1919- 1933
Vor 10 Jahren hat mein Vorgänger im Vorsitz der
Goethe-Gesellschaft Berlin e.V, Hans-Wolfgang
Kendzia, einiges Wissenswerte über die bewegten
Gründungsjahre der ersten Berliner Goethe-Gesell-
schaft zu Papier gebracht. Da die Broschüre mitt-
lerweile vergriffen ist, will ich daraus einige
wichtige Passagen zitieren, ergänzt um einige kurze
Informationen, die die Situation der Weimarer Goe-
the-Gesellschaft und ihrer Ortsvereinigungen wäh-
rend der NS-Zeit betreffen.
Von Interesse sind die Vorgänge in den ersten Jah-
ren nach der Gründung der GG-Berlin insofern, als
die Berliner zuzeiten der Weimarer Republik den
Herren im Vorstand der Muttergesellschaft als aus-
gesprochen aufmüpfig galten. Weibliche Vorstands-
mitglieder waren damals noch unüblich; die einzige
Ausnahme in der Vorkriegszeit stellte die Berliner
Schriftstellerin Dr. Ricarda Huch dar.
Tatsächlich gründet sich am 25.Mai 1919, also
inmitten der unruhigen Monate nach Beendigung
des Ersten Weltkriegs eine »Ortsgruppe Berlin« der
seit 1885 bestehenden Goethe-Gesellschaft in Wei-
mar. Vorbild ist München, wo Goethefreunde mit-
ten im Krieg 1917 eine Ortsvereinigung ins Leben
gerufen haben; Berlin ist damit die zweite Stadt, in
der die Bestrebungen der Weimarer Muttergesell-
schaft wirksam werden, die Ergebnisse der For-
schung einem breiteren Publikum zugänglich zu
machen.
Im Vorstand geht man allerdings davon aus, daß die
lokalen Ortsgruppen sich fügsam an die Weimarer
Direktiven halten sollen. So macht
man dort gleich zur Bedingung,
daß jedes Mitglied einer Orts-
gruppe auch Mitglied in Weimar
sein müsse. Nicht zuletzt geht es
– neben der akademischen Deu-
tungshoheit in Sachen Goethe –
auch ums Geld. Erster Vorsitzen-
der der Berliner Ortsgruppe wird der
Berliner Buchhändler Floduard
Freiherr von Biedermann, Herausgeber des bis
heute erscheinenden Sammelbands Goethes Ge-
spräche.
Nach dreijähriger Erfahrung mit neu gegründeten
Ortsgruppen, deren Vorsitzende tatsächlich alsbald
eigene Ansichten vertreten (und nun auch noch mit
von Biedermann einen eigenen Vertreter in den
Weimarer Vorstand entsenden wollen), sieht die
Muttergesellschaft die Entstehung von neuen Ver-
einigungen alsbald nicht mehr sehr gern. Im Wei-
marer Vorstand ist man eher national-konservativ
eingestellt und verehrt erklärtermaßen – so der Prä-
sident Prof. Gustav Roethe in einer Rede 1925 –
Goethe als einen
Führer aus der na-
tionalen Misere; in
jedem Fall befürch-
tet man dort demo-
kratische Einflüsse
von außen.
Vergeblich sucht
man heute etwas
über die inhaltliche
Tätigkeit der Orts-
gruppen in den Goethe-Jahrbüchern aus der Vor-
kriegszeit zu finden. Wir wissen nicht einmal, wie
viele es mittlerweile sind, wahrscheinlich Mitte
der 1920-er Jahre ein knappes Dutzend. Im Jahr-
buch 1925 (11. Band) heißt es auf S. 66 lakonisch:
Tätigkeitsberichte von Ortsgruppen sind eingegangen aus
Berlin, Duisburg, Essen, Hamburg und Mühlheim-Ruhr.
Sie künden zumeist von reger organisatorischer Arbeit.
Freilich wird auch wohl an einer Stelle über die Ungunst
der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, an der
anderen über Teilnahmslosigkeit der Mitglieder geklagt.
Doch war man fast überall mit Veranstaltung von Vorträgen
und künstlerischen Darbietungen im Sinne der Bestrebun-
gen und Ziele unserer Gesellschaft tätig.
gez. Dr. Donndorf. (Geschäftsführ. Ausschuß)
Auch in den folgenden Jahrbüchern finden sich
ähnlich lautende Floskeln, die von reger Tätigkeit
der Ortsgruppen berichten, diese ansonsten jedoch
weitgehend ignorieren. Dabei sind diese sehr rüh-
rig, wie aus der Übersicht der Berliner Veranstal-
tungen 1927/28 hervorgeht, die sich im Goethe-
Schiller-Archiv erhalten hat.
Hans-Wolfgang Kendzia:
In Berlin ist man für die Mitglieder aktiv, es werden
viele Vorträge organisiert. Sie sind anspruchsvoll
und haben gewichtige Redner. Ich nenne nur we-
nige. Die Schauspielerin Elisabeth Bergner refe-
riert über Goethes Lyrik, ihre Kollegin Tilla
Durieux über Proserpina mit Musik von Eberwein,
eine weitere Kollegin, Gertrud Eysoldt, über Goe-
thes Jugendlyrik, Präsident Professor Julius Peter-
sen über Charlotte von Stein und über Goethes
„Faust“ auf der Bühne, Reichsaußenminister
Gustav Stresemann über „Goethe und Napoleon“.
8
F. v. Biedermann
Die Ortsgruppe Berlin spielt eine Rolle im kultu-
rellen Leben der Stadt. Sie hat 1927 363 Mitglieder.
Der Beitrag ist inzwischen mit jährlich 6 Reichs-
mark festgesetzt. Darin enthalten ist auch die Jah-
resgabe, der jeweils erschienene Band der
Sammlung Kippenberg, eine wunderbare Edition
mit Dokumenten der Goethezeit von hervorragen-
den Autoren.
Wie aus damaligen Korrespondenzen zwischen
Weimar und Berlin hervorgeht, sind die Beziehun-
gen zwischen der Muttergesellschaft und Floduard
von Biedermann, dem Vorsitzenden der Berliner
Ortsgruppe, welche in Weimar als »renitent« be-
zeichnet wird, äußerst gereizt.
In einem Brief des Vorsitzenden des geschäftsfüh-
renden Ausschusses an den damaligen Präsidenten
der Muttergesellschaft Roethe aus dem Jahr 1926
heißt es: Was Herr v. Biedermann mit den Ortsgrup-
penvertretern besonders zu verhandeln hat, möchte
ich gern wissen! (...) Sehr mißfällt mir außerdem
die Idee v. B’s, die Angelegenheit der von ihm an-
geregten »Statutenänderung« erst einmal im Kreise
der Ortsgruppenvertreter zu besprechen! – Mit
deren Zusanmenschluß zu einer Art
von Verband, den v. B. anstrebt,
sind wir überhaupt auf eine be-
denkliche Bahn gekommen.
Inzwischen gibt es mit Weimar
weitere Konflikte, denn von
Biedermann und andere Orts-
vorsitzende wollen ihre Vereini-
gungen auch für Personen öffnen,
die nicht Mitglieder der Mutter-
gesellschaft sind. Die Ortsgruppen in Dresden,
Leipzig und München beginnen damit, Berlin war-
tet noch, macht sich aber zum Sprecher dieser Be-
wegung. Unter von Biedermanns Leitung werden
die Gruppen immer selbstständiger und bemühen
sich, unabhängig von der Muttergesellschaft aufzu-
treten. In Weimar empört das in hohem Maße: Das
steht doch in direktem Widerspruch zu unserer Sat-
zung, wonach die Mitglieder Mitgliedschaft bei
Ortsgruppen nur Mitglieder unserer Gesellschaft
erwerben können... Diese Zustände können unmög-
lich weiter geduldet werden, denn mit Hilfe der Ver-
wirrung, in die sie ihre Mitglieder durch derartige
Bestimmungen erst stürzen, nehmen die Ortsgrup-
pen einfach unsere Mitglieder weg und segeln dabei
lustig unter unserer Flagge.
Dr. Donndorf / Geschätsführ. Ausschuss
Tatsächlich beginnen Mitglieder der Ortsgruppen,
die Muttergesellschaft zu verlassen, weil sie keine
doppelten Beiträge zahlen wollen. Berlin spielt also
eine wesentliche Rolle in der Geschichte der
Muttergesellschaft und bringt tatsächlich frischen
Wind in den konservativ zusammengesetzten und
eher der Tradition verpflichteten Vorstand. Zu ver-
danken ist dies dem rührigen Berliner Vorsitzenden,
Freiherr von Biedermann, der inzwischen mit dem
Titel eines Ehrendoktors ausgezeichnet ist. Er stirbt
am 19. Oktober 1934. [H.-W. Kendzia]
NS-Zeit
Die folgenden Jahre der nationalsozialistischen
Herrschaft werden nicht nur für die Ortsvereinigun-
gen ganz andere Probleme mit sich bringen, als die
bisherigen eher harmlos anmutenden Machtspiel-
chen. Dasselbe gilt insbesondere für die Weimarer
Muttergesellschaft, die sich schwer damit tut, dem
Druck zu widerstehen, den die 1933 gegründete
Reichskulturkammer auf die literarischen Vereini-
gungen im Deutschen Reich ausübt.
Bereits im März 1932, un-
mittelbar vor den Feier-
lichkeiten zum Goethejahr,
erscheint im Völkischen
Beobachter eine Artikelse-
rie, aus der hervorgeht, daß
die NSDAP-Führung quasi
die Inbesitznahme von
Goethes Werken und
Leben anmeldet und dies
mit dessen angeblichen
Deutschtum begründet.
Der Autor Rainer Schlös-
ser betont darin: Die Bewegung habe nicht die Ab-
sicht, Goethe zum Nationalsozialisten umbiegen zu
wollen. Doch nach Meinung des Autors steht fest,
daß Goethe seinem Wesen nach ausgesprochener
Deutscher war, sich zum Deutschtum bekannte.
In der erwähnten Broschüre von 2007 führt Hans-
Wolfgang Kendzia die wenigen Dokumente auf, die
er im Goethe-Schiller-Archiv in den Akten der Wei-
marer Geschäftsstelle über die Berliner Ortsverei-
nigung hat finden können.
So zitiert er ein Schreiben des damaligen Präsiden-
ten der Muttergesellschaft Julius Petersen (1928-
1936) an den Leiter des geschäftsführenden
Ausschußes Martin Donndorf vom 3. 11. 1933 in
dem es heißt:
9
G. Roethe
In der Ortsgruppe (Berlin) ist die Sache ganz glatt
abgegangen. Die Satzungsänderung (...) wurde de-
battelos genehmigt, worauf Herr v. Biedermann als
neugewählter Führer seine Gefolgschaft bestellte,
womit sich die Ausschaltung der Juden aus der Vor-
standsschaft reibungslos erledigte.
Der Vorschlag, daß die OV-Vorsitzenden künftig qua
Satzungsänderung mal eben das bis dahin übliche
Verfahren ad acta legen sollten, den Vorstand von den
Mitgliedern wählen zu lassen, um sich selbst, gemäß
dem Führerprinzip, einen Vorstand nach eigenem
Gusto zu wählen, stammte wohl kaum von dem de-
mokratisch gesinnten v. Biedermann, sondern von
Petersen selbst, der sich davon offenbar eine bessere
Kontrolle über die Ortsvereinigungen versprach.
Der amerikanische Literaturhistoriker W. Daniel
Wilson, der momentan über die Geschichte der Goe-
the-Gesellschaft arbeitet, meint hierzu: Die Mutter-
gesellschaft nahm bereits nach 1933 aus eigenem
Antrieb keine Juden mehr auf. Nach der NS- Macht-
ergreifung kam es zu einer Austrittswelle jüdischer
Mitglieder, die durch die rassistischen Berufsver-
bote in ihrer beruflichen Existenz vernichtet worden
waren und die nun eher austreten wollten als auf den
Ausschluß zu warten.
Im Oktober 1934 stirbt Floduard von Biedermann;
zu seinem Nachfolger wählt man im Februar 1935
den international renommierten Pädagogen Eduard
Spranger, der an der Berliner Friedrich-Wilhelms-
Universität seit den 1920-er Jahren einen Lehrstuhl
inne hat und zu den modernen Klassikern seines
Fachs gezählt wird. Da Spranger den Vorsitz der Ber-
liner Goethe-Gesellschaft in unruhigen Zeiten über-
nimmt, in denen manch einer seine Weltanschauung
über Nacht ändert, wollen wir ihn uns
ein wenig näher ansehen.
Spranger ist nun beileibe kein Linker.
Aufgewachsen in der nationalkonser-
vativen Tradition der preußischen Tu-
genden, begegnet er der Weimarer
Republik mit ausgeprägter Skepsis, po-
litisch steht er – so lange diese noch
existierte – der Deutschnationalen
Volkspartei nahe, deren Grundhaltung
ausgeprägt nationalistisch war. Inner-
halb der DNVP gab es allerdings auch Strömungen,
deren wertkonservativer Volksbegriff sich aus Impul-
sen der Romantik und des Idealismus speiste. Spran-
ger – der Zeit seines Lebens keiner Partei angehörte
– sympathisierte mit diesem Flügel, deren Vertreter
durchaus liberalistische Tendenzen befürworteten.
Ihnen waren die Freiheit des Individuums und dessen
Schutz vor staatlichen Eingriffen wichtiger, als die
Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen gegen
die Interessen Einzelner.
Ihr Menschenbild war durch die Auffassung geprägt,
daß der Einzelne, der sich durch selbst erworbene
Bildung und Besitz qualifiziert, besser weiß, was für
ihn und damit für die Gesellschaft als Summe aller
Individuen wichtig ist, als die Masse. Auf der ande-
ren Seite forderte sie die geistigen und wirtschaftli-
chen Eliten auf, ihr Handeln an moralischen
Maßstäben messen zu lassen und sich aus Verantwor-
tung für die Gesellschaft in deren Dienst zu stellen.
Spranger gehört seit der Kaiserzeit dem Vorstand der
Muttergesellschaft in Weimar an und zählt zu jenen
Akademikern, die der Ansicht sind, der Nazi-Spuk
werde in Kürze verschwinden; erklär-
termaßen hält er die Vertreter der natio-
nalsozialistischen Bewegung, die er
persönlich kenne, für ziemlich unterbe-
lichtet. Ende 1932 heißt es in einem
Brief an seine Freundin Käthe Hadlich:
Es wird Zeit, daß Du den
Nationalsozialisten valet gibst. Sie sind
eine staatsgefährliche Gesellschaft ge-
worden. Schade um das ursprünglich
reine Wollen. Aber ganz ohne Intelli-
genz geht es nun einmal nicht.
10
E. Spranger
Knapp drei Monate nach der NS-Machtergreifung
entwirft und unterschreibt Spranger als Vorstands-
mitglied des Verbandes der deutschen Hochschulen
am 22. April 1933 die sogenannte Würzburger
Erklärung. Diese soll die quasi offizielle Haltung
der Hochschulen zum Nationalsozialismus formu-
lieren. Zwar äußern sich die Verfasser dieser Erklä-
rung in ambivalenter Weise generell positiv zur
nationalsozialistischen Revolution des Staates, an-
dererseits wird darin jedoch eine Politisierung der
Universität abgelehnt, die eine Verengung auf Son-
deranschauungen bedeute, und es wird ausdrück-
lich die Selbstverwaltung durch Rektor, Senat und
Fakultäten sowie die Selbstergänzung des Lehrkör-
pers verteidigt.
Die Schlußsätze lauten: Aus den inneren Kräften
unserer Volksverbundenheit heraus werden wir [die
unterzeichnenden Hochschullehrer] den Kampf auf-
nehmen gegen die Schädigung des Volkes durch
Lügen, Gewissensdruck und un-
geistige Art.
Der letzte Satz dieser Erklärung wird
vom Regime als Angriff verstanden.
Man schickt Spranger Provozierer in
seine Vorlesungen, die dort Flugblät-
ter verteilen mit 12 Thesen wider den
undeutschen Geist.
Als kurz darauf für den NS-Pädago-
gen Alfred Baeumler ein neuer Lehr-
stuhl und ein Institut für politische
Pädagogik neben dem Lehrstuhl
Sprangers eingerichtet werden soll,
ist für ihn die Grenze erreicht. Er
reicht spontan am 25. April 1933 ein Rücktrittsge-
such ein, das damals in vielen in- und ausländischen
Zeitungen kommentiert wird, denn Spranger ge-
nießt durch seine zahlreichen Publikationen einen
internationalen Ruf.
Schließlich zieht er sein Rücktrittsgesuch zurück.
Tatsächlich schließt man eine Art gegenseitiges
Stillhalteabkommen: Er werde sich künftig inhaltlich
aus der Politik heraushalten und bei seinen drei P's
bleiben: Pädagogik, Philologie und Philosophie. Ein
Ritt über den Bodensee, den er aber halbwegs bewäl-
tigt, ohne sich jemals mit den NS-Paladinen gemein
zu machen; bis 1945 wird Spranger an der Berliner
Friedrich-Wilhelms-Universität lehren.
Was er über die Tagesgeschehnisse dachte, kommu-
nizierte er Studenten seines Vertrauens mit Chiffren,
hinter denen sich Seitenzahlen und Zitate in Aufsät-
zen von Platon bis Schopenhauer verbargen. Das
hatte er sich bei Goethe abge-
schaut, der damit Marianne von
Willemer geheime Botschaften zu-
kommen ließ, die sie beim alt-
persischen Dichter Hafis
nachschlagen konnte.
Soviel nun zu dem heute nur noch
in pädagogischen Fachkreisen be-
kannten Spranger. Doch warum
fragen die Berliner damals aus-
gerechnet einen Pädagogen, ob er
den Vorsitz übernehmen will? Eine
Kandidatur hat der zeitlich stark
eingespannte Wissenschaftler
nämlich gar nicht angestrebt.
Anzunehmen ist, daß die Goethe-Gesellschaft Berlin
sich von Spranger, der Mitglied im Weimarer Vor-
stand ist, einen gewissen Schutz gegen die nun
immer eindeutiger werdenden Beitrittsaufforderun-
gen der Reichsschrifttumskammer erhofft.
Zum Verständnis: Die RSK, eine Unterabteilung
des von Goebbels geleiteten Propagandaministeri-
ums, ist zuständig für alle mit Büchern zusammen-
hängenden Kulturberufe: Schriftsteller, Verleger,
Buchhändler und Bibliothekare und seit 1935 eben
auch für literarische Vereinigungen wie etwa den
Berliner Bibliophilen-
abend oder die Goethe-
Gesellschaft.
Die RSK ist eine Zwangs-
organisation, das heißt,
daß dort jeder Mitglied
werden mußte, wer auf
dem Gebiet des Schrift-
tums beruflich tätig sein
wollte. Dies gibt den
Machthabern die Mög-
lichkeit, durch Ausschluß aus der Kammer Berufs-
verbote gegen mißliebige – etwa jüdische –
Personen zu verhängen. Den ihr angeschlossenen
Institutionen schreibt sie vor, daß Mitglieder nicht-
arischer Abstammung auszuschließen seien.
Spranger scheinen durch seine Vorstandsmitglied-
schaft in der Muttergesellschaft allerdings die
Hände gebunden zu sein. Wie den spärlich vorlie-
genden Dokumenten zu entnehmen ist, befürwortet
der Weimarer GG-Präsident Julius Petersen erklär-
termaßen »die Zusammenarbeit der GG-Ortsverei-
11
nigungen mit dem Vortragsamt der Reichs-
schriftumsstelle im Reichsministerium für Volks-
aufklärung und Propaganda«, da er sich hiervon die
Schaffung eines effizienten Netzwerks literarischer
Gesellschaften erhofft, bei denen dann auch zeitge-
nössische Schriftsteller ihre Werke vorstellen kön-
nen.
Kein Wunder, im Jahr zuvor, 1934 hat Petersen ein
Buch veröffentlicht mit dem Titel Sehnsucht nach
dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung.
Darin ist die Rede von germanischen Mythen und
Idealen, Heilserwartungen, von Völkerfrühling und
Menschheitspfingsten.
U.a. heißt es darin: Der
Glaube an die gottge-
wollte Sendung eines
Heilsbringers und Füh-
rers zum Guten wird re-
ligiöse Gewißheit.
Julius Petersen war be-
reits in den 1920-er
Jahren einer der ein-
flußreichsten Germa-
nisten, und er ist nun
maßgeblich an der
Gleichschaltung seiner Disziplin mit der Ideologie
des Nationalsozialismus beteiligt.
Ist Spranger das in einem sonderbar schwärmeri-
schen Duktus formulierte Werk seines Berliner Uni-
versitätskollegen Petersen, dem Direktor des
Germanischen Seminars und Herausgeber der
Werke und Schriften Goethes, Schillers und Höl-
derlins, bekannt? Davon ist auszugehen.
Ein ganzes Jahr geht nun ins Land, ohne irgendein
Lebenszeichen aus der Berliner Goethe-Gesell-
schaft. Am 6. Oktober 1936 richtet der Sekretär der
Weimarer Geschäftsstelle ein Schreiben an den Vor-
sitzenden der Ortsgruppe Berlin, Univ. Prof. Edu-
ard Spranger und fragt an, was denn betreffend den
Anschluß an die Arbeitsgemeinschaft der
Literarischen Gesellschaften und Vortragsveran-
stalter seitens der Reichsschriftumskammer gesche-
hen sei?
An Sprangers Stelle antwortet der damalige Berli-
ner Schriftführer Wieland Schmidt – der uns im
Übrigen ein halbes Jahrhundert später noch einmal
kurz begegnen wird – und teilt mit, er habe sich mit
einem Dr. Henning von der Reichskulturkammer
getroffen; dieser habe versichert, man wolle das
Eigenleben der Berliner literarischen Gesellschaf-
ten keineswegs antasten und eine Mitgliedschaft in
der Reichsschriftumskammer bedinge eben nur eine
Übereinstimmung in den grundsätzlichen Fragen,
die durch die heutige Weltanschauung bestimmt
sind. Nebenbei erwähnt Schmidt, daß Prof. Spran-
ger als unserer Vorsitzender aus unserer Orts-
gruppe ausgeschieden ist. — Wie bitte?
In Weimar dankt der bereits erwähnte Dr. Donndorf
ergebenst für das in mehrfacher Hinsicht interes-
sante Schreiben und fordert Schmidt auf: Sie haben
wohl die Güte, uns den Namen des neuen Vorsitzen-
den der Berliner Ortsgruppe mitzuteilen.
Was ist Eduard Spranger zugestoßen und warum
verlieren die wenigen vorliegenden Dokumente aus
dem Goethe-Schiller-Archiv kein Wort über die Tat-
sache, daß der Berliner Goethe-Gesellschaft im
Herbst 1936 der Vorsitzende abhanden gekommen
ist. Und wo steckt er?
Auch das Jahr 1937 ist gar nicht vorhanden, Kend-
zia führt dann noch ein Rundscheiben an vom 21.
April 1938, in dem es lakonisch u.a. heißt: teilen
wir Ihnen mit, daß die Ortsgruppe Berlin der Goe-
the-Gesellschaft der Reichsschriftumskammer an-
gegliedert ist. Daraus ergibt sich, daß wir nur
Mitglieder in unserer Liste führen können, die in
der Lage sind, ihren Arier Nachweis zu erbringen.
Soweit dies nicht der Fall ist, bitten wir Sie höf-
lichst, auf ihre weitere Mitgliedschaft zu verzichten.
Der Vorstand.
Wer bildet nun diesen Vorstand? Zufällig hat sich
eine Einladungskarte zur Feier von Goethes
189.Geburtstag am 28. August 1938 im Schloß
Charlottenhof erhalten. Unter der gedruckten Pa-
raffe Der Vorstand stehen nun zwei Namen: Marie
von Bunsen (Reiseschriftstellerin und Salonniere
12
der Jahrhundertwende, nunmehr 78 Jahre alt) und
Wolfgang Goetz, ebenfalls Schriftsteller sowie Vor-
sitzender der Gesellschaft für Theatergeschichte.
Er veröffentlicht zu dieser Zeit verschiedene dem
Zeitgeist angepaßte, historisierende Theaterstücke,
wie beispielsweise 1939 das Schauspiel Kampf ums
Reich. Es wird immer rätselhafter...
Die Tatsache, daß sich im Goethe-Schiller-Archiv
so gut wie keine konkreten Fakten über die Tätig-
keit der Berliner Goethe-Gesellschaft vor dem
Krieg befindet, läßt mir keine Ruhe.
Eine Internet-Recherche ergibt bei der Verknüpfung
»Berliner Goethe-Gesellschaft« mit diversen Stich-
worten der Vorkriegszeit null Treffer. Googelt man
direkt Eduard Spranger, so stößt man u.a. auf den
gesamten Nachlaß im Bundesarchiv in Koblenz –
52 laufende Meter Aktenordner, bis heute teilweise
noch gar nicht erschlossen.
Da der Vorsitzende der Berliner Goethe-Gesell-
schaft (1935-36 und 1938-45) in Dahlem wohnte
und sein Archiv nachweislich unbeschädigt den
Zweiten Weltkrieg überstand, ist davon auszugehen,
daß sich die gesamten Vorkriegsunterlagen der Ber-
liner Geschäftsstelle dort befinden; sie müßten nur
halt einmal – etwa als Teil eines Forschungsprojek-
tes der Goethe-Gesellschaft Weimar e.V. – erschlos-
sen werden.
Hinsichtlich der Zugehörigkeit der Berliner Goethe-
Gesellschaft zu NS-Organisationen und diesbezüg-
licher Korrespondenzen, so teilt mir der zuständige
Sachbearbeiter mit, könnten sich diese aber in der
Berliner Filiale des Bundesarchivs befinden, auf
Mikrofilm als Teil des Berlin-Document-Centers.
Das BDC wurde unmittelbar nach Kriegsende von
der US-Armee in Berlin als Sammellager von be-
schlagnahmten Dokumenten aus der NS-Zeit ange-
legt und 1994 – nach dem Aufheben des
Viermächte-Status – an die Bundesregierung über-
geben.
Ich bestelle die Filmrollen mit den Korresponden-
zen zwischen Eduard Spranger als Vorsitzendem
der Berliner Goethe-Gesellschaft und den diversen
Sachbearbeitern des NS-Propaganda-Ministeriums.
Als ich die rd. 5 Dutzend dort archivierter Schrei-
ben vor und zurückspule und die wichtigsten zum
Ausdrucken heraussuche, erschließen sich mir we-
nigstens einige der Lücken, die nun im Folgenden
aus Platzgründen nur kurz wiedergegeben werden.
Zunächst einmal klärt sich, warum Spranger im
Spätsommer urplötzlich von der Bildfläche ver-
schwunden ist. Er hat Anfang des Jahres 1936 beim
Preußischen Ministerium einen Antrag gestellt, ihn
für ein Jahr von sämtlichen Lehrverpflichtungen zu
entbinden, da er für 12 Monate die Leitung des
Japanisch-Deutschen Kulturinstituts in Tokio über-
nehmen möchte, die ihm von den Japanern angetra-
gen worden war. Nachdem er umfangreiche
Fragebögen – Ariernachweis und diverse andere
Verpflichtungserklärungen – ausgefüllt hat, läßt
man ihn ein halbes Jahr warten; Ende September
erhält er plötzlich grünes Licht zur Abreise nach
Tokio und ist dann bis auf weiteres mal weg.
Wie die Berliner Goethe-Gesellschaft sich durch die
nächsten beiden Jahre inhaltlich und organisatorisch
durchhangelt, wissen wir nicht, aber offensichtlich
geht es ja eine Weile auch ohne Vorsitzenden.
13
Im Sommer 1938 taucht nun Sprangers Name
plötzlich wieder auf, und er muß zur Kenntnis
nehmen, daß sich die Dinge in Deutschland keines-
wegs zum Besseren entwickelt haben. In den näch-
sten vier Jahren führt er einen, wie sich zeigen wird,
aussichtslosen Kampf um die inhaltliche Unabhän-
gigkeit hinsichtlich der Vortragsthemen und der
Auswahl der Referenten.
Bis zum Dezember1940 gelingt es ihm, mit aller-
hand Argumenten einen Beitritt der Berliner GG
zum Reichswerk Volk und Buch zu verhindern, so
nennt sich das Ganze nun.
Am 21. 12. 1940 erhält er ein Schreiben, in dem
ihm u.a. mitgeteilt wird: Da der Herr Reichsminis-
ter Dr. Goebbels persönliches Interesse an der Tä-
tigkeit der Goethe-Gesellschaften nimmt, bitte ich
Sie, folgendes zu beachten: Diejenigen Goethe-Ge-
sellschaften, die sich mit der Durchführung von
Dichterlesungen und sonstigen literarischen Veran-
staltungen befassen, sind zweckmäßigerweise dem
Reichswerk Volk und Buch anzuschließen.
Insoweit wird der aus meiner Anordnung 122 (zur
Ktns beigefügt) sich ergreifenden Erfassungspflicht
Rechnung getragen.
Eine enge Zusammenarbeit zwischen den Ortsver-
einigungen der Goethe-Gesellschaft und dem Vor-
tragsamt des Werbe- und Beratungsamtes für das
deutsche Schrifttum ist sehr erwünscht. (...) Herr
Prof. Kippenberg hat in dieser Beziehung jede Zu-
sage gemacht, durch die der gesamte Dichtereinsatz
der Gesellschaft in engster Zusammenarbeit mit
dem Vortragsamt sich vollziehen wird. In Verfolg
der somit festgesetzten Unterlagen werden Sie ge-
beten, sobald als möglich ein Veranstaltungsver-
zeichnis der letzten drei
Jahre einzureichen.
Die Einreichung einer
Liste der jeweils fünf Ver-
anstaltungen der Jahre
1937-1940 ist das letzte,
was Spranger noch als
Vorsitzender tun kann.
Als nächstes wird ihm
nämlich mitgeteilt, daß die
GG-Berlin nunmehr in das Reichswerk Buch und
Volk eingegliedert worden sei. Man habe die
Satzung der Tatsache anzupassen, daß die Vereins-
tätigkeit der Goethe-Gesellschaft Berlin mit der
Reichskulturkammergesetzgebung numehr eine öf-
fentliche Sache geworden sei. Mit dem gewählten
Präsidentenstatus ist es vorbei, am 12. Oktober
1940 heißt es: Der Präsident der Reichsschrifttums-
kammer hat Prof. Dr. Spranger zum Leiter der Orts-
vereinigung Berlin der Goethe-Gesellschaft in
Weimar ernannt. Gleichzeitg wird diese in die Vor-
tragsveranstaltergruppe Reichwerk Volk und Buch
eingliedert. (...) Die Ernennung zum Vereinsleiter
wird im Zuge der Einführung der Regelsatzung ge-
schehen. Sie werden gebeten, dafür Sorge zu tragen,
daß die ordnungsgemäße Umstellung des Vereins
erfolgt.
Das ist ihm nun doch zu dumm, und geht ihm so
gegen den Strich, daß er noch mal den Aufstand
probt. Mit Schreiben vom 29. September 1941 wen-
det er sich direkt an den Präsidenten der RSK per-
sönlich und teilt mit, diese und ihr Reichswerk seien
gar nicht zuständig für die Goethe-Gesellschaften.
Die Muttergesellschaft gehöre diesem schließlich
auch nicht an. Er argumentiert: Die Berliner Orts-
vereinigung veranstaltet so gut wie nie Dichterle-
sungen. Sie pflegt vielmehr das Andenken Goethes
und anderer Dichter – ebenso wie die GG-Weimar
– durch wissenschaftliche Vorträge überwiegend
von Universitätsprofessoren. Sie fällt also nicht
unter die Bestimmungen, die das Reichswerk Buch
und Volk betreffen.
Dort reagiert man abweisend und erwidert am 7. 2.
1942: Wir haben zur Kenntnnis genommen, daß die
von Ihnen geführte Ortsverereinigung keine
literarischen Veranstaltungen vornehmen wird,
sondern die Tätigkeit vorerst auf rein wissenschaft-
liche Ziele im Sinne der Hauptvereinigung abzustel-
len beabsichtigt. Im Einvernehmen mit dem
Reichsministerium für Volksaufklärung und Propa-
ganda habe ich Sie daher aus der Mitgliedschaft
entlassen.
Dies ist allerdings nur ein Etappensieg: Man gestat-
tet ihm lediglich zwei literarische Veranstaltungen
pro Jahr durchführen zu dürfen ohne Nachweis der
Befreiungsbestätigung. Die sich anschließende de-
primierende Korrespondenz mit der Verwaltung
erstreckt sich noch über die nächsten Monate.
Im April 1942 teilt der bekannte Dr. Henning vom
Referat Vortragsamt dem Parteigenossen Loth vom
Referat Werbe- und Beratungsamt für das deutsche
Schrifttum mit: Es wurde darauf hingewiesen, daß
die GG-Berlin sich künftighin auf wissenschaftliche
Themen der Goetheforschung beschränken will. In-
zwischen ging mir eine Einladung zu einem litera-
rischen Sprechkunstabend zu.
14
Wenn auch gegen die eingesetzte Künstlerin nichts
einzuwenden ist, so gebe ich erneut zu bedenken,
daß durch die jetzige Regelung der OV Berlin
immer wieder die Gelegenheit gegeben ist, ei-
gene literarische Veranstaltungen ohne unser
Einverständnis anzusetzen.
Heil Hitler! Dr. Hg
Im Weimarer Vorstand hat sich Spranger mehrfach
gegen die Vereinnahmungen der GG durch NS-
Ideologen wie Adolf Bartels und Severus Ziegler
ausgesprochen. In zunehmendem Maße wird er je-
doch ab 1935 in allen politischen Bekundungen
immer vager und wolkiger; sein Deal mit den Nazis
besteht – wie man aus im Netz veröffentlichten
Korrespondenzen mit Dritten entnehmen kann – of-
fenbar darin, daß er sich aus der Politik völlig
heraushält und bei seinen drei erwähnten Themen
bleibt: Pädagogik, Philosophie, Philologie.
Der amerikanische Germanist Daniel W. Wilson,
hat vor zwei Jahren eine Untersuchung zur Rolle
der Goethe-Gesellschaft im sog. 3. Reich vorgelegt,
in der er schreibt: In der NS-Diktatur unterlag Kom-
munikation besonderen Bedingungen. Das galt
auch für eine Organisation wie die Goethe-Gesell-
schaft.
Als bürgerlicher Verein mit Satzung, mit einem Vor-
stand aus Honoratioren, mit vorwiegend national-
konservativen Mitgliedern, eigenen Finanzen,
einem Jahrbuch usw. beanspruchte die Goethe-Ge-
sellschaft in Weimar zwar, im Namen und im Inte-
resse des bedeutendsten deutschen Dichters zu
handeln.
Ihre jeweiligen Präsidenten, zu-
nächst der oben erwähnte Germa-
nist Julius Petersen (1926-
1938) und der Leiter des Insel-
Verlags Anton Kippenberg
(1938- 1950)
lavierten jedoch
in erheblichem
Maße zwischen
Anpassung und
Selbstbehauptung.
Mehrere Dokumente belegen den
aktiven Antisemitismus von Hans
Wahl sowie seine Verbindungen
zum nationalsozialistischen Regime. Dabei spielte
insbesondere seine Aktivität als 2.
Vizepräsident der Goethe-Gesell-
schaft eine entscheidende Rolle.
Indem er versuchte, den Verein
vor förmlicher Gleichschaltung
zu schützen, pflegte er Bezie-
hungen zu Joseph Goebbels und
überzeugte den Minister wohl
letztlich von der Weltmission der
Goethe-Gesellschaft. Gleichzeitig
betrieb Wahl als Herausgeber der neuen, zeitnahen
Viertelmonatsschrift Goethe die ideologische An-
passung an das Regime und wehrte die Kontrollver-
suche des Amtes Rosenberg ab, indem er sich
diesem anbiederte, u.a. durch seine ausgeprägte
Mitwirkung in der gleichgeschalteten Nordischen
Gesellschaft.«
Ein kurzer Blick auf das Veranstaltungsprogramm
der Ortsgruppe in den 1930-er Jahren zeigt: Sie war
trotz alledem aktiv und bot viel. Hier einige Vor-
tragstitel:
Der Kampf der deutschen und französischen Schauspiel-
kunst zur Zeit Goethes / Ernst Beutler
Schiller und der Individualitätsgedanke /
Friedrich Meinecke
Rezitationen: Der unbekannte Goethe /
Theamaria Lenz
Der junge Goethe und der griechische Mensch /
Adolf Beck
Das Individuum im Weltbild Goethes und Nietzsches /
Leonore Frobenius
Goethes Sesenheimer Liederbuch /
Hans Joachim Moser
Genie und Abstammung erläutert an Goethes Ahnentafel /
Hubertus Grochtmann
Goethe im Lichte der heutigen Naturschutzbewegung /
Stadtrat Schattner
Mitteilungen über Goethes Beziehungen zu Russland /
R. Gebhardt
Goethe über die Phantasie /
Eduard Spranger
Goethes naturwissenschaftliche Lehre von der Gestalt /
Bruno Wachsmuth
Eine Verquickung der literarischen Gesellschaften
mit den politischen Gegebenheiten und eine Anpas-
sung an den Ungeist dieser Zeit blieben nirgends
aus. Auch die Ortsgruppe Berlin hat zwischen 1933
und 1945 keine rühmliche Rolle gespielt. Genau so
wenig rühmlich scheint allerdings, daß heute – über
sieben Jahrzehnte nach Kriegsende – immer noch
so wenig Konkretes hierüber bekannt ist, auch und
insbesondere über die Rolle der Muttergesellschaft.
Bei Wilson heißt es hierzu: 1937 trat der Vize-
präsident der GG-Weimar, Prof. Hans Wahl,
A. Kippenberg
H. Wahl
J. Petersen
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16
der NSDAP bei und wurde Ratsherr der Stadt Wei-
mar. 1939 beendete die GG-Weimar bei Kriegs-
beginn ihre Tätigkeit bis auf weiteres.
Hans-Wolfgang Kendzia kommt in seinen Ausfüh-
rungen über die NS-Zeit zu dem Schluß: Es drängt
sich die Frage auf: Wo war Goethes Geist? In der
Ortsgruppe Berlin kann er nicht mehr gewesen
sein. – Tatsächlich, von Goethe selbst war schon
lange keine Rede mehr.
Nachkriegszeit
Hans-Wolfgang Kendzia: Das erste Jahrbuch nach
dem Krieg erscheint 1947. Darin werden schon 20
Ortsgruppen erwähnt, Berlin fehlt. Der einstige
Vorsitzende Eduard Spranger ist nach dem Krieg
nach Tübingen gegangen. Es gründen sich in der
Folgezeit in vielen Städten Ortsgrup-
pen; seit 1955 heißen sie dann auch
in den Jahrbüchern der Gesell-
schaft Ortsvereinigungen. Zu die-
sem Zeitpunkt gibt es in Berlin
noch nichts. Das ist um so er-
staunlicher, als seit 1950 der Prä-
sident der Goethe-Gesellschaft
der Berliner Oberstudiendirektor
Professor Dr. Andreas Bruno Wachs-
muth ist, ansässig in Berlin (West).
Dieser spricht sich in den 1950er Jahren dagegen
aus, in Berlin (West) erneut eine Ortsvereinigung
zu gründen, da er befürchtet, in Ost-Berlin würde
dann umgehend eine OV ins Leben gerufen, und
eben diese Spaltung der Goethe-Gesellschaft sucht
er unbedingt zu verhindern.
Bereits im August 1945 haben Johannes R. Becher
und Gleichgesinnte mit Genehmigung der Sowje-
tischen Militär-Administration in der sowjetischen
Besatzungszone den Kulturbund zur demokrati-
schen Erneuerung Deutschlands ins Leben gerufen.
Dieser soll der Umerziehung von Intellektuellen
und Künstlern im Sinne eines sozialistischen Men-
schenbilds dienen.
Nach Gründung der DDR 1949 forciert der Kultur-
bund die Bildung von Ortsgruppen der Goethe-Ge-
sellschaft in mehreren DDR-Städten. Diese
entstehen zumeist im Umfeld von Schulen, werden
automatisch Ableger des Kulturbundes und von
diesem finanziert; Mitgliedsbeiträge und Vor-
standswahlen sind unbekannt.
Kurz nach dem Mauerbau wird
1962 in Ost-Berlin eine Orts-
gruppe ins Leben gerufen.
Deren Vorsitzender, Herbert
Schenk, ist stellvertretender
Schulleiter einer Abend-
Oberschule für Werktätige.
Schenk unternimmt mit seinen
Schülern Exkursionen nach
Weimar und organisiert einige
Vortragsabende zu Dichtungen Goethes.
So richtig in Schwung kommt die Gesellschaft all-
lerdings nicht. Fast zwei weitere Jahrzehnte gehen
ins Land, bis in Ost-Berlin – auf Initiative des Di-
rektors der Stadtbibliothek, Prof. Dr. Heinz Wer-
ner, – die dortige Ortsvereinigung wieder zum
Leben erweckt wird. Hintergrund ist der 1982 be-
vorstehende 150. Todestag Goethes.
Die Stadtbibliothek besitzt idealer-
weise einen Veranstaltungssaal in
der Breiten Straße im histori-
schen Ribbeck-Haus – eben
den, in den wir nun nach 35 Jah-
ren wieder zurückgekehrt sind.
Ferner verfügt Werner durch die
Bibliothek und ihre Nutzer über
ein gut funktionierendes Netz-
werk, sowie über ein kostenloses In-
strumentarium, um für die
Vortragsveranstaltungen zu werben.
Die Gründung einer Goethe-Gesellschaft in Ost-
Berlin wird zwar in der West-Berliner Senatsver-
waltung für Kulturelle Angelegenheiten zur
Kenntnis genommen, offenbar sieht man aber kei-
nen Handlungsbedarf. Es ist die Zeit der Randale
und Hausbesetzungen; die Weimarer Klassik ist zu-
nehmend aus den Lehrplänen der Oberstufen ver-
schwunden.
Wenn jemand eine Goethe-Gesellschaft in Berlin
(West) gründen möchte, dann kann er das ja tun, aber
Unterstützung durch die öffentliche Hand: Fehlan-
zeige. An diese Stelle paßt nun gut Hans-Wolfgang
Kendzias Schilderung, wie es 1987 zur Neugrün-
dung der Goethe-Gesellschaft Berlin kam.
A. B. Wachsmuth
H. Schenk
H. Werner
Erinnerungen an den Anfang der
Goethe-Gesellschaft Berlin e. V. 1987
Das Vergangene wie das Entfernte mag ich mir
nicht lieber heraufrufen als durch genaue
Betrachtung einzelner Wirklichkeiten
(Goethe)
Die Gründung einer Goethe-Gesellschaft im
Westen unserer Stadt vor 1989, das war ein
durchaus schwieriges Unternehmen. Es hatte
bereits mehrere Versuche gegeben, doch sie alle
waren gescheitert. Im Ostteil gab es, wie gesagt,
eine höchst aktive Ortsvereinigung im Rahmen
des Kulturbundes.
In der mittlerweile vergriffenen Schrift Ge-
schichte der Berliner Goethe-Gesellschaft (1919-
2007), in Zusammenarbeit mit unserem Mitglied
Lothar Fröhlich, wird die Entstehung 1987 skiz-
ziert. Dabei mußte vieles in der Darstellung ent-
fallen. Hier nun ein paar weitere Details.
Der Buchhändler Karl Ziegan, der Studiendirek-
tor Johannes Kowalewsky und Kendzia, wir
waren Mitglieder der Weimarer Goethe-Gesell-
schaft und besuchten dort die Jahresversammlun-
gen.
Diese waren insofern etwas ganz Besonderes,
weil die Goethe-Gesellschaft tatsächlich die ein-
zige literarische Institution Deutschlands war, die
nicht geteilt worden war. Das ist vor allem dem
Westberliner Oberstudiendirektor Andreas Bruno
Wachsmuth (Vorsitzender 1950-1971) zu verdan-
ken, worüber hier nicht zu berichten ist. Uns ging
es nur darum, wie in vielen anderen Städten, auch
in West-Berlin eine eigenständige Ortsvereini-
gung unter dem Dach der internationalen Weima-
rer Muttergesellschaft zu etablieren.
Kowalewsky hatte sogar schon Initiativen ergrif-
fen und war in Weimar vorstellig geworden. Un-
vermutet kam eine neue Anregung.
In der Senatsverwaltung für Schulwesen war ich
als Referent für Deutsch an Gymnasien Ober-
schulrat. Meine damalige Vorgesetzte:
Senatorin Dr. Hanna-Renate Lau-
rien. Sie bestellte mich eines
Tages zu sich und zeigte mir
eine Publikation aus Hamburg.
Das war eine gut aufbereitete
Einführung zu Goethe für
Hamburger Gymnasiasten. He-
rausgegeben wurde das Werk
von der renommierten Hamburger
Goethe-Gesellschaft. Der Senat
der Hansestadt finanzierte die
Schrift, die kostenlos an Hamburger Schüle-
rinnen und Schüler verteilt wurde.
Laurien fragte mich: Warum haben wir so
etwas nicht in Berlin?
Meine Antwort: Hier gibt es keine Goethe-
Gesellschaft.
Laurien: Dann gründen sie eben eine!
»Hanna-Granata«, so wurde sie oft in der Öffent-
lichkeit genannt, hat sich für die werdende Ge-
sellschaft interessiert. Am 2. Dezember 1987
eröffnete sie die öffentliche Gründungsversamm-
lung in der Staatsbibliothek. Laurien wurde nicht
nur Mitglied unserer Ortsvereinigung, sondern
hat als Senatorin auch einen Goethe-Vortrag ge-
halten. Wir sind ihr zu Dank verpflichtet.
Eine Vereinsgründung ist gar keine leichte Ange-
legenheit, weil juristische Besonderheiten zu be-
rücksichtigen und zu erfüllen sind. In unseren
Reihen gab es keinen dafür ausgebildeten Juris-
ten. Ohne eingetragenen Verein fehlten Einnah-
men. Ein kleiner Kreis verpflichtete sich,
Notariatskosten zu übernehmen. Unerwartet fand
sich jemand, der uns einen Notar empfahl.
Christian Kirsch war ein älterer und sehr freund-
licher Herr, der versprach, alle Wege für eine or-
dentliche Vereinsgründung zu ebnen. Das geschah
dann zu unsrer Freude auch schnell und problem-
los. Und dann die bange Frage: Was kostet das?
Antwort des Notars: Gar nichts – es ist mir eine
Ehre für die junge Goethe-Gesellschaft etwas
getan zu haben. Eine glückliche Fügung für die
junge und unerfahrene Gesellschaft. Eine weitere
kam hinzu. Ich wurde bekannt mit dem damaligen
Bezirksbürgermeister von Schöneberg, Michael
Barthel. Er stellte uns am 11. Mai 1987 kostenlos
einen Raum im Rathaus Schöneberg zur Verfü-
gung, in dem der erste Vorstand gewählt wurde.
Er ist dann auch Mitglied geworden. Erfreut
stellte der Vorstand fest, daß die neue literarische
Gesellschaft von allen damals in Berlin verant-
wortlichen Parteien gefördert wurde: CDU (Lau-
rien), SPD (Barthel) und FDP (Kirsch).
H.-R. Laurien
W. Kendzia
J. Kowalewsky
K. Ziegan
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18
Als über die Presse bekannt wurde, es gäbe in
Berlin (West) eine neue Goethe-Gesellschaft
meldete sich ein emeritierter Professor der Freien
Universität Berlin: Prof. Wieland Schmidt.
Bald darauf kam es zu einer persönlichen Begeg-
nung. Schmidt war glücklich über die Neugrün-
dung in Berlin und versprach, tatkräftig zu
helfen. Er stellte einen Vortrag in Aussicht. Es
blieb nicht bei Worten. Er überwies spontan 200
DM an die junge Gesellschaft. Das war unser ers-
tes Kapital. Leider ist Professor Schmidt bald da-
rauf gestorben. Da er bereits Mitglied der alten
Berliner Gesellschaft war, hätten wir ihn zu gern
nach den Aktivitäten vor allem während der
Nazi-Zeit befragt.
Es gäbe noch manche Kuriositäten aus den An-
fangszeiten zu erzählen. Längst ist unsere Berli-
ner Ortsvereinigung eine beachtete und
geachtete Institution in Berlin geworden. Sie
wird eine gute Zukunft haben.
Hans-Wolfgang Kendzia
Neubeginn
Am 19.Dezember 1986 konstituiert sich in der
Buchhandlung Ziegan die Ortsvereinigung Berlin
(West) der Goethe-Gesellschaft in Weimar. Den
Geschäftsführenden Ausschuß bilden die Herren
Hans-Wolfgang Kendzia, Johannes Kowalewsky
und Karl Ziegan.
Um Mitstreitende zu gewinnen, beschließt man, die
in Berlin (West) wohnenden Mitglieder der Weima-
rer Muttergesellschaft anzuschreiben. Auf
Kendzias Brief vom Januar 1982 teilen 99 der An-
geschriebenen mit, sie seien interessiert an der
Gründung einer Berliner Ortsvereinigung der Goe-
the-Gesellschaft Weimar und würden dieser beitre-
ten; 18 erklären sich bereit, an der Planung
mitzuarbeiten.
Ein erstes Treffen der Planungsgruppe findet dann
am 9. März 1987 wieder in der Buchhandlung Zie-
gan statt; Mitstreiter der ersten Stunde und heute
noch mit dabei sind neben Hans-Wolfgang Kend-
zia, Dr. Renate Grötzebach, Dr. Werner Danne,
Wolfgang Jorcke (alles Philologen) und Beate
Schubert. Man erörtert die Planung der weiteren
Arbeit, den juristischen Rahmen, eine Satzung,
mögliche Sponsoren sowie geeignete Räumlichkei-
ten für Veranstaltungen.
Zwei Wochen später fahren die Mitglieder des
geschäftsführenden Ausschusses nach Weimar, tref-
fen sich dort mit dem Präsidenten Prof. Dr. Karl-
Heinz Hahn, der sich erfreut über die Gründung der
West-Berliner Ortsvereinigung äußert und einen
Eröffnungsvortrag für das Jahresende in Aussicht
stellt.
Soeben ist er 65 geworden und kann auch in der
„BRD“ Vorträge halten. Man kann sich das heute
kaum noch vorstellen, aber so ohne weiteres war
das davor eben nicht möglich, sondern nur mit
einem schriftlichem Einverständnis von oben, näm-
lich der Leitung des beim ZK der SED angesiedel-
ten Kulturbundes.
Am 11. Mai 1987 ist ist es dann soweit: In einer Ar-
beitssitzung im Rathaus Schöneberg wählen die
Mitglieder der Planungsgruppe den ersten Vorstand
Dieser besteht aus Hans-Wolfgang Kendzia (Vor-
sitz), Prof. Dr. Hans-Wolfgang von Löhneysen,
Beate Schubert (stellvertretende Vorsitzende),
Bernd Aden (Schatzmeister), Johannes Kowalew-
sky (Schriftführer) und Karl Ziegan (Geschäftsfüh-
rer). Festgesetzt wird ein Jahresbeitrag für die
Mitgliedschaft von 60 D-Mark, also in etwa 30€.Im
Jahr 2017, drei Jahrzehnte später, beträgt der Jah-
resbeitrag 45€.
Langsam kommt die Ortsvereinigung Berlin in
Gang. Als erstes ist ein Vortrag von Karl-Heinz
Hahn im Dezember 1987 vorgesehen. Nur wo? In
der Staatsbibliothek, der Urania, im Berlin-Mu-
seum oder in einem Hotel? Guter Rat ist ebenso
teuer wie Vortragssäle in Berlin. Schließlich erhal-
ten wir, dank einiger guter Drähte, ein sehr günsti-
ges Angebot der Staatsbibliothek am Potsdamer
Platz.
Am 2. Dezember 1987 hält Karl-Heinz Hahn sei-
nen Vortrag über Thomas Mann und die Goethe-
Gesellschaft im Otto-Braun-Saal; sogar Der
Tagesspiegel berichtet.
Weder von der offiziellen Eröffnungsveranstaltung
noch von den rund 300 Vorträgen in den nächsten
drei Jahrzehnten gibt es Fotos, sondern höchstens
von den sich anschließenden vergnüglichen Zu-
sammenkünften. Dennoch wird es dieser Publi-
kation an ausreichendem Bildmaterial nicht
mangeln.
Anschließend treffen wir uns alle in einem Bier-
lokal in der Potsdamer Straße. – Eine Weinschenke,
die Goethes Geschmack wohl ein wenig mehr ent-
sprochen hätte, existiert im näheren Umkreis der
Staatsbibliothek am Tiergarten nicht.
Noch befinden wir uns nicht im Zentrum, sondern
am Stadtrand von West-Berlin, einen Steinwurf von
der Mauer entfernt. In den folgenden Jahren wer-
den wir nach den Vorträgen im Bolivar-Saal den
Getränkeausschank selbst in die Hand nehmen.
Bald ist es auch offiziell, der Notar meldet Anfang
1988 die Goethe-Gesellschaft Berlin sei als e.V. im
Vereinsregister eingetragen; die Dinge nehmen
ihren Lauf. Bereits im Februar 1988 verzeichnet
das Protokoll 87 Mitglieder; es kann also losgehen.
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Hinweis:
In der Rubrik Vergangene Veranstaltungen wer-
den die Jahre 1987 bis 2016 aufgelistet und be-
schrieben. Vorträge, die ausführlicher
abgehandelt werden, sind dabei in der Aufzäh-
lung blau gekennzeichnet.