner in den Kunst- und Literaturdebatten und beider Freundschaft dauert an bis zum Moritz frühem Tod
1793.
Ebenfalls während der ersten Wochen des Romaufenthalts empfiehlt ihm der Maler Tischbein, bei dem er wohnt, den aus
Schwaben stammenden Archäologen und Altertumsforscher Aloys Hirt, der ihn dort wochenlang als kundiger Cicerone durch die
Stadt führt und inmitten der Ruinen-Relikte des römischen Reiches geschichtliche Zusammenhänge erläutert, die so in keinem
Fremdenführer stehen. Wegen der napoleonischen Kriege siedelt Hirt dann 1796 nach Berlin über, wird Königlich Preußischer Rat
und Mitglied der Berliner Akademien der Wissenschaften und der Künste; er entwickelt Pläne für die Errichtung eines Museums
aus Kunstbeständen des Königshauses, die dann letztlich in die Errichtung des Alten Museums münden. Mit der Gründung der
Berliner Universität wird er 1810 ordentlicher Professor für Archäologie. Die Korrespondenz zwischen Goethe und Hirt erstreckt
sich über vier Jahrzehnte. Hat er irgend welche Fragen hinsichtlich Kunst und Altertum, die ihm niemand beantworten kann,
dann ist Hirt sein Mann in Berlin.
Im Februar 1788 fährt Goethe in Tischbeins Begleitung nach Neapel und der macht ihn bekannt mit dem dort
derzeit ansässigen berühmtem Landschaftsmaler Philipp Hackert. Dieser stammt aus Prenzlau, erhielt aber
seine künstlerische Ausbildung in Berlin und ist bekannt für seine trockenen unverblümten Kommentare.
Einige von Hackerts Ideallandschaften hatte Goethe schon vier Jahre zuvor beim Herzog von Gotha gesehen
und besonders die Fernen und Himmel schön gefunden und er macht aus seiner Bewunderung also kein Hehl.
Hackert lädt ihn ein, ihm beim Zeichnen zuschauen und für einige Tage sein prominenter Schüler zu sein, hat
er doch durchblicken lassen, daß er in Bezug auf die Landschaftsmalerei, die er dilettierend betreibe, einige
Fragen hätte.
Goethe schildert seine Visite am 14.März: Immerfort beschäftigt mit Zeichnen und Malen, bleibt er doch
gesellig und weiß die Menschen an sich zu ziehen, indem er einen jeden zu seinem Schüler macht. Drei Tinten
stehen, wenn er tuscht, immer bereit und indem er von hinten hervorarbeitet und eine nach der andern
braucht, so entsteht ein Bild, man weiß nicht, woher es kommt. Wenn es nur so leicht auszuführen wäre, wie
es aussieht.
Goethe ist fasziniert, so hat er das noch nie gesehen, sondern immer einfach irgendwo angefangen
und dann drauf losskizziert. Einige seiner bisherigen Skizzen hat er mitgebracht und legt sie
Hackert vor und der bringt es gleich auf den Punkt: Sicherheit und Klarheit der Perspektive fehlten.
Seine Schwäche sei die mangelndeBestimmtheit der Zeichnung.
Hackert ist zwar geduldig mit den häufig verschwimmenden Konturen seines Schülers, doch- das
stellt er gleich klar- es gebe nun einmal handwerkliche Grundsätze in der Kunst, auf die er
beharren müsse. Er bescheinigt Goethe zwar ein ausbildungsfähiges Talent, konstatiert aber
in seiner lakonisch aufrichtigen Art: Sie haben Anlage, aber Sie können nichts machen.
Bleiben Sie 18 Monate bei mir, so sollen Sie etwas hervorbringen, was Ihnen und anderen
Freude bereitet.
Goethe ist verunsichert, 1 ½ Jahre nichts als Zeichnen, daran ist nun überhaupt nicht zu
denken, hat er doch noch ein Mammutprogramm vor sich und auch noch einige andere
Interessen. Der zwölf Jahre ältere Hackert wird jewoch sein wichtigster Lehrmeister in
Italien; sie werden sich in Rom wiedersehen und ein Leben lang miteinander eng
befreundet bleiben.
Nach anderthalbjährigem Aufenthalt in Italien wieder zu Hause in Weimar, begegnet ihm im Park bekanntlich eine junge Frau, deren
Profil ihn an die Römerinnen erinnert; Christiane Vulpius. Sie wird zunächst seine Haushälterin, dann seine Geliebte. Klatsch und
Tratsch in Weimar blühen, schließlich ist er weiterhin Intimus des Herzogs und Minister mit diversen neuen Amtspflichten. Wenig später
erwartet Christiane ein Kind, im darauffolgenden Jahr - 1789 - also nach der französischen Revolution im Juli- wird am
1.Weihnachtsfeiertag Sohn August geboren, Goethe ist zum ersten Mal Vater geworden, er ist ziemlich durchnächtigt; eine Hausgeburt,
wie damals üblich.
Man feiert gerade die Taufe, da läßt ein junger Berliner Student namens Wilhelm von Humboldt vom Diener seine Karte
überbringen. Er sei soeben auf der Durchreise und lasse Grüße übermitteln von seinem Vater Alexander, vom Jagdschloß
Tegel. Goethe lässt bitten; momentan sei allerdings grade ein extrem ungünstiger Zeitpunkt für intensive Gespräche; doch daß
der 22-jährige, der bereits 5 Sprachen spricht, ein heller Kopf ist, bemerkt er sehr wohl.
Erst 5 Jahre später, 1794 lernen sich beide näher kennen. Humboldt ist nach Jena gezogen, wo er sich an Schillers Horen-
Projekt beteiligt, für das die beiden auch Goethe gewinnen können. Zu dem Kreis stößt auch bald Wilhelms Bruder
Alexander. Neben allgemein ästhetischen Fragen erörtert Goethe mit den Humboldts, mit Alexander vor allem
naturwissenschaftliche Themen sowie im besonderen seinen eben in Entstehung begriffenen Roman Wilhelm
Meisters Lehrjahre. 1797 verlässt Wilhelm Jena, um bis 1801 in Paris zu leben. In seinen Briefen aus Frankreich
versieht er den Freund mit Material zu einer Physiognomie des französischen Nationalcharakters sowie mit
Nachrichten über die zeitgenössische französische Kunst und Wissenschaft, die Goethe dann auszugsweise in den
Propyläen veröffentlicht. Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Goethe und Humboldt erstreckt sich über 38
Jahre. Er zählt zu den bedeutendsten überlieferten Korrespondenzen der Goethezeit.
Ganz anders, doch ebenso eng ist die Beziehung zu Alexander, der sich ganz der Naturerforschung verschrieben hat
und dessen Wissensdrang ebenso universell wie unermüdlich ist; für Forschung, Aufzeichnungen und Korrespondenz macht er die Nacht zum Tage
und schläft selten länger als vier Stunden. Als Goethe ihm in Jena zum ersten Mal begegnet, ist der 25-jährige bereits Oberbergrat; die
höchstmögliche Position unterhalb des Ministeriums der Bergakademie Berlin. Dennoch bittet Alexander
1795 den preußischen König um die Entlassung aus dem Dienst, um seinen Jugendtraum von
Forschungsreisen in die Welt zu verwirklichen. Alexander von Humboldts Lebensleistung in wenigen Zeilen
zu beschreiben ist natürlich unmöglich; wir werden ja am 14. September dieses Jahres, zu seinem 250.
Geburtstag und in der Folgezeit viel darüber erfahren. Durch seine mehrjährigen Forschungsreisen nach
Lateinamerika, in die USA sowie nach Zentralasien und seinem darauf basierenden Gesamtwerk begründet er
einen neuen Kenntnis- und Reflexionsstand des Wissens von der Welt und wird zum Mitbegründer der
Geographie als empirischer Wissenschaft und er läßt Goethe- auch durch wiederholte Besuche in Weimar-
fortwährend daran teilhaben.
An der fruchtbaren Wechselbeziehung zwischen Goethe und
Berlin in der zweiten Lebenshälfte haben sicher auch einen
großen Anteil seine Berliner Verleger; sie machen zum Teil in
Erstdrucken, Goethes Werk dem Lesepublikum bekannt. Bei
Johann Friedrich Unger erscheint 1789 Das Römische
Carneval, später in die Italienische Reise aufgenommen, dann 7
Bände Goethes Neue Schriften sowie 1796 der Wilhelm
Meister.
Friedrich Vieweg etwa verlegt 1797 den Erstdruck von Hermann und Dorothea, für dessen Erstausgabe Chodowiecki
die Kupfer fertigt. Die bürgerliche Ballade in Hexametern über den schüchternen Hermann, der sich in das
Flüchtlingsmädchen Dorothea verliebt , wird beim Publikum ein Riesenerfolg, sodaß Goethe zufrieden an Aloys Hirt
schreibt: Berlin ist vielleicht der einzige Ort, von dem man sagen kann, daß ein Publikum beisammen sei, und umso
mehr muß es einen Autor interessieren, wenn er daselbst gut aufgenommen wird.
1797 lernt Goethe in Jena im Kreis der Frühromantiker den jungen Berliner Schriftsteller Ludwig Tieck kennen.
Dieser, ausgestattet mit einem losen Berliner Mundwerk, einem scharfen Blick für Kurioses, das er auf die Schippe
nehmen kann, teilt Goethes Vorliebe für Shakespeare. Mit den ebenso phantasiereichen wie frechen und satirischen Erzählungen seines Peter Leberecht und
den respektlosen Märchenkomödien wie Die Verkehrte Welt oder Der gestiefelte Kater erinnert er Goethe an seine frühen Frankfurter Jahre.
Doch Tieck hat zuweilen auch diese ganz andere Seite, die Goethe ja ebenso schätzt, sein ausgeprägtes Faible für Mystisches,
für dramatische und unheimliche Begebenheiten die er ausführlich schildert, etwa in seinen Novelle Der blonde Eckbert und
Der Runenberg , auch jene düsteren Seelenzustände wie sie sich seitenweise in seinem Roman William Lovell finden.
Tieck zieht mit Frau und Kind 1798 nach Jena unter ein Dach mit den Brüdern
August Wilhelm und Friedrich Schlegel und ihren Frauen, der scharfzüngigen
Caroline, die den Beinamen Madame Luzifer trägt, sowie der Berlinerin
Dorothea Schlegel, geborene Veit. Die Brüder Schlegel, die anfangs auch an
Schillers Musenalmanach mitarbeiten, bilden - zusammen mit Ludwig Tieck -
die Keimzelle der Jenaer Frühromantik. Goethes Verhältnis zu den Schlegels,
die der nächsten Generation angehören, die er fördert, und deren Talent er
durchaus anerkennt, wird schwierig sein und bleiben. Mit Ludwig Tieck
verbindet ihn vor allem die ihnen gemeinsame Bewunderung für Shakespeare,
die Liebe zum Theater und zum Inszenieren klassischer Dramen. Ludwig Tieck
wird 1829 als erster den gesamten Faust I in Dresden auf die Bühne bringen.
Die nächsten Beziehungen zu Berliner Künstlern bringt der Weimarer Schloß-Wiederaufbau. Ein Teil der Residenz
Wilhelmsburg war ja 1774 abgebrannt, 20 Jahre lang hatte sich der Hof mit dem recht bescheidenen Domizil
Fürstenhaus beholfen; nun zur Jahrhundertwende denkt man endlich an die Rekonstruktion und beruft hierzu, auf
Empfehlung von Aloys Hirt aus Berlin den jungen Architekten Heinrich Gentz, der bis Herbst 1803 den Ausbau des
Westflügels leitet. Das Treppenhaus, der große Saal, die Galerie des Nordflügels und eine Reihe anderer Gemächer
werden nach seinen Entwürfen ausgeführt. Die Ausschmückung der von Gentz geschaffenen neuen klassizistischen
Räume, übernimmt der Berliner Bildhauer Friedrich Tieck- Ludwigs Tiecks jüngerer Bruder- der zwei Jahrzehnte
später in einer gemeinsamen Sitzung mit dem Berliner Bildhauer Gottfried Schadow eine der beiden bekannten a tempo-Büsten
des 77-jährigen Goethes schaffen wird.
Über viele Jahre erstreckt sich auch die Zusammenarbeit mit den beiden Intendanten des Berliner National-
Theaters August Wilhelm Iffland.und seinem Nachfolger Klaus Graf von Brühl. Goethes interessierte
Teilnahme am Berliner Theaterleben ist naturgemäß groß. Nach seiner Rückkehr aus Italien übernimmt er 1791
auf Wunsch des Herzogs die Intendanz des neu gegründeten Weimarer Hoftheaters und eröffnet es mit dem
Schauspiel Die Jäger von August Wilhelm Iffland. Am liebsten würde er den talentreichen Schauspieler und
Dramatiker an das Weimarer Theater binden, doch der zieht 1796 die attraktivere Stelle als Direktor des
Berliner Nationaltheaters vor.
Von nun an spielt man in Berlin Goethe wieder regelmäßig obwohl dessen Stücke - etwa verglichen mit den seichten
Gesellschaftskomödien eines August v. Kotzebue - nur mäßig erfolgreich sind. Das Theater ist damals ein Ort, an dem man sich
in erster Linie vergnügen will und bei dem alle Sinne angesprochen werden. Verschmähen die Zuschauer einzelne Stücke,
verschwinden diese schnell wieder vom Spielplan. Die nächsten 15 Jahre bleibt nun Iffland in Berlin gleichzeitig Intendant,
Theaterstar und Stückeschreiber in einer Person. Goethe schätzt ihn vor allem als Schauspieler, denn ihm dient Ifflands
realistische, mitunter aber auch recht pathetische Darstellung als Vorbild bei der Formung des Weimarer Schauspielstils. In
dem Aufsatz Weimarer Hoftheater. 1802 schildert Goethe seine durch Ifflands Spiel gewonnene Erkenntnis: Seine
Erscheinung auf unserm Theater löste endlich das Rätsel. Die Weisheit, womit dieser vortreffliche Künstler seine Rollen von
einander sondert, aus einer jeden ein Ganzes zu machen weiß und sich sowohl in's Edle als in's Gemeine, und immer
kunstmäßig und schön, zu maskieren versteht, war zu eminent, als daß sie nicht hätte fruchtbar werden sollen.
Ab 1799 läßt sich Goethe von seinem neu gewonnen Berliner Freund Carl-
Friedrich Zelter, von dem heute ja noch die Rede sein wird, regelmäßig von
den Berliner Theaterereignissen berichten.
Mehrfach lädt Iffland Goethe ein, sich einmal Berliner Inszenierungen
anzuschauen- vergebens, daher kommt er dann selbst mehrfach nach Weimar
1798, 1810 und 1812, um dort in Inszenierungen die Hauptrollen zu
übernehmen. Als Freundschaft kann man ihr Verhältnis eher nicht bezeichnen, sondern wohl eher als gegenseitigen
Respekt und Wertschätzung.
Mit Ifflands Nachfolger Karl Graf von Brühl ist das Verhältnis wesentlich enger, kannte Goethe ihn doch bereits
seit 1785; außerdem hatte Brühl bereits um 1800 drei Jahre am Weimarer Theater mitgearbeitet. Es entsteht eine
regelmäßige Korrespondenz über Theaterfragen und an Zelter schreibt Goethe im Mai 1815:
Es bedarf nur einiger Anregung und ich arbeite wieder für die Bühne und dann ist denn doch Berlin der einzige Ort
in Deutschland, für den man etwas zu unternehmen Mut hat...
Brühl sorgt dafür, daß Goethes wichtigste dramatische Werke bis zu seinem Tod wiederholt in Berlin
aufgeführt werden, nicht aber sein Faust. Der Faust I wird nämlich zwar 1829, zunächst in Braunschweig,
dann - wie erwähnt - in Dresden von Ludwig Tieck inszeniert; tatsächlich aber wird er eigentlich bereits 10
Jahre früher uraufgeführt, und wo: in Berlin am 24. Mai 1819.
Von dort berichtet Zelter dem 70-jährigen Goethe folgendes: Unsere königlichen Prinzen hatten den
heroischen Entschluss gefasst, Deinen Faust aufzuführen. 1816 fand die erste Leseprobe statt und 1819
schließlich die Uraufführung großer Teile des Faust im königlichen Kreise. Die Dekoration entwarf Schinkel,
die Musik wurde vom Fürsten Radziwill dazu komponiert. Die Vorführung dauerte sechs Stunden und fand Theater des Monbijou Schlosses
statt. Zugegeben, nicht der ganze Faust, sondern nur ein Fragment mit einigen gesungenen Liedern und bedauerlicherweise gibt es von
diesem Ereignis keine detaillierte Schilderung und leider auch keine Bilder, aber immerhin, die eigentliche Uraufführung der Gretchen-
Tragödie fand direkt an der Spree statt.
In dieser Woche waren wir ja wieder einmal auf Goethes Spuren in Weimar und haben uns im Goethehaus einige seiner Kunstsammlungen zeigen
lassen. Bei der Führung durch die Wohnräume hieß es angelegentlich, die Göttin, in dem nach ihr benannten Junozimmer - jeder kennt sie - stamme
aus Berlin, sei ein Geschenk an Goethe gewesen vom dortigen Staatsrat Schultz. Dieser, ein großer Verehrer von Goethes naturwissenschaftlichen
Arbeiten ist allerdings kein Wissenschaftler, sondern ein Regierungsbeamter: der Berliner Rechtsgelehrte und Hobby-Naturforscher
Christoph Friedrich Schultz. Er ist ein so begeisterter Anhänger der Goetheschen Farbenlehre, daß er sich intensiv damit
auseinandersetzt und selbst mehrere Publikationen dazu veröffentlicht. Die erste - verfasst noch vor der persönlichen
Bekanntschaft mit Goethe - lautet: Über physiologische Gesichts- und Farbenerscheinungen, erscheint 1806 in Jena und
Zelter macht Goethe darauf aufmerksam. Schultz besucht ihn mehrmals in Weimar und hat immer eine interessante
Zelter macht Goethe darauf aufmerksam. Schultz besucht ihn mehrmals in Weimar und hat immer eine interessante
Kuriosität dabei, was Goethe natürlich sehr zu schätzen weiß.
Am 28. September 1823 ist er für fast zwei Wochen Hausgast am Frauenplan und bringt Goethe zum Geschenk und als
Überraschung einen Abguß des kolossalen Kopfes der Juno Ludovisi mit, eben jener Göttin, von der Goethe bereits, wie er in der
Italienischen Reise beschreibt, in Rom einen riesigen Gipsabguß besaß. Umgehend erhält sie einen prominenten Platz auf einem
hölzernen Fußgestell im ersten Zimmer des ersten Stockes, das bis dahin blauer Salon hieß und nun über Nacht das Junozimmer
wird. Kanzler von Müller ist offenbar zugegen, als Goethes ursprüngliche erste römische Liebe am Frauenplan eintrifft, er
berichtet jedenfalls, daß Schultz von dem Abguss im Berliner Museum ein weiteres Exemplar mit höchster Sorgfalt habe abgießen
lassen und Goethe die Büste verehrt habe.
Ab diesem Zeitpunkt - also Anfang Oktober 1823 - schmückt sie von nun dessen Salon und nimmt die Wand ein, wo bisher die
Madonna von Raffael hing. Das bedeutet: Ohne den Berliner Staatsrat Friedrich Schultz gäbe es im Haus am Frauenplan kein-
Junozimmer, durch das in den letzten 130 Jahren seit der Öffnung des Hauses als Museum Millionen von Menschen gegangen
sind. Und das ist irgendwie eigentlich nur schwer vorstellbar.
Noch ein weiterer Berliner Beamter im höheren preußischen Dienst wird für Goethe in den letzten Lebensjahren wichtig.
1826 macht ihn Karl Friedrich Schinkel bekannt mit Christian Peter Wilhelm Beuth, seines Zeichens Direktor des äußerst
innovativen Berliner Gewerbeinstituts, der heute als Vater der Berliner Industrie bezeichnet wird. Er verwaltet nicht nur,
sondern bringt tatsächlich viel Neues auf den Weg.
Obwohl kein Verleger, geht die erste technische Zeitschrift Berlins auf seine Initiative zurück. Bereits seit 1821 läßt er
aufwendige Mappen mit großformatigen farbigen Kupferstichen herstellen; diese Musterbücher mit ihren umfangreichen
Sammlung von Abbildungen vorwiegend antiker Formen sollen dienen als Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker und
sind dazu bestimmt, als ästhetische Orientierungshilfe für Gewerbeschulen und Produzenten die beginnende
Industrialisierung Preußens zu unterstützen.
Die dargestellten Objekte orientieren sich - wie gesagt - überwiegend an den Formen der Antike und werden als Muster für
neue Gebrauchsgegenstände empfohlen. Alsbald unterhält Goethe mit Beuth einen regen Briefwechsel und empfängt von
ihm ab 1826 regelmäßig kleinformatige Kunstwerke. Dieser legt großen Wert auf Goethes Kunsturteile und Goethe merkt
recht bald, daß er von Beuth erhalten kann, was ihm in Weimar nicht zugänglich ist - Abgüsse von antiken Werken und
modernen kleinplastischen Arbeiten, die sich an der Antike orientieren.
Im Juni 1830 schreibt Goethe an Heinrich Meyer: Herr Geh. Rath Beuth war gestern auf einen Tag bey mir, ich
hätte Sie gern herbeygewünscht; ein höchst merkwürdiger Mann voller Heiterkeit in der ausgebreitetsten
Thätigkeit. Erstaunt sieht man in das fruchtbare preußische Treiben und Streben hinein, unerschöpfliche Mittel
nach allen Zwecken hingerichtet, sehr tüchtige Menschen von denen jeder in der geschäftigen Breite seinen
Wirkungskreis findet. Besonders das Technische, in jedem Sinne, steht auf einer unglaublichen Höhe.
Goethe am Ende seines Lebens als Bewunderer Berliner Tüchtigkeit, das ist doch was.
Nun einmal zurück in das Theater des 19. Jahrhunderts: Eng befreundet ist Goethe
natürlich mit Karl Friedrich Schinkel, dem Architekt des Gebäudes, sowie mit einem
weiteren Baumeister, eigentlich zunächst Maurermeister, der in der zweiten Hälfte seines
Lebens sein engster Duz-Freund wird, mit dem er über drei Jahrzehnte lang eine
ausgiebige Korrespondenz unterhält, dem damaligen Leiter der Berliner Singakademie
Carl-Friedrich Zelter, von dem heute abend ja noch die Rede sein wird - deshalb sage ich
dazu nichts weiter - nur soviel, daß Zelter seinen Schüler, den damals 12jährigen Felix
Mendelssohn-Bartholdy 1821 mit nach Weimar bringt, wo dieser, gepriesen als junges
Berliner Wunderkind, Goethe im Junozimmer vorspielt. In den nächsten Jahren erlebt
Goethe kurz vor seinem Tod noch Mendelssohns Aufstieg zum erfolgreichen
Komponisten.
Verbunden mit Schinkel ist Goethe nun insbesondere durch den entstehenden
Neubau des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt. Als Schinkel 1816 die
Ausschreibung gewonnen hatte, wandte er sich sogleich an Goethe, war dieser doch
damals seit 25 Jahren Intendant des Weimarer Theaters, hatte das Lauchstädter
Theater mitkonzipiert und kannte die Erfordernisse eines solchen Gebäudes bestens.
Da Goethe ein lebenslanges Interesse an Bauaufgaben hat, läßt er sich von Schinkel
detailliert über dessen Vorhaben in Berlin unterrichten. 1817 berät er sich mit ihm
über das Relief an der Neuen Wache, 1820 wird er bei einem gemeinsamen Besuch von Schinkel und den beiden
Berliner Bildhauern Christian Daniel Rauch und Friedrich Tieck über viele Details des Theaterneubau ins Bild gesetzt. Goethe vermag es offenbar, durch sein schöpferisches
Vorstellungsvermögen gerade bildende Künstler anzuregen und zu ermuntern, ihre eigenen Ideengestalt reicher darzulegen und manche seiner
Empfehlungen in ihre eigene Vorstellungswelt einzubeziehen.
Schinkel empfindet dies ganz stark, wie aus seinem Brief an Rauch vom November 1816 hervorgeht:
In Goethes Nähe wird dem Menschen eine Binde von den Augen genommen, man versteht sich vollkommen mit ihm
über die schwierigsten Dinge, welche man allein sich nicht getraut anzugreifen und man hat selbst eine Fülle von
Gedanken darüber, die sein Wesen unwillkürlich aus der Tiefe heraus lockt.
Mit Schinkel korrespondiert er nun ausführlich die fortschreitende Ausführungsplanung für das neue Schauspielhaus;
über die Innenausstattung und auch über räumliche Mängel wie z.B. die Logen hinter dem Balkon seien zu eng, zu
niedrig, oder die Orchesterleute klagten über unbequeme Eingänge und Treppen usw.
Am 10. Februar 1821 findet in Anwesenheit des Hofes die Einweihung der Konzert- und Festsäle im Schauspielhaus statt. Das
eigentliche Theater wird am 26. Mai mit einem Eröffnungsprolog, den Goethe eigens zu diesem Anlaß dichtet, festlich seiner
Bestimmung übergeben. Vorgetragen wird der Prolog von einer Muse vor einem Prospekt, der den Gendarmenmarkt mit dem
Schauspielhaus zwischen den Türmen des Deutschen und des Französischen Domes zeigt.
Goethes Dank an Schinkel für die sich in seiner Architektur aussprechende humanisierende Baugesinnung, die der eigenen
entspricht, findet sich in den Schlußversen des Prologs zur Eröffnung des Schauspielhauses in der mahnenden Anrede an das
versammelte Publikum:
So schmücket sittlich nun den geweihten Saal/ Und fühlt euch groß im herrlichsten Lokal/
Denn euretwegen hat der Architekt/ Mit hohem Geist so edlen Raum bezweckt /
Das Ebenmaß bedächtig abgezollt/ Daß ihr euch selbst geregelt fühlen sollt!/
Auf den Prolog folgte Goethes Schauspiel Iphigenie auf Tauris.